Traum der Welt: Dem Krieg entkommen
Annette Hug liest erneut Samar Yazbek

Nur wenige Bücher sind so stark, dass sie die Zeit aussetzen. Sie sind gegen die Logik der Ereignisse geschrieben und öffnen einen Weg aus dem Unerträglichen. Zum Beispiel aus einem Krieg, der nicht endet.
Die Kriegslogik leitet den Blick auf Anzeichen von Sieg und Niederlage, auf Rangabzeichen und Arsenale, sie verformt die Sprache zum Kampfmittel. Den Tod drückt sie in Zahlen aus, die sich addieren lassen. Ein einzelner, gefallener Soldat wird darin unkenntlich.
Als ich den Roman «Wo der Wind wohnt» von Samar Yazbek zum ersten Mal las, schien der Terror in Syrien nicht zu enden, Baschar al-Assad regierte. Das war vor einem halben Jahr, der Roman erschien in der deutschen Übersetzung von Larissa Bender. Dann stürzten Anfang Dezember 2024 Milizionäre der Bewegung Haiat Tahrir al-Scham das Assad-Regime. Ob der Aufbau eines besseren Staates gelingt, bleibt ungewiss.
In Yazbeks Roman liegt ein Mann in einem Granatenkrater. Er kann sich kaum bewegen, will aber zu einem Baum, den er sieht. Wahrscheinlich folgen wir den Erinnerungen und Halluzinationen eines Sterbenden. Aber der Roman beginnt wie eine Geburt: Ali realisiert überrascht, dass er noch am Leben ist. Wie als Kind scheint er vom Wind und vom Spiel des Lichts zu leben. Seine inneren Bilder entwickeln einen rauschhaften Sog hinein in eine Zeit, die sich immer weiterdreht. «Wo der Wind wohnt» ist die Geschichte eines Lebens, «das aus wenigen Metern besteht». Weil dieser eine Mensch, Ali, noch atmet, sind diese Meter aber auch die Welt.
In seinem alawitischen Dorf galt eine alte Frau als verrückt und doch kenntnisreich, diese Humairuna lebte unter einem alten Baum neben einem Heiligengrab. Mit ihr wurde Ali in einer Gegenwelt heimisch, in der die bewaffneten Scheichs und die Sprache der Lehrer nichts galten. Und mit ihr verteidigte er seine Mutter, die seinen Bruder noch einmal sehen wollte, das heisst, die zerfetzte Leiche eines Gefallenen. Die trauernden Frauen wurden angewiesen, mit Jubeltrillern dem Sarg zu folgen. Aber die Mutter verweigerte den Märtyrerkult und bestand auf ihrem Schmerz, sie drängte sich zum Sarg, den bewaffnete Männer für sich reklamierten.
Bestimmt werde ich diesen Roman noch ein drittes Mal lesen, wenn ich mehr weiss über die Bedeutung von Ali in der alawitischen Tradition. Für den Moment reichen mir Assoziationen, die den mystisch begabten Jungen und seine Bäume in Syrien mit heiligen Narren und «Humairunas» in Westafrika und islamisch-animistischen Grenzgebieten Südostasiens verbinden.
Im Dezember 2024 sagte Samar Yazbek gegenüber der Zeitung «L’Humanité», sie bereite sich auf die Rückkehr nach Syrien vor, warte aber noch ab. Seit 2012 lebt sie in Paris im Exil, ist aber mehrmals für Reportagen ins Kriegsgebiet zurückgekehrt. In mehreren Büchern hat sie Stimmen aus der syrischen Revolution übermittelt – die Vision eines Landes, das die konfessionellen Zuweisungen überwindet und eine eigene Demokratie aufbaut. Im März 2025 verübten in der Region um Latakia, in der Yazbeks Roman spielt, Bewaffnete ein Massaker an Alawit:innen. Im Roman weiss Ali nicht mehr, ob er überhaupt zu einer Gruppe gehört. Die Granate, die ihn verwundet hat, fiel aus einem Flugzeug der Truppen, die ihn zwangsverpflichtet hatten.
Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich. Sie empfiehlt von Samar Yazbek neben dem Roman «Wo der Wind wohnt» (2024) auch «Die gestohlene Revolution. Reise in mein zerstörtes Syrien» (2015), beide übersetzt von Larissa Bender.