Internationalismus: «Immer mehr Menschen sagen Nein»

Nr. 3 –

Peter Mertens hat Belgiens PTB zu einer der erfolgreichsten linken Parteien Europas gemacht. Sein aktuelles Buch trägt den Titel «Meuterei». Ein Gespräch über Klassenquoten, rechte Arbeiter:innen und den Aufstand gegen die Vorherrschaft der USA.

Bäuer:innen an einem Streik in Indien im Jahr 2020
«Wir im Norden müssen verstehen, was gerade im Süden passiert»: Peter Mertens meint auch den Streik von 250 Millionen Bäuer:innen in Indien 2020. Foto: Jit Chattopadhyay, Getty

WOZ: Peter Mertens, Ihre Partei der Arbeit (PTB) ist eine der erfolgreichsten linken Parteien Europas: 2007 kam sie bei den belgischen Parlamentswahlen noch auf weniger als ein Prozent der Stimmen, bei der Wahl vom letzten Juni erreichte sie dann fast zehn Prozent. Was kann die Linke von diesem Erfolg lernen?

Peter Mertens: Bei den Lokalwahlen in den grössten Städten – Brüssel, Antwerpen oder Charleroi – haben wir sogar zwanzig Prozent erreicht. Die Erfolge kamen aber nicht explosionsartig, sondern Schritt für Schritt. Anfang der nuller Jahre führten wir eine intensive Diskussion darüber, was für eine Partei wir überhaupt sein wollen. Wir definieren uns als moderne marxistische Partei, die für Sozialismus einsteht – eine Partei der Arbeiter:innenklasse. Worauf wir stolz sind: dass wir den Begriff «Klasse» in Belgien wieder etabliert haben.

Was bedeutet das konkret?

Wir haben etwa eine Klassenquote für Parteiämter eingeführt: Ein Drittel der Sitze geht an Personen ohne Uniabschluss, vor allem solche im produzierenden Gewerbe oder in der Logistik. Wir wollen jene vertreten, die körperliche Arbeit leisten. Wer spricht denn heute noch über die Held:innen der Coronapandemie, die den Laden am Laufen gehalten haben? Diese Leute sind völlig unterrepräsentiert, sie kommen in den Medien nicht vor, sind nicht Teil der Öffentlichkeit. Wir gehören nicht zu den Linken, die sagen, über Identität zu reden, sei falsch, diese Fragen seien unwichtig – im Gegenteil: Sie sind sehr wichtig. Aber zentral ist die Frage: Verkaufst du deine Arbeitskraft? Diese kann man objektiv beantworten. Es ist eine sehr inklusive Definition von Arbeiter:innenklasse, sie schliesst auch Pflegekräfte oder Lehrerinnen mit ein.

Publizist und Politiker

Peter Mertens (55) war von 2008 bis 2021 Präsident der belgischen Partei der Arbeit (PTB/PVDA). Heute ist er ihr Generalsekretär und Abgeordneter im Parlament. Im Oktober 2024 ist von Mertens das Buch «Meuterei. Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät» (Brumaire-Verlag, Berlin) erschienen. Darin beschreibt er die neuen Kräfteverhältnisse auf der geopolitischen Weltbühne und deren Implikationen.

 

Portraitfoto von Peter Mertens

Die arbeitende Klasse wählt gerade oft Rechts – in Belgien etwa den rechtsextremen Vlaams Belang. Ist die Arbeiter:innenschaft wirklich eine gute Basis für linke Politik?

