Säuberungswelle in der Türkei: Angeklagt von der «mobilen Guillotine»
Sozialdemokrat:innen, Linke, Geschäftsleute, Kurdinnen und Journalisten – mehrere Hundert Menschen wurden innerhalb weniger Tage verhaftet: Präsident Recep Tayyip Erdoğan bereitet seine vierte Amtszeit vor.
Sogar für türkische Verhältnisse waren die zahlreichen Verhaftungen in der vergangenen Woche bemerkenswert. In Vorbereitung zu seiner von ihm angestrebten vierten Amtszeit greift Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu immer noch rabiateren Massnahmen. Innerhalb von sieben Tagen wurden im Land rund 480 Personen festgenommen. Die einen, weil sie gegen die AKP-Regierung protestierten, die anderen, weil sie Anhänger:innen oppositioneller Parteien oder linker und prokurdischer Gruppen sind.
Allein in der ostanatolischen Stadt Van nahm die Polizei am vergangenen Samstag teils gewaltsam 400 Personen fest, unter ihnen mindestens 55 Minderjährige, die gegen die Absetzung des dortigen Bürgermeisters Abdullah Zeydan protestiert hatten. Zeydan, Mitglied der prokurdischen DEM (Partei der Demokratie der Völker), wurde im vergangenen März mit 55 Prozent zum Stadtoberhaupt gewählt. Nachdem ein Gericht seine Wahl für ungültig erklärt hatte, kam es bereits damals zu tagelangen Demonstrationen, bei denen Hunderte Personen festgenommen wurden. Weil der Widerstand trotz der Polizeigewalt nicht endete, ruderte Ankara damals zurück; Zeydan durfte sein Amt antreten. Allerdings verurteilte ihn ein Gericht wegen Unterstützung der in der Türkei als terroristisch geltenden kurdischen Arbeiter:innenpartei PKK zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis. Als Folge davon wurde er nun als Bürgermeister abgesetzt und durch einen staatlichen Zwangsverwalter ersetzt. Doch Zeydan ist in seinem Wahlkreis populär – nach seiner Absetzung besetzten zahlreiche Anhänger:innen das Rathaus.
Eine alte Praxis
Auch andernorts erfolgten Dutzende Verhaftungen. Es traf vor allem prokurdische und linke Aktivist:innen, aber auch Künstlerinnen und Journalisten. Am Dienstag wurden in zehn der insgesamt 81 Provinzen des Landes rund fünfzig Personen inhaftiert, die als regierungskritisch betrachtet werden. In Istanbul wurden am Samstag dreissig Personen festgenommen. Die Regierung wirft einem grossen Teil von ihnen vor, den Demokratischen Volkskongress (HDK) zu unterstützen. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft steht die Dachorganisation prokurdischer und linker Parteien mit der PKK in Verbindung.
Dass die Polizei unliebsame Personen aufsucht und gewählte Volksvertreter:innen abgesetzt werden, ist keine neue Praxis. Mittlerweile geraten aber auch Politikerinnen und angebliche Unterstützer der grössten Oppositionspartei, der CHP, ins Visier. So wurden auch gegen Personen aus der Finanzbranche, vom Arbeitgeberverband Tüsiad sowie gegen Schauspieler:innen, die als CHP-Sympathisant:innen gelten, Strafverfahren eingeleitet.
In Istanbul kam Mitte Februar ein Bezirksbürgermeister der CHP in Haft. Auch in der südöstlichen Provinz Tunceli wurde ein CHP-Bürgermeister festgenommen. Beide Politiker sollen der PKK nahestehen, so der Vorwurf. Ihnen drohen bis zu fünfzehn Jahre Haft. Die Generalstaatsanwaltschaft, die gegen die Oppositionellen Anklage erhoben hat, wird auch die «mobile Guillotine» genannt. Nach den Kommunalwahlen im März 2024, bei denen die CHP einen überraschenden Erfolg für sich verbuchen konnte, seien CHP-Mitglieder zu «Terroristen» erklärt worden, kritisierte Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister von Istanbul.
Erdoğan möchte nochmal
Es ist kein Geheimnis, dass İmamoğlu der Mann ist, den Erdoğan am meisten fürchtet – spätestens nachdem dieser dank der kurdischen und linken Stimmen in Istanbul eine zweite Amtszeit erringen konnte. Und auch jetzt, kurz nach der Säuberungswelle, geben der CHP-Politiker und seine Oppositionspartei nicht auf. Vergangene Woche hat sich İmamoğlu offiziell als Präsidentschaftskandidat für die geplanten Wahlen 2028 beworben. Auch Erdoğan will sich dann für eine vierte Amtszeit bewerben. Gemäss Verfassung darf er das nicht – es sei denn, es wird vorher zu Neuwahlen kommen oder eine Mehrheit stimmt für eine entsprechende Verfassungsänderung.
İmamoğlu ist der wichtigste Herausforderer Erdoğans. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2019 musste sich der Sozialdemokrat mehrfach in politischen Gerichtsverfahren behaupten. 2022 wurde er wegen angeblicher Beleidigung von Mitgliedern des Obersten Wahlrats zu einem fünfjährigen Politikverbot und einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt. Er hat Berufung eingelegt. Momentan laufen vier weitere Verfahren gegen ihn, unter anderem wegen angeblicher Beeinflussung der Justiz. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu sieben Jahre Gefängnis und weitere Politikverbote.
Die politisch motivierten Gerichtsverfahren überraschen nicht: Gemäss einer aktuellen Umfrage, publiziert in den wenigen regierungskritischen Medien, würde der Staatspräsident seinem Kontrahenten derzeit mit 43 zu 57 Prozent unterliegen. Einen Tag nach Bekanntgabe von İmamoğlus Kandidatur berichteten Medien, dass eine Untersuchung gegen ihn im Gang ist, weil er seinen Universitätsabschluss gefälscht haben soll. Laut Verfassung müssen Präsidentschaftskandidaten über einen Hochschulabschluss verfügen.