Aufruhr in der Türkei : Die Kinder von Gezi
Vor allem junge Menschen organisieren den Widerstand gegen den Präsidenten. Sie kämpfen auch für eine Zukunft im eigenen Land.
Murat Kaya weiss, dass es nichts gibt, was ihn schützen kann: Die Polizei treibt ihn und seine Freund:innen mit Tränengas und Knüppeln auseinander. Viele von ihnen werden festgenommen. Die Justiz steht selten auf ihrer Seite, die Regierung brandmarkt ihren Widerstand als «Strassenterror». Aber der 23-jährige Student will nicht schweigen. An Demonstrationen, die er mitorganisiert, fordert er den Rücktritt von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. «Seit 23 Jahren hält sich die AKP durch Einschüchterung, religiöse Propaganda und Gleichschaltung der Medien an der Macht», sagt Kaya am Telefon. Aus Angst vor Repressalien möchte er seinen richtigen Namen nicht nennen. Der junge Mann gehört zur Generation Z – jener Generation, die mit Erdoğan an der Staatsspitze aufgewachsen ist.
Es ist kein Zufall, dass vor allem junge Menschen die jetzigen Demonstrationen vorantreiben. Sie vermissen politische Visionen. 2024 waren 16,3 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos. Nachdem am 18. März die Istanbuler Universität das Diplom ihres Absolventen Ekrem İmamoğlu, des CHP-Politikers und Bürgermeisters von Istanbul, für ungültig erklärt hatte – Bewerber für das Präsidialamt brauchen laut Verfassung zwingend einen Universitätsabschluss –, durchbrachen am Morgen danach Hunderte Student:innen vor der Universität errichtete Barrikaden. Wenige Stunden später wurde İmamoğlu verhaftet.
Hunderttausende fordern seither landesweit Erdoğans Rücktritt sowie İmamoğlus Freilassung aus dem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis Silivri. An den Universitäten der Metropolen Izmir, Istanbul und Ankara boykottieren Student:innen den Unterricht, sie organisieren Demonstrationen und Veranstaltungen auf dem Campus, bei denen sie ihren Forderungen nach fairen Gerichtsverfahren, Meinungsfreiheit und bezahlbarem Wohnraum in Wohnheimen Ausdruck verleihen. Auch Schüler:innen gehen nicht in den Unterricht, um so gegen die Zwangsversetzung regierungskritischer Lehrer:innen zu protestieren. Laut Medienberichten sollen in den vergangenen Wochen rund 20 000 Lehrkräfte versetzt worden sein, weil sie an Protesten teilgenommen hatten.
Angst und Stolz
Spätestens seit der Verhaftung von İmamoğlu hegt kaum jemand mehr die Illusion, dass sich mit Erdoğan politisch noch etwas zum Besseren wenden könnte. «Die Verhaftung von Ekrem İmamoğlu wird nicht nur als Freiheitsberaubung eines Individuums, sondern auch als Eingriff in den Willen des Volkes angesehen», schreibt der Soziologe Haluk Doğan in einer Analyse für den Non-Profit-Thinktank Toplum Çalışmaları Enstitüsü (Institut für Sozialforschung). Aus diesem Grund seien die Demonstrationen nicht nur als Forderung nach einer Freilassung İmamoğlus zu betrachten, sondern auch als Forderung nach sozialer und demokratischer Gerechtigkeit.
Auf die Strassen gehen nun die Kinder, die 2013 von ihren Eltern an die Gezi-Demonstrationen mitgenommen worden waren. Natürlich hätten diese Angst um ihre Kinder; Angst, dass sie verhaftet oder Opfer staatlicher Gewalt werden könnten, sagt der Aktivist Murat Kaya. Der Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen sei üblich, und er habe auch miterlebt, wie Polizisten Demonstrant:innen verprügelten. Doch seine Eltern – CHP-Anhänger:innen – seien auch stolz auf ihn. «Wir alle müssen alles dafür tun, unsere Demokratie wiederherzustellen, die von der AKP-Regierung beschädigt wurde», sagt der Student. «Es reicht nicht aus, nur Unternehmen der AKP-Anhänger und Palastkriecher zu boykottieren. Jeder in diesem Land sollte die Arbeit niederlegen.» Die derzeitigen Proteste findet er zu wenig radikal: Er wünscht sich einen landesweiten Massenstreik. «Der würde die Regierung dort treffen, wo es ihr wehtut: beim Geld.» Zahlreiche Umfragen in den letzten Jahren kamen zum Ergebnis, dass die türkische Jugend zunehmend unzufrieden mit dem Leben in ihrem Land ist und die Hoffnung in die Zukunft Landes verloren hat. So ist in den letzten Jahren eine steigende Zahl hochqualifizierter Auswander:innen zu verzeichnen. Die Menschen haben genug vom Autoritarismus, von der zweistelligen Inflationsrate und von Verhaftungen aufgrund von «falschen Likes» in sozialen Netzwerken.
Instrumentalisierung der Linken
Eine Linguistikstudentin erzählt, sie halte es nicht mehr aus, ständig Angst vor noch mehr politischer Einmischung haben zu müssen. Auch sie demonstriert regelmässig an ihrer Uni in Istanbul gegen die Regierung und will aus Sorge vor Repressalien anonym bleiben. Vor allem die Perspektivlosigkeit treibe sie an. «Gute Jobs gibt es hier nur für Regierungsanhänger», sagt die 22-Jährige. Sie will nach ihrem Studium ins Ausland. Denn insgesamt seien die Arbeitsbedingungen in der Türkei schlecht, klagt sie: viele Überstunden, wenig Rechte als Arbeitnehmerin. Auch reiche der Lohn wegen der Inflation nicht aus, um bei den Eltern ausziehen zu können. «Ich will nicht eine von den Millionen Arbeitslosen sein, ich will eine faire Chance», sagt sie. Der Aktivist Kaya denkt gleich: Wenn sich die Situation weiter verschlechtere und sich eine gute Gelegenheit biete, werde er wegziehen – obwohl er seine Heimat liebe.
