Proteste in Istanbul: «Es geht um alles»

Nr. 13 –

Seit der Verhaftung von Ekrem İmamoğlu und seiner Suspendierung als Bürgermeister eskaliert die Situation in Istanbul. Trotz Verbot gehen Hunderttausende auf die Strasse.

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eine Junge Person auf einem Baum bei den Massenprotesten in Istanbul
«Geht doch auf die Strasse, wenn ihr euch traut», hat ein Regierungsmitglied vor ein paar Wochen noch gedroht. Genützt hat es nicht, inzwischen gibt es in Istanbul täglich Massenproteste.

«Rücktritt, Erdoğan», schallt es durch den prall gefüllten Metrowaggon. Es sind vor allem junge Menschen, die im Chor das Ende von Recep Tayyip Erdoğans Präsidentschaft fordern. Manche haben Türkeiflaggen in der Hand, andere Schilder mitgebracht: «Mit Widerstand werden wir gewinnen», steht in roten Grossbuchstaben auf einem Karton.

«Jeden Tag gehen mehr Menschen auf die Strasse», sagt eine junge Frau. Das mache ihr Mut. Ihren Namen will sie nicht verraten – seit vergangener Woche sind Demonstrationen in Istanbul und weiteren türkischen Städten verboten. Täglich werden Menschen festgenommen. Manche führt die Polizei noch während der Proteste ab, andere Stunden später zu Hause.

Als sich die Türen an der nächsten Haltestelle öffnen, wird das Getöse lauter. Dutzende Demonstrierende auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig begrüssen die Neuankömmlinge mit Applaus. Endstation Protest. Hüpfend schiebt sich die Masse zum Ausgang: «Spring, spring; wer nicht springt, ist ein Tayyip-Anhänger», rufen die Menschen.

Auf einem der Schilder umranden Herzchen das Foto von Ekrem İmamoğlu, dem Bürgermeister von Istanbul. Seine Festnahme am Mittwoch letzter Woche hatte die Proteste ausgelöst. İmamoğlu gehört der grössten türkischen Oppositionspartei an und ist manchen Umfragen zufolge landesweit beliebter als Erdoğan. Laut seiner Partei, der republikanischen CHP, war das der Grund für seine Verhaftung. Jeden Abend ruft die Partei zu Kundgebungen auf. Am Sonntag hatte sie zudem İmamoğlu in einer landesweiten Abstimmung zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028 gekürt. Gleichentags wurde İmamoğlu wegen angeblicher Korruption in Untersuchungshaft gebracht und als Bürgermeister suspendiert.

Der Staat vergisst nicht

Seit Wochen schon werden nahezu täglich kritische Meinungsträger:innen festgenommen: berühmte Künstlerinnen, Journalisten, Firmenchefs, Bürgermeister:innen und selbst der Chef einer rechtsnationalistischen Partei. Vorgeworfen werden ihnen in der Regel Terrorunterstützung, Präsidentenbeleidigung oder Korruption.

Eine prominente Schauspieler:innenagentin wurde verhaftet, weil sie vor zwölf Jahren die Gezi-Proteste unterstützt haben soll. Die unmissverständliche Botschaft: Der Staat vergisst nicht. Um den Ernst der Lage zu verdeutlichen, hatte Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP, vor ein paar Wochen in einer Parlamentsrede gedroht: «Geht doch auf die Strasse, wenn ihr euch traut.» Wochenlang schwieg die Gesellschaft, vereint in Selbstzensur und stiller Wut. Selbst Regierungsanhänger:innen kommentierten die Verhaftungswelle kaum.

Mit der Festnahme İmamoğlus kippte die Stimmung. Am heftigsten reagierten zuerst die Märkte. Die Börsenkurse fielen, die türkische Lira verlor gegenüber dem US-Dollar rund zwölf Prozent an Wert und sackte auf ein Rekordtief ab. Innerhalb von drei Tagen verkaufte die türkische Zentralbank etwa 26 Milliarden US-Dollar, um die eigene Währung etwas zu stabilisieren. Seit Jahren sinkt der Wert der Lira – während die Preise steigen.

Polizei und Demonstrant:innen bei den Massenprotesten in Istanbul

«Es geht um alles, um Wirtschaft, Demokratie, Gerechtigkeit», zählt eine Studentin am Sonntagabend in Istanbul auf. Sie ist gerade mit der Metro angekommen, um wie Hunderttausende vor dem Rathaus zu protestieren. Über Mund und Nase hat sie ein rotes Tuch mit weissen Halbmonden und Sternen gezogen. Sie will nicht erkannt werden, denn sie komme fast jeden Abend hierher. «Nur als die Terroristen da waren, bin ich zu Hause geblieben.» Damit meint sie Vertreter:innen der prokurdischen DEM-Partei. Viele von deren Bürgermeister:innen sitzen im Gefängnis. Die Behörden werfen ihnen Unterstützung der als Terrororganisation gelisteten kurdischen Arbeiter:innenpartei PKK vor.

