Graffiti: Über Nacht eine andere Stadt

Nr. 27 –

Wo Sprayer:innen nachts aktiv waren, rückt in den Morgenstunden die Graffitireinigung der Stadt Zürich an – und schafft wieder freie Flächen. Einblick in einen sich selbst erhaltenden Kreislauf.

ein Arbeiter auf einer Hebebühne bei der Entfernung eines Graffitis mit dem Hochdruckreiniger
Aufs Sprayen folgt das Sprühen: Entfernung eines Graffitis mit dem Hochdruckreiniger.
Diesen Artikel hören (21:10)
-15
+15
-15
/
+15

An einem Donnerstagvormittag erscheint eine Nachricht von Vincent auf meinem Bildschirm.

wie geht’s?? heute nacht machen wir die mission

Am selben Tag drängen sich spätabends junge Menschen in einer Zürcher Bar um eine kleine Bühne. Eine Band spielt, dumpf dringt der Bass nach draussen. Gerade hat Vincent seine Schicht beendet, zündet sich eine Zigarette an und pustet den Rauch mit langem Atem in den Nachthimmel über dem Kreis 5. Ob er nervös sei, frage ich ihn. «Vielleicht ganz kurz vorher», er blickt auf die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, «aber wenn ich an der Wand stehe, fällt alles ab. Dann fühle ich mich lebendig.»

Eine Stunde später schwingt Vincent einen grossen schwarzen Wanderrucksack auf seinen Rücken, satt klackert träges Aluminium. Ich hebe die Tasche testweise an. Sie ist schwer. «Ich bau einen Gruss an dich ein heute Nacht», sagt er und grinst. Ich schlage in seine ausgestreckte Hand ein und denke, er scherzt. Dann verschwindet er in die Dunkelheit.

Das Spiel

Als die Tramlinie 4 die Linkskurve Richtung Schiffbau nimmt, findet mein Blick sechs Wörter: «Not now, I am stressed already». Auf einer zusammengeschraubten Schaumstoffwand, die ein Baustellenareal vom Escher-Wyss-Platz abschirmt, hat jemand den Schriftzug in schwarzen Grossbuchstaben aufgemalt. Die Worte sind über die Monate zu guten Bekannten geworden, zu einem Ankerpunkt auf meinem Weg. Wer auch immer seinem Gemütszustand inmitten dieses Betonskulpturenparks in Zürichs Westen Ausdruck verliehen hat, blickt mich durch die schiefe Buchstabenreihe an. Wir sind Kompliz:innen unbekannterweise. Wird der Schriftzug irgendwann entfernt, wird es sein, als zöge ein guter Freund plötzlich weg.

«Graffiti werden schnell und konsequent entfernt, um den Nachahmungseffekt zu verhindern», so schreibt die Fachstelle Graffiti der Stadt Zürich in ihrem Konzeptpapier. Zumindest gilt das für Graffitis an stadteigenen Bauten. Doch wenn eine Wand in ihren Ausgangszustand zurückversetzt, gereinigt oder gestrichen wird, ist das keine Garantie, dass dort nicht wieder gesprayt wird: Jede frische Mauer ist eine potenzielle Leinwand für neues Graffiti. Es sind zwei Vorstellungen von Stadtgestaltung, die aufeinanderprallen, ein fortwährendes Tauziehen zwischen Sprayer:innen und der Stadt. Eine Choreografie, bei der ein Part mit geübtem Versteckspiel und überlegter Sichtbarmachung trumpft und der andere Part nur reagieren kann. Die Spuren dieses Katz-und-Maus-Spiels wabern über Wände und Dächer, ohne Anfang, ohne Ende, aufrechterhalten von Maus genauso wie von Katz.

Vincent lerne ich über ein paar Ecken kennen. Er ist Mitte zwanzig, hat studiert, arbeitet jetzt in der Gastronomie. Und nachts, nach Feierabend, geht er ab und zu sprayen. Malen, wie er sagt. Auf Wände, auf Dächer, auf Züge. Und: Vincent heisst eigentlich gar nicht Vincent.

In einem Café am Zürcher Central zieht Vincent aus der Tasche seiner Regenjacke ein Handy, sucht ein Foto und hält mir das Display hin. Eine halbhohe Mauer mit drei gesprayten Buchstaben. «Bei dem hat uns jemand verraten», sagt er und zieht die Augenbrau­en hoch. Beim Sprayen, mitten in der Nacht, sei auf einmal ein Passant aufgetaucht. «Ich habe den gefragt, ob es okay für ihn ist, dass wir malen.» Der Passant habe gesagt, ja, alles okay, er wolle nur zusehen. Ein paar Momente später sei dann die Polizei da gewesen: Handschellen, Anhörung, Geldstrafe. ­«Eigentlich habe ich sonst keine Bilder von meinen Sachen mehr hier drauf», sagt Vincent und schiebt das Handy wieder in seine Jackentasche, «ich drucke die, hefte sie in einen Ordner und lösche alles vom Handy.» Vincent erzählt viel. Erstaunlich viel. Mit fast kindlicher Begeisterung verfällt er von selbst in die nächsten Anekdoten, gestikuliert mit beiden Händen.

