Israels Angriffe: Chance auf Diplomatie bereits verspielt?
Mit Luftschlägen hat Israel einen Grossteil der syrischen Militäranlagen zerstört. International für Kritik sorgt vor allem das Eindringen auf syrisches Territorium.
Israel steht nach dem Fall des syrischen Diktators Baschar al-Assad vor einem Dilemma: Das Machtvakuum im Nachbarland gibt der Armee die Chance, ohne Widerstand militärisches Gerät zu zerstören, das künftig gegen Israel eingesetzt werden könnte. Andererseits aber bietet eine neue Regierung in Damaskus vielleicht erstmals eine echte Chance auf Frieden zwischen den beiden Ländern – vorausgesetzt, der gute Wille wird nicht schon im Vorhinein zerstört.
Anhaltspunkte dafür gibt es immerhin: So rufen die Anführer der syrischen Milizen bisher nicht zum Kampf gegen Israel oder zur Unterstützung der Palästinenser:innen auf – wie es die Hisbollah, die Hamas oder der Iran tun. Und mehrere ihrer Kämpfer haben israelischen Medien sogar Interviews gegeben. Milizenchef Ahmed al-Scharaa (bisher bekannt als Muhammad al-Dschaulani) sprach am Samstag in einem Interview mit einem syrischen Fernsehsender von «diplomatischen Lösungen» als einzigem Weg, Sicherheit und Stabilität in der Region zu garantieren. Er warnte in seiner ersten Botschaft an Israel jedoch auch, es gebe «keine weiteren Entschuldigungen» für Luftangriffe auf syrischem Gebiet.
Kaum mehr als Kalaschnikows
Mit rund 500 Luftschlägen hat die israelische Armee seit Assads Sturz am 8. Dezember laut eigenen Aussagen einen Grossteil der Bestände der untergegangenen syrischen Armee zerstört. Darunter sollen Standorte für Chemiewaffen, Luftabwehr, Flugzeuge sowie die gesamte Kriegsmarine sein. Am Montag erschütterten gewaltige Explosionen die Küstenregion Tartus mit der zweitgrössten Hafenstadt des Landes. Zerstört wurden laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die sich auf ein Netz lokaler Informant:innen stützt, unter anderem Raketenlager und Luftabwehrstellungen.
In Syrien und international sorgt ausserdem Israels Eindringen in syrisches Territorium für Kritik: Nur Stunden nach der Einnahme von Damaskus waren Soldat:innen über die vor fünfzig Jahren vereinbarte Waffenstillstandslinie in eine demilitarisierte Pufferzone vorgerückt. Diese trennt die 1967 von Israel besetzten Golanhöhen von Syrien. Unter anderem erreichten sie den strategisch bedeutenden Gipfel des Hermon, des höchsten Berges in der Region, nur fünfzig Kilometer von Damaskus entfernt. Verteidigungsminister Israel Katz erklärte, die Armee werde «über den Winter» dort präsent bleiben.
In Israel will man nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 keine Bedrohung an den Grenzen mehr in Kauf nehmen. Die Armee eines feindlichen Landes sei kollabiert, sagte Armeechef Herzi Halewi am Samstag. «Wir handeln, damit Extremisten sich nicht direkt an unserer Grenze etablieren.» Israel mische sich darüber hinaus nicht in Syrien ein.
Bislang ist nicht ausgeschlossen, dass die neue Führung in Damaskus Israel feindselig gegenüberstehen könnte. Ihr keine Chemiewaffen und Kampfflugzeuge zu überlassen, ergibt aus israelischer Sicht durchaus Sinn. International fällt die Kritik an Israels Vorgehen bisher zurückhaltend aus, obwohl sowohl die Bombardierungen als auch die Besetzung der Pufferzone nach Meinung der meisten Expert:innen völkerrechtlich jeder Legitimität entbehren. Wer soll Israel auch zurückhalten: Seine militärischen Erfolge über die Hamas, die Hisbollah und den Iran haben deutlich gemacht, dass ihm niemand in der Region militärisch Paroli bieten kann.
Der Preis für die kurzfristige Sicherheit steigt allerdings mit jedem neuen Luftangriff. Egal welchen Kurs eine neue syrische Führung einschlagen wird: Sie dürfte nicht vergessen, warum ihr für den Neuaufbau ihrer Armee kaum mehr als Kalaschnikows zur Verfügung stehen. Damit sinkt die Chance auf eine langfristige diplomatische Lösung, für die der Machtwechsel in Damaskus eigentlich ein Türöffner sein könnte.
Unterstützung durch Trump
Die gemeinsame Geschichte der beiden Länder ist geprägt von Kriegen. Syrien hat Israel nie als Staat anerkannt. Und im Gegensatz zu den Friedensverhandlungen mit Ägypten und Jordanien haben jene mit dem Assad-Regime nie ihr Ziel erreicht. Assad bestand stets auf einer vollständigen Rückgabe des Golan, was Israel kategorisch ablehnte. Von der von Israel völkerrechtswidrig annektierten Hügelkette aus wären der See Genezareth, Israels grösstes Süsswasserreservoir, und die umliegenden Städte ein leichtes Ziel.
Premierminister Benjamin Netanjahu kündigte am Sonntag an, Israel wolle seine Bevölkerung auf dem Golan verdoppeln. Derzeit leben dort etwa 50 000 Menschen, etwa die Hälfte von ihnen sind jüdische Israelis, die andere mehrheitlich Drus:innen. International wurde die Ankündigung von zahlreichen Ländern kritisiert. Unterstützung dafür darf Netanjahu vom künftigen US-Präsidenten Donald Trump erwarten, der den Golan 2019 als israelisch anerkannt hat. Ein Telefonat zwischen ihm und Trump am Wochenende bezeichnete Netanjahus Büro als «sehr freundlich, sehr warm». Israel habe «kein Interesse an einem Konflikt», werde sein Vorgehen aber den «sich entwickelnden Realitäten vor Ort» anpassen.
Milizenführer Scharaa hat betont, sich auf den Wiederaufbau des Landes konzentrieren zu wollen und ebenfalls nicht an neuen Konflikten interessiert zu sein. Angesichts der israelischen Bombardements und der Besetzung syrischer Gebiete dürfte dieser Grundsatz aber ein Ablaufdatum haben.