Essay: Es braucht keine antisemitischen Denkmuster, um Israels Vorgehen in Gaza zu kritisieren. Unrechts­bewusstsein reicht dafür völlig aus.

Nr. 50 –

Der Begriff des Antisemitismus ist mittlerweile so überdehnt worden, dass er jegliche Trennschärfe zu verlieren droht. Das erschwert den Kampf gegen wirklichen Antisemitismus.

der israelische Filmemacher Yuval Abraham und der palästinensische Filmemacher Basel Adra an der Berlinale
Von Politik und Medien schnell als Antisemiten gebrandmarkt: Der israelische Filmemacher Yuval Abraham und der palästinensische Filmemacher Basel Adra an der Berlinale bei der Auszeichnung für ihren Dokumentarfilm «No Other Land». Foto: Monika Skolimowska, Keystone

Es gibt einen alten jüdischen Witz, der veranschaulicht, wie selbstverständlich und unhinterfragt antisemitische Denkmuster sind: «Sagt der eine zum anderen: Die Juden und die Radfahrer sind an allem schuld. Fragt der andere: Warum die Radfahrer?» Dass Juden an allem schuld sind, dass sie mächtig und betrügerisch sind und sich als Kollektiv gegen die Welt verschwören – das haben wir längst verstanden. Wir leben in einer Kultur, zu deren «Wissensbestand» dieses Denkmuster gehört, auch wenn wir es nicht teilen.

Seit dem 7. Oktober ist Antisemitismus, oder zumindest die Anzahl jener Menschen, die ihrem Antisemitismus öffentlich Ausdruck verleihen, exponentiell angestiegen. Es gibt Hassreden und Verschwörungstheorien in den sozialen Medien, in der Schule werden jüdische Kinder geplagt, es gibt physische Angriffe auf jüdische Einrichtungen und jüdische Menschen – auch in der Schweiz. Das ist ein Anlass zur Sorge. Als Antwort auf diesen verstärkten Ausdruck von Antisemitismus bemühen sich Staaten und Institutionen, über Antisemitismus aufzuklären, pädagogische Konzepte dagegen zu entwickeln und ihn, wo er justiziabel ist, zu bestrafen.

In Israel, den USA und in Deutschland wird oft rasch der Verdacht auf Antisemitismus laut. Das treibt zunehmend absurde Blüten, auch in der Schweiz. Kritik an Israel und am Zionismus wird vorschnell als Ausdruck von Antisemitismus interpretiert. Nur das absurdeste Beispiel unter vielen: Der palästinensische Filmemacher Basel Adra und der israelische Filmemacher Yuval Abraham wurden an der Berlinale 2024 für ihren Film «No Other Land» ausgezeichnet; in ihrer Dankesrede bei der Preisverleihung forderte Adra das Ende von Waffenlieferungen an Israel, und Abraham rief zu einem Waffenstillstand und dem Ende der Besetzung auf. Daraus machten Politik und Medien einen antisemitischen Eklat. Basel Adra und Yuval Abraham waren als Antisemiten gebrandmarkt.

Dies ist aus zwei Gründen gefährlich: Zum einen verunmöglicht es eine inhaltliche Debatte über den Nahostkonflikt, und zum anderen erschwert es den Kampf gegen wirklichen Antisemitismus.

Antisemitische Subtexte

Der englische Philosoph Brian Klug hat sich in mehreren Texten mit der Verschränkung von Kritik an Israel und Antisemitismus befasst. Weil Antisemitismus seit Auschwitz ein gesellschaftliches Tabu sei, so Klug, äusserten sich antisemitische Denkmuster oft in einer versteckten, codierten Sprache. Offene Aussagen sind einfach zu identifizieren, Subtexte und Codeworte nicht. Manchmal ist es leicht, einen Subtext zu entschlüsseln, manchmal ist es schwierig, und manchmal werden Subtexte vermutet, wo keine sind.

Es braucht keine antisemitischen Denkmuster, um Israels Vorgehen in der Westbank und in Gaza zu kritisieren oder um sich mit der palästinensischen Zivilbevölkerung zu solidarisieren. Ein durchschnittlich entwickeltes Unrechtsbewusstsein reicht dafür völlig aus.

Die Autorin

Shelley Berlowitz ist Historikerin und Mitglied im Verein «Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina».