Hauswand mit Graffiti
Jede Fassade eine Leinwand: Nachts werden Tags und Bilder gemalt, die tags darauf schon wieder verschwinden.
die gleiche Hauswand wo das Graffiti entfernt wurde

Entlang der Limmat entfernen wir uns aus der Innenstadt. Vincent deutet auf dem Weg nach links und rechts: «So gehe ich durch die Stadt», sagt er, «ich gucke immer: Wer war hier? Das ist wie ein Gratisoutdoormuseum.» Er zeigt auf einen filigranen, kalligrafisch anmutenden Tag – eine persönliche Markierung – auf der Brücke, an der wir vorbeilaufen: «Das hier ist ein Kollege von mir.» Vor einem schwarzen Müllcontainer bleiben wir stehen. «Wie bei …», Vincent überlegt, «… Hänsel und Gretel.» Er deutet auf einen weissen Tag auf dem Container, drei Grossbuchstaben. «Meine Spuren sind in der ganzen Stadt verteilt. Manchmal habe ich selbst schon vergessen, wo ich überall gemalt habe.»

Nach zwanzig Minuten erreichen wir das Flussbad Oberer Letten. Parallel zur Limmat verläuft hier eine etwa zwei Meter hohe Mauer. Davor sitzen auf niedrigen Holzpodesten junge Männer in Adidas-Sporthosen, Hip-Hop tönt aus einem Bluetooth-Lautsprecher, darunter mischt sich das leise Zischen von Spraydosen. Es riecht nach Lack. Die Mauer ist eine von fünf legalen Graffitiflächen in der Stadt. Vincent kommt hier nur hin, um in Ruhe Technik zu üben.

Legale Flächen erziehen illegale Sprayer:innen nicht zu legalen Sprayer:innen. Obwohl sich die Stadt Graffitis genau so wünscht: nur auf legalen Flächen oder als Auftragsarbeit an grossen Fassaden. Es ist die Art von Graffiti, von der viele sagen: «Also wenn sich jemand richtig Mühe gibt, dann ist ein Graffiti ja auch schön.» Im besten Fall sieht es nett aus, ist bunt, lässt sich entschlüsseln. Gezähmtes Graffiti. Oder schon Street-Art. Vielleicht ein grosser Hund mit heraushängender Zunge, wie in der Hardturmstrasse, über den ein Onlinemagazin titelte: «Dieser Hund peppt Zürich West auf». Vincent sagt: «Fuck Street-Art.» Illegal wird das Graffiti gemalt, das nicht gefallen will. Das von der Suche nach schwer erreichbaren Spots, von Adrenalin, von der Lust an Grenzüberschreitung lebt. Das von der Szene für die Szene gemacht ist, ein Netz aus Referenzen über die Stadt spinnt. «Graffiti ist Rebellion», sagt Vincent.

Das Graffiti, vor dem Vincent und ich jetzt stehen, sticht besonders hervor. Auf dunkelgrünem Untergrund stehen die Buchstaben F, A, i, B – das B könnte auch ein R sein – in Hellgelb und Rosa. Die Buchstaben sind mit dunkleren Schattierungen in die Dreidimensionalität gezogen. Dünne, weisse, sauber konturierte Linien an der Innenseite der Ränder erzeugen den Eindruck von Lichtreflexen. Sie lassen vermuten, hier habe jemand mit einer Schablone gearbeitet. «Nein», widerspricht Vincent und tritt näher an die Wand, «wenn man richtig gut ist, kann man das auch so.» Er reckt seinen Kopf vor, bis er nur noch wenige Zentimeter von der Wand entfernt ist, ich tue es ihm gleich. Von hier können wir die Poren der Mauer sehen, die frische Farbe riecht, sie kann nicht älter sein als ein paar Stunden. «Waah, diese cleanen Lines …», Vincent kneift seine Augen zusammen, schüttelt den Kopf.

Dann bietet er mir an, bei seiner nächsten Aktion mitzukommen.

Das Büro

In meinem glänzenden Hochschulausweis spiegelt sich eine Deckenlampe. Ich schiebe die Karte wenige Zentimeter über einen grossen weissen Sitzungstisch. Draussen nieselt es.

