Der «Amerikanische Krieg»: Nur das US-Trauma zählt

Nr. 17 –

Mehr als ein Stellvertreterkonflikt: Der koloniale Blick prägt auch fünfzig Jahre nach dem Ende des Vietnamkrieges dessen Wahrnehmung.

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Soldaten der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams auf einem Panzer am 30. April 1975 in Saigon
Das Ende nach zwanzig Jahren Krieg: Soldaten der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams am 30. April 1975 in Saigon. Foto: Imago

Mit dem Einmarsch der nordvietnamesischen Armee in Saigon am 30. April 1975 endete der zwanzigjährige Krieg, der in Vietnam als «Amerikanischer Krieg» und im Rest der Welt als «Vietnamkrieg» bezeichnet wird. Bereits während der Kampfhandlungen war der Krieg auch zu einem Konflikt der Narrative über die Rechtmässigkeit der US-Intervention in Vietnam geworden. Den amerikanischen Medien war, wie schon während des Zweiten Weltkriegs, Zugang zum Kriegsgebiet gewährt worden. Sie sollten die US-Perspektive unter die Leute bringen.

Doch die Berichte und Fotos, die in Vietnam entstanden, etwa Nick Úts berühmtes Foto des bei einem Angriff mit Napalm schwer verletzten Mädchens Phan Thi Kim Phúc, zeugten nicht nur vom Versagen, sondern auch von Verbrechen der eigenen Armee. Das Trauma produzierte lange nach Kriegsende noch popkulturelle Ikonen wie etwa Francis Ford Coppolas «Apocalypse Now» (1979) oder Ken Burns’ und Lynn Novicks epische Dokuserie «The Vietnam War» (2017).

Auch wegen der Masse der medialen Produktion bestimmt fünfzig Jahre nach dem Ende des Krieges immer noch der Blick der Verlierer das Narrativ über diesen. Es geht oft um die Frage, wie die Weltmacht ihn verlieren konnte, wann sie den Rückhalt der eigenen Bevölkerung verloren hat, wie er die amerikanische Psyche beeinflusst hat.

Vietnamesische Perspektiven fanden lange kaum Beachtung, und wenn, dann meist erzählt aus der Perspektive Dritter. Erst Jahrzehnte später fanden Stimmen Eingang in die westliche Rezeption, etwa Le Ly Hayslips «Zwischen Himmel und Hölle» (1991) oder Viet Thanh Nguyens mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Roman «Der Sympathisant» (2015).

Letzterer beschäftigte sich auch mit dem vornehmlich amerikanisch dominierten Blick, der oft von reduktionistischen Narrativen geprägt ist und wenig Raum für komplexere globalgeschichtliche Verflechtungen lässt: Der Krieg in Vietnam hatte lange vor der US-Intervention begonnen, und er war mehr als nur ein Stellvertreterkrieg.

Vergeblich gewaltfrei

«Ich weigere mich zu glauben, dass eine viertklassige Macht wie Nordvietnam nicht an irgendeinem Punkt aufgeben muss», sagte Henry Kissinger 1969 kurz nach seinem Amtsantritt als Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon. Die Wahrnehmung des Krieges als Kampf zwischen Weltmacht und Bauernvolk ist bis heute Teil des Mythos, obwohl das verkürzt ist: Vietnam mag Mitte des 20.­ Jahrhunderts bäuerlich geprägt gewesen sein, doch seine intellektuelle und militärische Geschichte reichte Jahrtausende zurück. Der Kampf gegen fremde Invasoren, darunter militärisch überlegene Mächte wie das Mongolische Reich und China, war längst Teil des Volksethos.

Das grössere Missverständnis aber war die amerikanische Einschätzung des vietnamesischen Verhältnisses zu Nationalismus und kommunistischer Ideologie. Hô Chí Minhs Politik liesse sich durchaus als pragmatisch nationalistisch bezeichnen. Die vietnamesische Unabhängigkeitserklärung von 1949 ist deutlich von der einstigen Unabhängigkeitserklärung der USA inspiriert. Zentral ist darin auch die Forderung nach individueller Freiheit.