Portraitfoto von Shelley Berlowitz
Foto: Sabine Rock

Das Misstrauen gegenüber propalästinensischen Aussagen grassiert auch in der Schweiz. So bat kürzlich die Gesellschaft Schweiz-Israel bei ihren Mitgliedern um tätige Mithilfe beim Monitoring von Organisationen, die sich mit Palästina solidarisieren (siehe WOZ Nr. 26/24). Und das Netz Never Again Is Now beobachtet und verzeichnet Einträge in sozialen Medien im Hinblick auf Antisemitismus mithilfe eines israelischen Tech-Start-ups. Die Schweizer Gründer des Netzwerks schreiben: «Wir verlieren den Krieg in den sozialen Medien.» Es scheint ihnen also weniger um Aufklärung und die Bekämpfung von Antisemitismus zu gehen als um einen Krieg.

In Israel selber ist die Vorstellung von Israel als Land, das ausgegrenzt und verfolgt, diffamiert und gehasst wird und dem die Verantwortung für alles Übel der Welt angedichtet wird, weitverbreitet. «Israel ist der Jude unter den Nationen geworden», sagte Abe Foxman, ehemaliger Direktor der Anti-Defamation League.

Anfang der 2000er Jahre entbrannte eine politische und intellektuelle Kontroverse über einen sogenannten neuen Antisemitismus. Antisemitismus äussere sich in erster Linie in scharfer Kritik am Staat Israel und am Zionismus, wurde postuliert. Er verwende zwar traditionelle antisemitische Stereotype, richte seine Aufmerksamkeit aber weg vom «Juden» hin zum «Staat Israel». Der «neue Antisemitismus» sei antizionistisch, antiwestlich oder islamistisch. Und er komme nicht mehr vorrangig aus einem rechten oder rechtsextremen Milieu, sondern aus einem linken und linksradikalen.

Welche Kritik ist legitim?

Der historische Kontext, in dem sich diese Debatte entfaltete, war die Zweite Intifada, die im Jahr 2000 ausbrach. In den Jahren 2000 bis 2004 verübten Palästinenser:innen über hundert Selbstmordattentate in israelischen Ballungszentren. Die israelische Armee antwortete mit verheerenden militärischen Angriffen in Gaza und in der Westbank. Das Verhältnis der Opfer in den ersten beiden Wochen nach Ausbruch der Intifada betrug gemäss der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem fast vierzig zu eins – zuungunsten der Palästinenser:innen. In den Zivilgesellschaften Europas und der USA wurde vehemente Kritik an Israels Vorgehensweise laut.

Um diese Kritik zu kontern, stellte die israelische Regierung den sogenannten 3-D-Test vor. Dieser sollte klarstellen, wann Kritik an Israel antisemitisch ist und wann nicht. Kritik an Israel sei dann antisemitisch, wenn sie Israel 1. dämonisiert, 2. delegitimiert oder 3. doppelte Standards anlegt. Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards sind allerdings keine scharfen Begriffe, denn sie können interpretiert und ausgelegt werden. Doppelte Standards anzulegen, kann sich überdies auch zugunsten von Israel auswirken. Klarheit hat der «3-D-Test» also nicht geschaffen. Aber er hat Kritik an der israelischen Politik erfolgreich einem Generalverdacht des Antisemitismus ausgesetzt. Jede Kritik muss nun zuerst eine Prüfung auf die drei Ds bestehen, bevor sie als legitim gelten kann.

Diese Tendenz wurde durch die Arbeitsdefinition zum Antisemitismus, die die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) 2016 verabschiedete, verstärkt und hat seither grosse Verbreitung gefunden. Die Kerndefinition der IHRA lautet: «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.» Und weiter: «Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.» Der Kerndefinition folgen elf Beispiele von antisemitischen Aussagen und Handlungen, von denen sieben von Kritik an Israel und am Zionismus handeln.

Gefährliche Automatismen

Definitionen komplexer Begriffe lassen immer Raum für Interpretationen. Sie zeigen in eine Richtung, sie sind nie absolut und werteunabhängig. Aber eine Definition von Antisemitismus – oder von Rassismus, Sexismus oder Homophobie – sollte versuchen, den Kern einer Sache so präzise wie möglich zu umreissen. Das scheint mir – und vielen anderen – bei der IHRA-Definition in verblüffender Weise misslungen.

