«Blick»-Urteil: Stunde der Abrechnung

Nr. 48 –

Hunderttausende Franken fordert Jolanda Spiess-Hegglin von Ringier. Das Verfahren betrifft die gesamte Medienbranche.

Plakat zuhause bei Jolanda Spiess-Hegglin: Gahts no Ringier! / 1 Persönlichkeitsverletzung / 180 Blick-Artikel / 1,3 Mio CHF Gewinn / Kein Sorry! / #TeamJolanda / Jetzt unterstützen!
Mit harten Bandagen: Die Auseinandersetzung zwischen Spiess-Hegglin, hier in ihrem Büro in Zug, und Ringier dauert seit Jahren an. Foto: Florian Bachmann

Zehn Jahre nach der misogynen Berichterstattung über Jolanda Spiess-Hegglin wird im Dezember das Gerichtsurteil zu ihren Genugtuungsforderungen erwartet. Die ehemalige grüne Zuger Kantonsrätin hat den Medienkonzern Ringier auf die Herausgabe von Gewinnen verklagt, die sein Boulevardblatt «Blick» mit vier persönlichkeitsverletzenden Artikeln erzielt haben soll.

In den Artikeln geht es um ein mutmassliches Sexualdelikt nach der Landammannfeier im Jahr 2014. Spiess-Hegglin fordert von Ringier rund 430 000 Franken plus Zinsen. Das Zuger Kantonsgericht hatte 2022 geurteilt, dass Ringier den Gewinn, den das Medienhaus mit den vier Texten gemacht habe, herausgeben müsse. Laut der Anwältin von Spiess-Hegglin hat Ringier die geforderten Daten nicht geliefert, weshalb man den Umfang des mutmasslichen Gewinns mit eigenen Berechnungen habe herleiten müssen.

Die Richter:innen, die nun die Höhe des Betrags zu bestimmen haben, stehen vor einer keineswegs einfachen Frage. Sie müssen einen klaren Zusammenhang zwischen den unrechtmässigen Berichten und den damit erzielten Einnahmen feststellen. Sie können sich dabei auf Umsatz, Auflage und Leser:innenzahlen des «Blicks» stützen, auch auf die Anzahl Einzelverkäufe an den jeweiligen Erscheinungsdaten und die Anzahl Klicks auf die Onlinetexte sowie auf die Werbung, die im Umfeld dieser Berichte erschien. Sollte das Gericht einen relativ hohen Gewinn erkennen, ist klar, dass Ringier ein gesteigertes Interesse daran haben wird, den Fall weiterzuziehen. Auch die Medienbranche wird die Sache aufmerksam verfolgen. Denn das Urteil, wenn es denn einmal rechtskräftig ist, wird auch künftige gerichtliche Verfahren gegen Berichte im Fall von Persönlichkeitsverletzungen prägen.

Dilemma für Journalist:innen

Was das für die Branche bedeutet, war auch am vergangenen Donnerstag an einer Veranstaltung des Vereins Qualität im Journalismus Thema. «Mehr journalistische Selbstverantwortung? Wie ein Gerichtsfall die Medienfreiheit prägen könnte», so der Titel des Podiums in Winterthur, an dem die frühere WOZ-Redaktionsleiterin und jetzige Presserat-Präsidentin Susan Boos, «Watson»-Gründer Hansi Voigt und der NZZ-Rechtsanwalt Simon Jakob teilnahmen. Man habe auch Ringier angeboten, am Gespräch teilzunehmen, hiess es, doch das sei wohl wegen des kurzfristig gesetzten Themas nicht möglich gewesen. Spiess-Hegglin war als Zuhörerin an der Veranstaltung dabei.

Voigt, der Spiess-Hegglin beratend unterstützt und Präsident ihres Vereins Netzcourage ist, unterstrich seinen Einsatz mit leidenschaftlichen Worten, kritisierte «eine Branche, die nicht zu ihren Fehlern steht», und betonte, Spiess-Hegglin habe «mehr für die Qualität der Medien getan als hundert Urteile des Presserats». Auch Boos bezeichnete die Berichterstattung des «Blicks» und dessen Umgang mit Spiess-Hegglin als «jenseits von Gut und Böse». Sie gab aber auch zu bedenken, dass der Goodwill gegenüber Medien im Parlament derzeit am Kollabieren sei und der Entscheid des Gerichts in diese Grosswetterlage falle.

Der Medienbranche geht es wirtschaftlich immer schlechter, was den Fall, der nun vor Gericht verhandelt wird, umso brisanter macht. So äusserte Jakob etwa die Sorge, dass das Urteil sogenannte Slapp-Klagen zur Folge haben könnte. Dabei handelt es sich um missbräuchliche Klagen, mit denen die kritische und freie Meinungsäusserung unter Druck gesetzt werden soll.

Spiess-Hegglin ist nicht die erste Person, die einen Medienverlag auf Gewinnherausgabe verklagt. Das tat auch Carl Hirschmann, der vor fünfzehn Jahren unter anderem wegen eines Sexualdelikts in einen Medientsunami geriet. Der Zürcher Millionenerbe ging gegen den «Tages-Anzeiger», «20 Minuten» und den «Blick» vor. Der «Blick» publizierte eine Entschuldigung und gestand ein, die Persönlichkeitsrechte von Hirschmann verletzt zu haben, und erklärte gar – aussergewöhnlich für eine Redaktion –, weitere Artikel über ihn zu unterlassen. Daraufhin verzichtete Hirschmann auf Geldforderungen.

Löschung von 200 Texten

Tamedia, damals Herausgeberin von «Tages-Anzeiger» und «20 Minuten», beharrte indessen auf einer juristischen Klärung. Das Bundesgericht stellte vor sieben Jahren fest, dass die beiden Blätter die Persönlichkeitsrechte von Hirschmann verletzt hätten. Weil in der Folge ein Vergleich geschlossen und darüber Stillschweigen vereinbart wurde, kann nur vermutet werden, dass Hirschmann finanziell entschädigt wurde. Sicher ist, dass der Rechtsstreit Anwalts- und Gerichtskosten verursachte, die laut der NZZ wohl mehrere Hunderttausend Franken betrugen. Die für die Medienbranche brenzlige Frage, wie hoch ein Gericht den Gewinn aus einer unrechtmässigen Berichterstattung einstufen könnte, blieb damit offen.

Nun ist die Frage mit dem Fall Spiess-Hegglin gegen Ringier wieder aktuell. Ringier-CEO Marc Walder bat zwar 2020 um Entschuldigung für die «Blick»-Berichterstattung, nachdem Spiess-Hegglin ein Berufungsverfahren bezüglich der Verletzung ihrer Persönlichkeit gewonnen hatte. Zudem hatte Ringier zuvor unaufgefordert mehr als 200 Artikel über die Geschehnisse rund um Spiess-Hegglin gelöscht. Der Presserat kritisierte diesen «Eingriff in die Archivfreiheit» der Schweizer Mediendatenbank, weil er das Bild der Berichterstattung zum Fall verfälsche.