Der moderne Kampf für die Selbstbestimmung Vietnams begann mit der französischen Kolonisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Als Hô Chí Minh sich noch als Jugendlicher 1908 Aufständen gegen Frankreich anschloss, hatte dieses bereits Generationen von Befreiungsbewegungen gewaltsam niedergeschlagen.

In Vietnam überlagerten sich in der Folge mehrere Konflikte. Der Kalte Krieg fiel in die Zeit der grossen Dekolonisierungswellen – die meisten Länder auf dem asiatischen und dem afrikanischen Kontinent wurden in den fünfziger bis siebziger Jahren oft nach blutigen Auseinandersetzungen unabhängig. In Europa und Nordamerika war weisser Suprematismus derweil noch selbstverständlich. Demokratische Rechte galten nur für weisse Männer. Während in den Schulen des französischen Kolonialregimes in Vietnam der vermeintlich universelle Wert von Freiheit und Gleichheit gelehrt wurde, herrschte im kolonialen Alltag rassistische Unterdrückung.

Hô Chí Minh, nach der Teilnahme an den Aufständen in seiner Heimat vom französischen Regime sanktioniert, lebte zeitweilig in Frankreich, Russland und den USA, wo er sich mit diversen politischen Theorien auseinandersetzte. 1919 plädierte er in einem Appell an die Delegierten der Pariser Friedenskonferenz für die Selbstbestimmung der Vietnames:innen. Er verwies dabei sowohl auf die von Kommunist:innen propagierte Gleichheit aller Völker als auch auf «westliche», individuelle Rechte. Ein Jahr später gründete er die kommunistische Partei in Frankreich mit, zeitweilig war Hô Chí Minh ausserdem Mitglied der Französischen Liga für Menschenrechte. 1945 war er Spion für die CIA, und 1949 erbat er in einem Brief an US-Präsident Harry Truman Unterstützung im Kampf für die vietnamesische Selbstbestimmung. Es passierte, was fast immer passiert: Die diplomatischen Bemühungen und der gewaltlose Widerstand wurden von den Mächtigen nicht erhört.

Die Vereinigten Staaten hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits für eine andere Richtung entschieden – möglicherweise auch geblendet von der Angst vor der Ausbreitung des Kommunismus, noch beeinflusst vom eigenen weissen Suprematismus und dem Glauben, dass kommunistische und «westliche» Werte unvereinbar seien.

Die US-Führung unterstützte schon ab 1945 die Wiederherstellung des französischen Kolonialregimes und entschied sich damit für die westliche, die weisse und koloniale Vorherrschaft statt für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.

Als Frankreich 1945 nach der japanischen Besatzung seine Fremdenlegion, in der auch deutsche Nazikriegsverbrecher dienten, zur Wiedereroberung seiner lukrativsten Kolonie entsandte, stellten die USA Militärhilfe; bis zur endgültigen Niederlage der Franzosen bei Điên Biên Phu 1954 trugen sie etwa achtzig Prozent der französischen Kriegskosten. Vielleicht gehörte der Verrat an den selbst proklamierten Werten von Freiheit und Gleichheit, der oft nur als Randnotiz erzählt wird, zu den wirklich grossen Fehlkalkulationen des Krieges. Aus Angst vor der Ausbreitung des Kommunismus in Südostasien haben die Amerikaner den Kolonialismus gestützt – und damit den Kommunist:innen das Feld der Dekolonisierung überlassen.

Kaum Konsequenzen

1954 teilte die Indochinakonferenz, die in Genf stattfand, Vietnam in Norden und Süden. Im Süden stützten die USA Ngô Đình Diêm, einen autoritären Despoten, der gewaltsam gegen die eigene Bevölkerung vorging. Demokratische Wahlen in beiden Teilen, die 1956 hätten stattfinden sollen und potenziell zu einer Wiedervereinigung geführt hätten, liess Diêm mit Unterstützung der USA verbieten. Viele Historiker:innen gehen davon aus, dass eine Mehrheit bei diesen Wahlen eine Wiedervereinigung Vietnams als Republik – und damit mit Hô Chí Minh als Staatsoberhaupt – befürwortet hätte.