Im Text «Defining Antisemitism: What Is the Point?» analysiert der englische Philosoph Brian Klug die IHRA-Definition akribisch. Was die Inhalte der «bestimmten» Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen seien, bleibe unerwähnt, schreibt Klug. Dass nichtjüdische Menschen Ziel von Antisemitismus sein können, wenn man glaubt, sie seien jüdisch oder mit Jüd:innen verbandelt, ist zwar klar. Warum das aber in die Kerndefinition von Antisemitismus gehört, ist ein Rätsel.

Ebenso bleibt offen, warum Kritik an Israel vergleichbar sein muss mit Kritik an anderen Ländern und warum sie, wenn sie dies nicht ist, antisemitisch ist. Zu den elf aufgeführten Beispielen gehören zum einen klassische Topoi des Antisemitismus, wie der Mythos einer jüdischen Weltverschwörung oder der Aufruf zu Gewalt gegen Jüd:innen. Zum anderen werden auch Beispiele aufgeführt, die nicht per se als Antisemitismus gelten können, sondern kontextabhängig sind. Zum Beispiel die Anwendung doppelter Standards bei der Beurteilung von Israel oder die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen. Es gibt viele Gründe, doppelte Standards anzuwenden, die nicht antisemitisch sind. Und es gibt Kontexte und Perspektiven, aus denen heraus Israel als rassistisches Unterfangen gesehen wird, die nicht antisemitisch sind.

Die IHRA-Arbeitsdefinition ist rechtlich nicht bindend. Sie hat allerdings einen erstaunlichen Siegeszug in der Öffentlichkeit angetreten und ist mitverantwortlich dafür, dass sich die Diskussion über Antisemitismus so sehr auf Israel konzentriert. Über vierzig Staaten und zahlreiche internationale Organisationen haben die Definition übernommen.

Auch der Schweizer Bundesrat «anerkennt den Wert und die praktische Relevanz der Arbeitsdefinition», will sie allerdings nur als zusätzlichen Leitfaden für die Identifikation antisemitischer Vorfälle verstanden wissen. Schweizer Parteien, darunter die FDP, die GLP und Die Mitte, übernahmen die Definition, und die SP betrachtet sie als massgebend. Der Deutsche Bundestag hat gerade eine «Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland» und das US-amerikanische Repräsentantenhaus den «Antisemitism Awareness Act» verabschiedet. Beiden liegt die IHRA-Definition zugrunde.

Anschuldigungen und Selbstzensur

In der politischen Diskussion hat diese Definition also sehr grosses Gewicht. Die Rechtswissenschaftlerinnen Maya Hertig Randall und Catherine Imbeck haben die IHRA-Definition analysiert und ein interessantes Denkexperiment gemacht. Sie haben Antisemitismus mit Islamophobie und Jüd:in/jüdisch durch Muslim:in/muslimisch ersetzt. Das tönt dann so: «Islamophobie ist eine bestimmte Wahrnehmung von muslimischen Personen, die sich als Hass gegenüber Musliminnen und Muslimen ausdrücken kann. Die Islamophobie richtet sich in Wort oder Tat gegen muslimische und nichtmuslimische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen muslimische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.» Alles klar?

Das Problem ist nicht nur, dass die IHRA-Definition vage oder unpräzise ist. Das Problem ist ihre Vagheit, kombiniert mit der expliziten Nennung von Israel als Ziel von Antisemitismus und dem Auflisten von konkreten Beispielen von Antisemitismus im Zusammenhang mit Israel. Die Vagheit der Kerndefinition wird durch die konkreten Beispiele aufgefüllt.

Das hat zur Folge, dass die Definition nicht sehr hilfreich ist in der Identifikation von klassischem Antisemitismus, der auf stereotypen Vorstellungen von Juden und Jüdinnen beruht. Sie ist aber äusserst hilfreich bei der Erzeugung von Unsicherheit in der politischen Diskussion. Dies führt in vielen Fällen zu Anschuldigungen und zu Selbstzensur und schränkt den Raum für legitime Debatten über den Nahostkonflikt ein.