Der Präsident hat für die Demonstrationen nur Spott und Häme übrig. Die Schuld für die Unzufriedenheit schiebt er der Opposition zu – und greift tief in die historische Kiste: Bei einem Treffen der AKP-Fraktion machte er die CHP für den Tod von Deniz Gezmiş verantwortlich. Der Gründer und Anführer der 1970 gegründeten linksradikalen Volksbefreiungsarmee der Türkei (Türkiye Halk Kurtuluş Ordusu, THKO) ist eine Ikone der Linken in der Türkei. Auf das Konto der THKO gehen Bombenanschläge und eine Entführung von vier US-Soldaten im März 1971. Gezmiş wurde 1972 mit 25 Jahren hingerichtet – auch die CHP stimmte damals in der Nationalversammlung für seinen Tod. Nun sagt Erdoğan, die Opposition habe dessen Hinrichtung lächelnd beobachtet, jetzt wolle die CHP Gezmiş für ihre eigenen politischen Ziele instrumentalisieren.
Die Protestwelle rollt: Auf dem Traktor gegen Erdoğan
Während sich Hunderte Demonstrant:innen vor Gericht verantworten müssen, regt sich jetzt auch in AKP-Hochburgen der Widerstand.
Die Proteste gegen die Regierung reissen nicht ab: Auch fünf Wochen nach der Festnahme des CHP-Politikers Ekrem İmamoğlu wird in der Türkei nahezu täglich gegen dessen Inhaftierung und den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan demonstriert. Es ist der grösste Aufstand seit den landesweiten Gezi-Protesten 2013, als Millionen Menschen auf die Strassen gingen. Neben den Student:innen organisiert vor allem die linksnationalistische Oppositionspartei CHP die derzeitige Revolte. 1800 Personen nahm die Polizei schon fest, unter ihnen 300 Studierende. Der Staat wirft ihnen hauptsächlich vor, gegen das geltende Versammlungs- und Demonstrationsverbot verstossen zu haben. Die Familien der Festgenommenen Student:innen haben ein Solidaritätsnetzwerk gebildet.
Grosse Einigkeit
Vergangene Woche begannen Gerichtsverfahren gegen 189 Personen, die an den Protesten teilgenommen hatten. Gleichzeitig wurden rund hundert junge Personen wieder freigelassen. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass bis heute immer noch Demonstrant:innen wegen ihrer Teilnahme an den Gezi-Protesten verurteilt werden.
Der derzeitige Druck der Strasse wird die Regierung nicht unbeschädigt lassen. Anders als 2013 wenden sich nun nämlich auch AKP-Anhänger:innen öffentlich gegen den Präsidenten. Denn auch sie leiden seit Jahren unter der Inflation, deren Ende nicht absehbar ist. Am Samstag nahmen Tausende Menschen in Yozgat an einer Demonstration mit dem Slogan «Den Willen des Volkes akzeptieren» teil. Die zentralanatolische Stadt ist eine AKP-Hochburg, in der Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen 2023 rund 76 Prozent der Stimmen erhielt.
Viele Demonstrant:innen kamen mit Traktoren angefahren. Die Landwirt:innen gelten als klassische AKP-Klientel. Unabhängige türkische Medien, die von den Demonstrationen in Yozgat berichteten, zitieren Pensionär:innen, die sich über ihre unzureichenden Renten und die hohen Lebenshaltungskosten beklagen, während sich Bäuer:innen darüber beschweren, dass ihre Ernte fast nichts mehr wert sei. Junge Demonstrant:innen sprechen von ihren Zukunftsängsten und dem Wunsch nach einem freieren Land. Fast alle Befragten sind der Meinung, dass İmamoğlu aus rein politischen Gründen und zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Am Samstag kritisierte der ehemalige Ministerpräsident und Erdoğan-Vertraute Bülent Arınç, es sei Unrecht, dass İmamoğlus Universitätsdiplom annulliert worden sei (vgl. Haupttext oben).
Millionen symbolische Stimmen
Eine zweite, von der CHP abgehaltene Kundgebung in Yozgat wurde mit der Verlesung eines Briefes von İmamoğlu eröffnet. Darin fordert der suspendierte Bürgermeister von Istanbul vorgezogene Kommunal- und Präsidentschaftswahlen. Geplant sind sie eigentlich für 2028. İmamoğlu wurde von seiner Partei Ende März trotz seiner Festnahme zum Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen gekürt. Ganze 1,6 Millionen der insgesamt 1,7 Millionen CHP-Mitglieder haben laut der Partei für ihn gestimmt. Hinzu kamen dreizehn Millionen symbolische Stimmen, die an sogenannten Solidaritätswahlboxen für ihn abgegeben wurden.
Den Protesten angeschlossen haben sich jetzt auch Gymnasiast:innen. Nachdem das Bildungsministerium am 8. April Versetzungen von Lehrpersonen an über dreissig Schulen verkündigt hatte, starteten Schüler:innen eine Social-Media-Kampagne unter dem Hashtag #öğretmenimedokunma (Fass meinen Lehrer nicht an). Die Schüler:innen veranstalten teils mit der Unterstützung ihrer Eltern Sit-ins in ihren Schulen und halten Plakate mit dem Spruch «Recep, ich will mit dir Schluss machen» hoch.