Es sind noch immer die Arbeiter:innen, die den Wohlstand der Welt schaffen. Der Tisch, an dem wir sitzen – von Arbeiter:innen hergestellt. Das Telefon, auf dem Sie unser Gespräch aufzeichnen – von Arbeiter:innen hergestellt. Als Marx und Engels das «Kommunistische Manifest» verfassten – bei uns in Brüssel übrigens –, konnte man laut heutigen Schätzungen aufgrund der erst beginnenden Industrialisierung nur ein Prozent der Weltbevölkerung der Arbeiter:innenklasse zurechnen. 1950 waren es schon 15 Prozent, heute sind es gar 33. Es gibt also so viele Arbeiter:innen wie nie zuvor in der Geschichte. Die ganzen Kleinbürger:innen haben ihre Theorien darüber, warum Arbeiter:innen den Vlaams Belang wählen. Aber vieles davon ist uninformiertes Blabla. Sie haben keinen Schimmer von der Lebensrealität von Menschen, die Schichtarbeit leisten, mit ihrem Körper schuften, die 63 Jahre alt sind und kaputte Knie haben. Einfach mit erhobenem Zeigefinger dazustehen, das bringt nichts. Es ist nur elitär. Wir müssen mittendrin sein in der Arbeiter:innenklasse. Da ist so viel Wut. An der müssen wir sie für ein sozialistisches Projekt packen, sonst führt sie ihre Wut zu den Rechtsextremen.

Wie reagieren Sie, wenn Sie mit einem Arbeiter am Fliessband sprechen, der gegen Migrant:innen vom Leder zieht?

Am wichtigsten ist, dass ein anderer Arbeiter mit ihm spricht! Von da aus kann man Vertrauen aufbauen. Und wenn dieses Vertrauen da ist, kann man richtig in Diskussionen einsteigen. Beschwert sich jemand beispielsweise darüber, dass er seit fünf Jahren auf der Warteliste für eine Sozialwohnung steht, weil die syrischen Familien, die erst seit gestern da sind, angeblich sofort Wohnungen gestellt bekommen, fragt man erst mal: Ist wirklich die syrische Familie das Problem? Oder eher, dass du keine anständige Wohnung hast, weil es zu wenige Sozialwohnungen gibt? Das müssen wir lösen. Manche gewinnen wir für unsere Seite, andere verlieren wir. Und es gibt schon eine Grenze. Wenn einer die Zahl 88, ein rechtsextremes Symbol also, tätowiert hat, müssen wir auch nicht weitersprechen.

Nun haben Sie aber ein Buch geschrieben, das die nationalstaatliche Ebene verlässt und sich der internationalen Politik widmet: «Meuterei. Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät». Warum richten Sie Ihren Blick gerade jetzt auf dieses Thema?

Schauen Sie sich in der Welt um – da ist so viel los! Dreissig Jahre Neoliberalismus hätten die Menschen doch zermalmen, alle Formen kollektiven Widerstands zerstören sollen. Aber in Europa, den USA und im Globalen Süden ist so viel in Bewegung. In Grossbritannien gab es letzten Sommer mehr Streiktage als in den Achtzigern. In Frankreich zählte man bei den Streiks gegen die Rentenreform mehr Streiktage als im berühmten Jahr 68. Und in Indien gab es 2020 den grössten Streik in der Geschichte der Menschheit: 250 Millionen Bäuer:innen wehrten sich gegen Privatisierungen im Agrarbereich. Aber es ist verrückt, niemand sieht das. All das ist nicht im kollektiven Bewusstsein, es ist nicht politisiert. Darum die Metapher der Meuterei. Es sind Aufstände, die nicht in ein grösseres Ganzes eingebettet sind. Wir sehen noch kein neues Klassenbewusstsein, sondern nur, dass immer mehr Menschen Nein sagen.

Jetzt haben Sie von Streiks und sozialen Bewegungen gesprochen, doch in Ihrem Buch geht es noch um eine zweite Meuterei: jene auf der internationalen Bühne.

Ja. Als 2022 ein Drittel der Länder in den Vereinten Nationen gegen die Russlandsanktionen stimmten, nannte das Fiona Hill, die früher im US-Sicherheitsrat sass, eine Meuterei. Wir erleben gerade einen Aufstand gegen die Vorherrschaft der USA. Wir haben eine Reihe von Kipppunkten erreicht, die zu einem neuen Gleichgewicht der Mächte führen. Die illegale Invasion in den Irak 2003 war für den Globalen Süden eine Zäsur. Und 2007 brach mit den US-Finanzinstitutionen, die die Branche dominierten, auch die Vorstellung zusammen, dass die Weltwirtschaft von deren Stabilität garantiert werde. Die Formierung der Brics-Staaten 2009 war eine direkte Reaktion darauf.