Einmal habe er im Regen gemalt, hat Vincent mir erzählt. Noch am nächsten Morgen sei ihm blaue Farbe aus der Nase gelaufen.

«In Ordnung», sagt Christoph Rohner und schiebt meinen Ausweis zurück. Reine Vorsichtsmassnahme bei Interviewanfragen, wegen des Nahostkonflikts, sagt er. Ich sitze am Kopfende des Tischs, mir gegenüber ist auf dem grössten Bildschirm, den ich je gesehen habe, meine Interviewanfrage in einem Mailprogramm geöffnet. An der langen Tischseite links von mir sitzt Rohner, Abteilungsleiter Schulbauten der Stadt, Hemd, Brille, aufgeklappter Laptop. Zu meiner Rechten Valentina Pappone, ebenfalls vor einem aufgeklappten Laptop. Seit dem 1. Januar ist sie Graffitibeauftragte der Stadt Zürich. Ein Amt, das mit Verantwortung und nicht selten einer gewissen Lokalprominenz einhergeht. 2014 malten in Zürich drei Sprayer:innen auf einen SBB-Waggon: «Priska – Rastlose Liebe». Chromfarbe mit schwarzer Outline, also Umrandung, daneben pinke Herzen. Ein Gruss an die damalige Graffitibeauftragte der Stadt, Priska Rast.

Frage: Was zeichnet Zürich im Umgang mit Graffiti aus?

Christoph Rohner: Bezüglich legalen Graffitis: dass wir fünf Flächen zur Verfügung stellen, auf denen gesprayt werden darf. Dass wir Arbeiten in Auftrag geben. Wenn eine Wand sich eignet, ein schönes Graffiti zu machen, dann werden zum Beispiel drei Künstler eingeladen, die ein Sujet einreichen können, ein kleiner Wettbewerb. Das beste Sujet wird ausgewählt und aufgesprayt.

Frage: Wie empfinden Sie den Kreislauf von Graffitientfernung und neuem Graffiti?

Rohner: Wenn ein Graffiti lange bleibt und man es einer Person zuordnen kann, dann wäre das ein Erfolgserlebnis für den Sprayer oder die Sprayerin. Darum putzen wir es schnell wieder weg.

Frage: Glauben Sie, dass legale Flächen illegalem Graffiti entgegenwirken können?

Rohner: Für Personen, die mit dem Sprayen beginnen, ja. Für Personen, die den Kick des Verbotenen suchen, realistischerweise wohl eher nein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der sonst ein Silo hochklettert, nachher an eine offene Wand üben geht. Es ist eine Szene. Aber auf der anderen Seite auch Sachbeschädigung.

Frage: Welchen finanziellen Schaden bringt Graffiti der Stadt?

Rohner: Vieles, was ich so sehe, liegt zwischen 200 und 500 Franken. Relativ tiefe Beträge natürlich. Wenn jetzt jemand etwas Antisemitisches, Sexistisches oder Rassistisches sprüht und die Entfernung nur 80 Franken kostet, wollen wir uns aber nicht vorwerfen lassen, das zu tolerieren und es einfach nur zu überstreichen. So was würden wir auch zur Anzeige bringen. Summiert pro Jahr gibt Immobilien Stadt Zürich für Graffitischutz und -entfernung durchschnittlich über 200 000 Franken aus – nur im eigenen Portfolio. Die Gesamtkosten für die Graffitireinigung verteilen sich auf verschiedene Dienstabteilungen.

Frage: Viele Menschen möchten kein Graffiti in ihrer Umgebung sehen. Firmen allerdings können sich Werbefläche und damit Präsenz im Stadtbild erkaufen, obwohl auch hier nicht alle Menschen einverstanden sind. Wie sehen Sie das?

Rohner: Eine Firma darf auch nicht ein riesiges Plakat basteln und das irgendwo aufhängen. Von daher stimmt der Vergleich nicht ganz. Bei einer Werbefläche gibt es ein Reglement, man muss ein Gesuch einreichen und dafür zahlen.

Frage: Valentina Pappone, wie gehen Sie als Graffitibeauftragte durch die Stadt?

Pappone: Viel aufmerksamer. Gestern zum Beispiel war gerade das Fussballderby, FCZ gegen GC. Und da habe ich schon gewusst: Mich erwarten wieder viele Meldungen. Das Auge ist einfach etwas geschärft.

Frage: Haben Sie mit der Graffitifachstelle schon einmal einen Betriebsausflug an eine legale Wand gemacht?

Pappone: Da die Graffitifachstelle nur aus einer Person, also aus mir besteht, erübrigt sich der Betriebsausflug. Aber die legalen Flächen in der Stadt kenne ich selbstverständlich.