Gleichzeitig hofiert die Regierung seit Wochen die DEM und kurdische Gruppen. Viele von ihnen haben sich bisher nicht an den Protesten beteiligt, sondern das kurdische Neujahrsfest Newroz begangen. An den Feierlichkeiten nahm auch Erdoğan teil. Wochen zuvor war es DEM-Abgeordneten erlaubt worden, Abdullah Öcalan, den seit 26 Jahren in Einzelhaft sitzenden PKK-Gründer, zu besuchen. Seit dieser Ende Februar die Auflösung der bewaffneten PKK ausgerufen hat, halten sich seine Sympathisant:innen sowie die prokurdische DEM mit Regierungskritik weitestgehend zurück.

Die Wut der Student:innen

Viele Protestierende glauben, dass die Regierung versuche, sie gegeneinander auszuspielen. «Die Kurden dürfen auf ihren Newroz-Feiern verbotene Öcalan-Poster zeigen – und uns greift die Polizei an, wenn wir mit Türkeifahnen vor ihnen stehen», schimpft eine junge Frau. Sie ist mit zwei Freundinnen bereits auf dem Heimweg, obwohl die Kundgebung gerade erst angefangen hat. Die drei hatten in der ersten Reihe gestanden, da seien Sicherheitsbeamte auf sie losgegangen. «Wir verteidigen unsere Rechte und kriegen dafür nichts als Schläge und Pfefferspray ab», sagt die junge Frau.

Dabei verhält sich die Polizei für türkische Verhältnisse bislang ungewöhnlich zurückhaltend. Gerade in den ersten Tagen liess sie sich mit Flaschen, brennenden Fackeln und Feuerwerkskörpern bewerfen. Beamt:innen, die daraufhin Gummigeschosse oder Tränengas einsetzten, wurden von Vorgesetzten zurückgezogen. Bei einer Demo in Izmir sollen Augenzeug:innen zufolge Polizist:innen sogar vor den Protestierenden geflohen sein. Oppositionsanhänger:innen vermuten, dass sich Provokateur:innen unter die Massen gemischt haben. Als am Wochenende Bilder von verletzten Polizist:innen veröffentlicht wurden, verurteilte Präsident Erdoğan die Demos als «Strassenterror». In Istanbul scheinen die Beamt:innen seitdem mehr Tränengas, Gummigeschosse und Wasserwerfer einzusetzen.

Politiker:innen der Opposition versuchen derweil, ihre Kundgebungen friedlich zu halten. Vor dem Rathaus in Istanbul stehen sie jeden Abend auf einer Bühne und reden stundenlang über Demokratie und Gerechtigkeit. Zwischendurch werden Lieder gespielt. In den Seitenstrassen haben Köfteverkäufer ihre Grillstände aufgebaut. Die Stimmung erinnert an ein Volksfest.

Weniger friedlich geht es hundert Meter weiter zu: Hunderte, vor allem junge Menschen stehen wie jeden Abend auch heute wieder einer Mauer aus Polizist:innen gegenüber. Wolken aus Tränengas und Pfefferspray ziehen über die Menge. «Willkommen zum Gasfestival», steht auf einem Schild. Die eine Seite wirft Flaschen und Feuerwerkskörper, die andere feuert Tränengas und Gummigeschosse. Ohne Schutz der Atemwege traut sich niemand in diesen Bereich. Die Polizei achtet darauf, dass zwischen ihr und den Protestierenden ein paar Meter Abstand bleiben. Wer diese Grenze überschreitet, wird mit Tränengas überschüttet.

«Medizin, wir brauchen Medizin!», ruft eine junge Frau aus den ersten Reihen. Ihre Freundin ringt nach Luft. «Macht den Weg frei!» Irgendjemand reicht eine Tüte Milch durch. Ein kleiner Korridor bildet sich, und die beiden Frauen werden zur Krankenstation weiter hinten auf einem Spielplatz gelotst. Medizinstudent:innen leisten hier Erste Hilfe. Auf der Rutsche steht in schwarzen Buchstaben, dass Erdoğan ein «Hurensohn» sei. An ein Gerätehäuschen daneben hat jemand «Wenn sie kein Brot haben, sollen sie Gas schlucken» gesprayt.

Viele Protestierende glauben, dass am Ende nicht mehr als solche Parolen von ihrem Kampf übrig bleiben wird. Am Ende werde sich die Staatsgewalt durchsetzen, meint eine junge Frau. «Jedes Mal, wenn die Menschen hier auf die Strasse gegangen sind, ist die Regierung nur noch autoritärer geworden», sagt sie und erinnert an die Gezi-Proteste. Begonnen hatten diese hauptsächlich als Bewegung von Student:innen. Millionen Menschen schlossen sich ihnen an.

Es heisst, dass Erdoğan seitdem niemanden so sehr fürchte wie die Student:innen. Zu Beginn der aktuellen Proteste umzingelten Sicherheitskräfte zahlreiche Universitäten und gingen mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die jungen Menschen vor. «Jetzt ist unsere letzte Chance, noch einmal etwas Wut rauszulassen», sagt die junge Fsrau. In ihrer Nähe beginnt eine Gruppe Student:innen zu schreien: «Diktator, Erdoğan!»