Die Brics, das sind Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und heute auch unter anderem der Iran oder Ägypten. In grossen Teilen ist das ein Klub der Diktaturen. Kann man eine Meuterei von dieser Seite wirklich unterstützen?

Es ist eben eine doppelte Meuterei. Innerhalb dieser Länder gibt es immer mehr Widerstand gegen die Regierungen. Auf den unteren Decks meutert also die Mannschaft gegen ihren Kapitän. Auf dem Oberdeck wiederum meutern die Kapitäne gegen den Flottenchef. Man muss die Meutereien innerhalb der Länder unterstützen, trotzdem können diese Regierungen gegen die US-Vorherrschaft eintreten. Das zu analysieren, bedeutet nicht, dass man diese Regimes gutheissen muss.

Sie haben in der Vergangenheit die Russlandsanktionen in Reaktion auf den Angriff auf die Ukraine kritisiert. Wie soll man mit Diktaturen umgehen, die ihre Nachbarländer überfallen?

Ich bin grundsätzlich ein Verfechter der Prinzipien, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gründung der Uno geführt haben. Eines davon lautet, sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einzumischen. Narendra Modi in Indien etwa ist ein rechtsextremer Politiker, der rassistische, sexistische und neoliberale Politik macht. Ich finde das furchtbar, aber es ist nicht an mir, das zu verändern, nicht an der belgischen oder der US-Armee, sondern an den Menschen in Indien selbst.

Russland hat nun aber illegal die Ukraine angegriffen. Natürlich muss das verurteilt und sanktioniert werden. Mir geht es um die Art der Sanktionen. Sie sollen die Oligarchen und die Rüstungsindustrie treffen. De facto leidet die normale Bevölkerung aber viel mehr unter ihnen. Der Westen hat zudem ein Glaubwürdigkeitsproblem: Er beansprucht die moralische Hoheit. Doch schliesslich kann man ein guter Freund Washingtons und trotzdem Diktator sein.

Internationale Solidarität ist ein Leitspruch der Linken. Nur wie genau man sie wirkungsmächtig organisiert, bleibt oft unklar. Wie soll man Meutereien andernorts unterstützen?

Wir im Norden müssen verstehen, was gerade im Globalen Süden passiert. Es geht darum, sich auszutauschen, Strategien zu vergleichen, auch globale Kampagnen wie «Make Amazon Pay» auszurufen. So merken die Menschen im Globalen Süden, dass wir im Norden kein monolithischer Block sind: Nicht alle unterstützen den Neokolonialismus. Und wir müssen verstehen, was diesen Regierungen wichtig ist und warum, statt in ein neokoloniales Mindset zurückzufallen, in dem diejenigen gut sind, die für Europa sind, und alle anderen sind schlecht.

Viele Menschen in Europa zeigen sich mit den Palästinenser:innen solidarisch, es gibt jede Woche riesige Demos. Aber das hat bisher keinen Einfluss auf den Krieg in Gaza. Wie lässt sich internationale Solidarität effektiver gestalten?

Ich finde es wichtig, dass eine Bewegung auf der Strasse die politische Forderung nach einem Ende der Waffenlieferungen an Israel immer wieder vorträgt. Der Internationale Strafgerichtshof fordert das ja auch – und wir müssen unsere Regierungen daran erinnern. Vor ein paar Monaten haben Arbeiter:innen am Brüsseler Flughafen einen Container gesehen, der nach Tel Aviv sollte. Sie fragten sich, was drin ist, und haben die Kiste aufgemacht: Es war eine Waffenlieferung. Noch am selben Abend beschloss die belgische Logistikgewerkschaft, keine Waffen mehr nach Israel zu transportieren. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass das nach dem Urteil des Strafgerichtshofs illegal wäre. Auch in Griechenland und anderswo weigern sich Hafenarbeiter, für Israel bestimmte Rüstungsgüter umzuladen. Das ist eine Schwachstelle der tödlichen Maschinerie. All das zusammen kann einen Unterschied machen. Letztlich gilt aber: Wir können zwar Druck auf Israel und seine Unterstützer:innen aufbauen, befreien werden sich die Palästinenser:innen aber selbst.