Massaker in Syrien: Am seidenen Faden

Nr. 11 –

In der syrischen Küstenregion wurden Hunderte Zivilist:innen ermordet. Die jüngsten Gewaltexzesse zeigen, wie instabil das Land immer noch ist.

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Massenexekutionen, Leichen auf den Strassen zahlreicher Dörfer und Familien, die in ihren Häusern ermordet wurden: Es war der grösste Gewaltausbruch in Syrien seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember. Mehrere Hundert Zivilist:innen wurden in den vergangenen Tagen in der Küstenregion getötet, die Mehrheit von ihnen waren Alawit:innen. Zahlreiche Angehörige der religiösen Gemeinschaft flohen in die umliegenden Berge und harrten dort teils tagelang aus, ohne Wasser und Nahrung.

Der Gewaltausbruch begann am 6. März nahe der Küstenstadt Latakia, in einem mehrheitlich von Alawit:innen bewohnten Gebiet. Im Dorf Beit Ana überfielen bewaffnete Loyalisten des gestürzten Assad-Regimes unter dem Kommando hochrangiger Exgeneräle einen Konvoi der Sicherheitskräfte der syrischen Übergangsregierung und töteten Dutzende von ihnen. Die Assad-Loyalisten stürmten danach überall in der Küstenregion zahlreiche Checkpoints und Sicherheitsposten der neuen Regierung. Sie töteten mindestens 172 Sicherheitskräfte und mehr als 200 Zivilist:innen.

Zur Unterstützung der Regierungstruppen rückten darauf zahlreiche Milizen aus anderen Regionen Syriens an die Küste aus, darunter Kämpfer der von der Türkei kontrollierten Syrischen Nationalen Armee sowie ausländische radikale Dschihadisten. Manche der Gruppen verübten gezielte Massaker an der alawitischen Bevölkerung. Laut dem Syrischen Netzwerk für Menschenrechte töteten die Milizionäre mindestens 420 Zivilist:innen – die Dunkelziffer könnte weit höher sein.

Furcht vor Rache

Die Massaker an der Küste haben die schlimmsten Ängste der Alawit:innen bestätigt, der religiösen Gemeinschaft, der auch der ehemalige Diktator Baschar al-Assad angehört: dass die neue Regierung sie nicht vor Racheakten schützen kann. Dass Interimspräsident Ahmed al-Scharaa nicht in der Lage war, die Milizen unter Kontrolle zu halten, macht deutlich, wie brüchig die Sicherheitslage in Syrien weiterhin ist.

Will die Übergangsregierung zeigen, dass es ihr mit dem Vorhaben, einen Staat für alle Syrer:innen aufzubauen, ernst ist, wird sie nun alles daransetzen müssen, das Töten zu stoppen, die Verbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Dass Interimspräsident Ahmed al-Scharaa am Sonntag eine Ermittlungskommission mit sieben hochkarätigen Richter:innen ins Leben gerufen hat, um die Geschehnisse zu untersuchen, ist ein unerlässlicher erster Schritt. Manche der Kämpfer, die an den Massakern beteiligt waren, wurden offenbar bereits verhaftet.

Wie angespannt die Stimmung im Land nach den Gewaltexzessen ist, zeigt ein Ereignis in Damaskus: Dort stürmten am Wochenende Jugendliche eine Demonstration, bei der der zivilen Opfer der Massaker sowie der getöteten Sicherheitskräfte gedacht wurde. Offenbar hatten die Randalierer den Eindruck, dass die Kundgebung zur Unterstützung der Assad-Loyalisten abgehalten wurde – ein Hinweis darauf, wie komplex die Situation in der Gesellschaft nach vierzehn Jahren Krieg ist. Die gesamte syrische Bevölkerung hat in dieser Zeit ein unermessliches Ausmass an Gewalt erfahren, wobei von den Hunderttausenden von Menschen, die in jenen Jahren getötet wurden, die allermeisten Opfer des Assad-Regimes sind – ganz zu schweigen von den fünfzig Jahren Repression unter der Diktatur der Assad-Familie vor dem Krieg.

Immerhin ein Lichtblick

Die jüngste Eskalation macht daher auch die Dringlichkeit eines nationalen Aufarbeitungsprozesses deutlich. Für eine Versöhnung der syrischen Gesellschaft ist die Aufklärung aller geschehenen Verbrechen der erste Schritt. Aber auch hier zeigen sich Schwierigkeiten, werden doch auch der islamistischen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), deren Vorläufer Nusra-Front 2012 von Ahmed al-Scharaa gegründet wurde und die von ihm angeführt wird, Kriegsverbrechen vorgeworfen.

Hinzu kommt: Selbst wenn es den Assad-Loyalisten nicht gelungen ist, die Gebiete von den Sicherheitskräften der Übergangsregierung zu erobern und zu halten, so sind sie doch in der Lage, Chaos und Unruhe zu stiften. Am Montagmorgen wurde ein Checkpoint in Damaskus angegriffen – was die Angst schürt, dass es auch in anderen Gebieten zu Attacken kommen könnte. Im schlimmsten Fall droht ein ähnliches Szenario wie im Irak, wo über Jahre hinweg täglich Autobomben überall im Land explodierten. Jede Verschlechterung der Sicherheitslage ist fatal für die Stabilität Syriens, das noch immer von internationalen Sanktionen eingeschnürt und wirtschaftlich am Boden ist.

In den vergangenen Tagen gab es aber zumindest einen Lichtblick: Die von der kurdischen YPG-Miliz angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) haben sich offenbar mit der Übergangsregierung auf ein Abkommen geeinigt. Dieses sieht unter anderem vor, die SDF in die syrische Armee zu integrieren – auch wenn die Details dazu noch nicht klar sind. Am Dienstag wurde zudem bekannt, dass sich auch drusische Milizen in der südlichen Provinz Suweida zu ihrer Eingliederung in die Armee bereit erklärt haben.

Für die Stabilität Syriens sind dies gute Nachrichten. Denn für einen Wiederaufbau des Landes, wirtschaftliche Erholung und den Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat ist ein Ende der bewaffneten Konflikte wichtigste Voraussetzung.