Leser:innenbriefe: Der Antisemitismus­begriff

Nr. 4 –

«Essay: Es braucht keine antisemitischen Denkmuster, um Israels Vorgehen in Gaza zu kritisieren. Unrechtsbewusstsein reicht dafür völlig aus», WOZ Nr. 50/24

In ihrem Essay schreibt Shelley Berlowitz, die international anerkannte Antisemitismusdefinition der IHRA trage dazu bei, qualifizierte Kritik an der israelischen Politik als antisemitisch zu bezeichnen. Diese Einschätzung teilen wir nicht.

Der IHRA gehören 35 Länder an. Nach langjähriger Arbeit unter Mitwirkung renommierter Forscher:innen wurde die IHRA-Definition vorgestellt. Sie wird von über dreissig Staaten sowie Städten und Organisationen und fast allen Schweizer Parteien anerkannt und angewendet.

Auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) stützt sich in seinem Antisemitismusbericht auf diese Definition, wie das die meisten Schweizer NGOs tun, die sich mit Antisemitismus befassen. Bei der Beurteilung doppelter Standards, also ob man von Israel ein Verhalten fordert, das man von keinem anderen demokratischen Staat erwartet, schaut er immer genau hin, in welchem Kontext Israel kritisiert wird. Kritik an der Kriegsführung Israels in Gaza ist dabei nicht per se antisemitisch. Und das spricht somit auch nicht gegen die IHRA-Definition.

Was aber unzweifelhaft antisemitisch ist, ist, Juden in aller Welt für die Geschehnisse in Gaza verantwortlich zu machen. Und genau dies treibt den Antisemitismus leider auch in der Schweiz in nie geahnte Höhen, einschliesslich der Tätlichkeiten gegenüber Juden.

Für die Antisemitismus-Arbeit in der Schweiz hat sich die IHRA-Definition als brauchbares Werkzeug erwiesen. Zusätzlich können damit Ergebnisse über die Landesgrenzen hinweg verglichen werden.

Die IHRA-Definition verunmöglicht Kritik an der Politik Israels nicht. Im Gegenteil: Sie lässt sie ausdrücklich zu: «Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der Kritik an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden», heisst es wörtlich. Natürlich ist keine Definition davor gefeit, politisch ausgelegt zu werden, auch jene nicht, die die Autorin als geeigneter ansieht. Statt sich nun in politisch aufgeladenen Debatten und Diskussionen unnötig zu verlieren, muss Antisemitismus effizient und effektiv bekämpft werden.

Ralph Friedländer, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), und Ralph Lewin, Vizepräsident des SIG

Heftige Kritik an Israel sei nicht zwingend antisemitisch, schreibt die Autorin. Nicht zwingend – und wann doch? Da helfe die Antisemitismusdefinition der JDA, wohingegen jene der IHRA «Unsicherheit in der politischen Diskussion» erzeuge. Inwiefern? Darüber vermag das Essay leider auch keine Sicherheit zu schaffen, im Gegenteil.

Behauptet wird, für doppelte Standards bei der Beurteilung Israels gebe es legitime, nichtantisemitische Gründe – ohne konkrete Beispiele zu nennen. Solche finden sich dafür in einer Stellungnahme der Organisation JVJP, als deren Mitglied sich die Autorin bezeichnet. Was dort steht, ist vielleicht nicht antisemitisch, dafür in aller Selbstverständlichkeit eurozentristisch. Argumentiert wird etwa mit dem tradierten «Fokus der christlichen Welt», so als sei es nur logisch, diesen beizubehalten, sowie mit einer in rassistischem Unterton pauschalisierenden Behauptung über die Wahrnehmung von «Bevölkerungen im globalen Süden».

Das Essay selbst verfällt dann noch in klassisches Victim Blaming mit der Aussage, jüdische Institutionen würden mit angeblich bedingungsloser Israelsolidarität jenen, die «in Israel die Verkörperung des kollektiven Juden sehen wollen», einen «Steilpass» zuspielen.

Wie der wachsende Antisemitismus konkret zu bekämpfen ist, wird hingegen gar nicht erst angesprochen. Es entsteht der beklemmende Eindruck, dass dieser Text selbst bezweckt, was er anderen vorwirft: die Diskussion um Antisemitismus für die eigene politische Agenda zu instrumentalisieren.

Manasseh Seidenberg, per E-Mail