Die Schwächen der IHRA-Definition haben zwei Reaktionen hervorgebracht. Das «Nexus Document» wurde von einer Arbeitsgruppe am Bard Center for the Study of Hate im US-amerikanischen Kingston veröffentlicht. In Europa bekannter ist die «Jerusalem Declaration on Antisemitism», die von über 200 mehrheitlich jüdischen Wissenschaftler:innen formuliert wurde.

Die Definition der Jerusalem Declaration lautet: «Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).» Sie benennt damit das Wesentliche. Sie betont, dass es antisemitisch ist, Symbole, Bilder und negative Stereotype des klassischen Antisemitismus auf den Staat Israel anzuwenden. Sie hält aber auch fest, dass weder Boykottforderungen noch Antizionismus per se antisemitisch seien und dass politische Äusserungen nicht massvoll, verhältnismässig, gemässigt oder vernünftig sein müssen. Mit anderen Worten: Heftige Kritik an Israel kann unangebracht oder falsch, unfair oder dumm sein – aber das heisst nicht, dass sie antisemitisch ist.

Worum es wirklich geht

Es gibt eine Korrelation zwischen den Ereignissen im Nahostkonflikt und dem Aufflammen von Antisemitismus. Antijüdische Hassreden in den sozialen Medien, Graffiti und Beschimpfungen nehmen zu, wenn Israel Gaza bombardiert oder palästinensische Ortschaften in der Westbank angreift. Es handelt sich hierbei aber um eine Korrelation und nicht um eine Kausalität. Wer ein antisemitisches Weltbild hat, braucht keinen Grund für sein feindseliges Verhalten gegenüber Juden und Jüdinnen. Aber: Wenn der Staat Israel mit dem jüdischen Volk respektive der weltweiten jüdischen Bevölkerung gleichgesetzt wird, liegt die Gefahr nahe, dass sich der Kampf gegen und die berechtigte Empörung über die israelische Politik mit antisemitischen Elementen auflädt und sich gegen jüdische Menschen wendet.

Die israelische Regierung will diese Gleichsetzung und fördert sie und hat sie im sogenannten Nationalstaatengesetz von 2018 institutionalisiert. Dieses postuliert, dass der Staat Israel die «nationale Heimstätte» aller Juden und Jüdinnen und nur der Jüdinnen und Juden sei. Jüdische Institutionen beklagen die Gleichsetzung, wenn sie von aussen postuliert wird, unterstützen sie aber gleichzeitig – etwa mit bedingungsloser Solidarität mit Israel. Sie spielen damit jenen Leuten einen Steilpass zu, die in Israel die Verkörperung des kollektiven Juden sehen wollen.

Die Lancierung des Begriffs «neuer Antisemitismus», der «3-D-Test» und die IHRA-Definition haben den Begriff des Antisemitismus politisiert und die Debatte um den Nahostkonflikt entpolitisiert. Das hat fatale Folgen. Es steht zwar ausser Frage, dass israelkritische Aussagen von Antisemitismus motiviert sein können und dass es in der Kritik an der israelischen Regierung immer wieder antisemitische Subtexte gibt. Wenn allerdings politische Forderungen oder Slogans kontextunabhängig als Antisemitismus gelten, verliert der Begriff jegliche Trennschärfe.

Wer bei Kritik an Israel vorschnell den Vorwurf des Antisemitismus erhebt, läuft Gefahr, zu vergessen, worum es wirklich geht, nämlich um Judenhass. Einfach gesagt: Antisemitismus ist, wenn man Jüd:innen hasst – nicht, wenn man sich mit einer Partei im Nahostkonflikt solidarisiert oder radikale politische Positionen vertritt, die Unbehagen bereiten. Und dann läuft man auch Gefahr, zu vergessen, worum es beim Konflikt zwischen Israel und Palästina geht: um einen Konflikt mit politischen Ursachen, der politisch gelöst werden muss.

Dies zu vergessen, erschwert die Reflexion von Antisemitismus und dessen Bekämpfung. Der vorschnelle Antisemitismusvorwurf bei Kritik an Israel schafft Unsicherheit und Misstrauen. Und führt zu Widerstand gegen eine als ungerecht empfundene Verurteilung – was wiederum genau das Phänomen verstärkt, das es zu bekämpfen gilt: antijüdische Gefühle.