Der unbedingte Glaube an die Überlegenheit des eigenen Systems, die Verhinderung der Ausbreitung des Kommunismus unter allen Umständen: Trotz all dem wird der Diskurs um eine mögliche ideologische Verblendung des Westens selbst retrospektiv noch vernachlässigt. Obwohl die Tonkin-Resolution von 1964, eine Art Carte blanche für den aktiven militärischen Vormarsch der amerikanischen Truppen, auf einer Lüge beruhte, wie sieben Jahre später die Pentagon Papers zeigten, blieb Ideologie in der amerikanischen Erzählung immer der Makel der anderen Seite. 1973, nachdem der öffentliche Druck in den USA zu gross geworden war, zogen die USA ab; zwei Jahre später endete der Krieg mit der Kapitulation der südvietnamesischen Führung.

Für die Kriegsverbrechen, die in jener Zeit vor den Augen der Öffentlichkeit begangen wurden, wurde fast niemand zur Rechenschaft gezogen. Der Offizier, der Kriegsverbrechen gegen über 500 Zivilist:innen in My Lai mitverantwortete, wurde drei Tage nach seiner Verurteilung vom US-Präsidenten begnadigt. Selbst der Einsatz des chemischen Giftstoffs Agent Orange hatte kaum Konsequenzen. Mit 180 Millionen US-Dollar entschädigt wurden 1984 lediglich die US-Piloten, die das Gift in Vietnam abgeworfen hatten.

Bomber und Versöhnung

In Vietnam wird das Gedenken an den Krieg bis heute von der kommunistischen Partei diktiert. In ihrer Erzählung ist der «Amerikanische Krieg» die Fortschreibung eines anhaltenden Kampfs gegen den westlichen Imperialismus, der mit einem Sieg für die Revolutionäre endete. Hô Chí Minh starb bereits 1969 und wurde, obwohl er sich vor seinem Tod ausdrücklich dagegen ausgesprochen hatte, einbalsamiert und öffentlich ausgestellt. Die politische Führung perpetuiert so die amerikanische Erzählung, wonach Hô Chí Minh ein kommunistischer Ideologe gewesen sei. Dabei ist fraglich, ob er den Personenkult und die Entwicklung der Partei gutgeheissen hätte. Sein Weggefährte Võ Nguyên Giáp, General der Schlacht bei Điên Biên Phu, kritisierte die Entwicklung der Partei bis zu seinem Tod.

Noch während des Krieges hat die politische Führung Künstler:innen engagiert, um Held:innenbilder und Propagandaposter zu produzieren. Sie zeigen entschlossene Widerstandskämpfer:innen, die sich für das Volk und für den Kampf für Freiheit und Frieden gegen eine imperialistische Übermacht aufopfern. Dass im globalen Kontext US-Deutungsmuster dominieren, ist vielleicht nicht zuletzt auch dieser vereinfachenden, bisweilen repressiven Linie der vietnamesischen Führung geschuldet. Das bekannteste vietnamesische Werk über den Krieg, «Die Leiden des Krieges» (1991) von Bao Ninh, war bis 2006 in Vietnam verboten. Das Buch erzählt vom individuellen Leid vietnamesischer Zivilisten und Soldatinnen. Davon, dass es in diesem Krieg keine Gewinner:innen gab. Lange wich das zu sehr von der Siegeserzählung der Kommunistischen Partei ab.

Im vergangenen Dezember empfing Vietnam zu seiner ersten internationalen Waffenmesse unter dem Motto «Frieden und Zusammenarbeit». Aus einem Bomber winkte ein amerikanischer Soldat, uniformierte vietnamesische Veteranen posierten zwischendurch vor dem Flugzeug. Fünfzig Jahre nach dem Krieg erzählt das eine Geschichte der Versöhnung – und überzeichnet damit vielleicht die vielen anderen Geschichten, die noch erzählt werden müssten.