Die Mission

ah heute schon! Ich komme zur bar und dann schauen wir, ob es gut ist für mich mitzukommen okay?

Das antworte ich Vincent an dem Abend, als er mich einlädt, ihn und seinen Kollegen zu begleiten. Ein kostbares Angebot: Die meisten Sprayer:innen sind natürlich vorsichtig. Mit Unbekannten sprechen sie nicht über ihr Hobby und lassen sie schon gar nicht dabei sein. Vincent ist da anders. Er trägt so viel Begeisterung in sich, dass sie manchmal sein Risikobewusstsein übersteigt, so scheint es mir.

Vor der Bar zieht er aus seinem Wanderrucksack Spraydosen halb heraus, dreht sie so, dass ich das Label sehen kann. Pink, Schwarz, Weiss. Unter den Dosen steckt zusammengeknüllt sein Tarnoutfit, eine SBB-Weste, die er auf Ricardo gekauft hat. Vincent ist hibbelig. Wochenlang habe er an einer neuen Font, einer neuen Schriftart, gearbeitet. Heute Morgen sei sie ihm endlich gelungen.

Hauswand mit Graffiti
die gleiche Hauswand wo das Graffiti entfernt wurde

Nachdenklich drücke ich meinen Plastikbecher zusammen. Genau diesen Moment habe ich mir gewünscht. Aber: Ich zögere. Vielleicht auch aus Angst, wir könnten erwischt werden. Vor allem ist Vincent aber, so offen er mir gegenüber auch ist, praktisch ein Unbekannter. Vincents Kollege erst recht. Es ist schon jetzt stockdunkel – und erst in den frühen Morgenstunden geht es los. Die Mauer an einer Bahnstrecke, die sich Vincent als Spot ausgesucht hat, ist weit von meiner Wohnung entfernt.

Meine Bedenken gewinnen.

Vincent versteht meine Entscheidung und verschwindet kurzerhand hinter der Bar, um mit seinem Freund zu telefonieren. Als er zurückkommt, sagt er grinsend: «Okay, jetzt, wo du nicht mitkommst, machen wir ein Dach.»

Der Graffiti-Service

Um 1.20 Uhr hält ein weisser Van der städtischen Verkehrsbetriebe am Rand der Bullingerstrasse. «Ihr habt jetzt bis 4 Uhr Zeit», sagt der Fahrer durch das heruntergelassene Fenster und fährt langsam wieder an. Marco Ciro, seitlich kurz geschorene Haare, Tattoos und mehrere Ringe an den Fingern, greift nach einem Stapel rot-weiss gestreifter Pylonen. «Oberleitung ist abgestellt, kann losgehen.»

Ciro ist Maschinenführer beim Zürcher Reinigungsunternehmen Franz Pfister. Ich treffe ihn und seine zwei Kollegen um ein Uhr morgens in Aussersihl, 300 Meter vom Letzigrundstadion entfernt. Um uns herum wuchten sich die Hochhäuser der Hardausiedlung in den Nachthimmel, es ist still. Über die Bullingerstrasse führt hier eine breite Betonüberführung. «Ich habe schon sehr schöne Graffitis wegmachen müssen», sagt Ciro und hebt die Plane am Transporter mit dem Aufdruck «Graffiti-Service» hoch. Zum Vorschein kommt eine Hochdruckreinigungsmaschine. «Aber dieses hier ist nicht schön.»

Er deutet an die Brüstung der Überführung, auf der in etwa sechs Metern Höhe drei dicke Buchstaben prangen: ein F, ein C, ein Z, weiss mit blauer Outline. Die hellen Buchstaben leuchten in der Dunkelheit. Ein zaghaftes, blaues «Züri!» links daneben ergänzt das Bild. Marco Ciro erzählt, dass er selbst früher gemalt habe. «Aber immer nur da, wo es erlaubt war.»

Aus dem Transporter zieht Ciros Kollege einen schwarzen Gummischlauch quer über das breite Trottoir und schraubt ihn an einem Hydranten fest. Weil die Busoberleitung direkt unter dem Graffiti hindurchführt, wird nachts gereinigt, nachdem der letzte Bus gefahren und der Strom abgestellt ist. Den Reinigungsauftrag der Stadt erledigt das dreiköpfige Team in der Gewissheit, dass die geputzte Fläche schon am nächsten Tag wieder bemalt sein könnte. «Das ist gemein, ja», sagt Ciro, während er sich eine gelbe Arbeitsjacke anlegt und Schutzkopfhörer aufsetzt, «manchmal würde ich gerne die Leute, die so was malen, unsere Arbeit machen lassen, aber ohne Schutzkleidung.» Er lacht. «Dann machen die das sicher nicht mehr freiwillig.»

FCZ-Graffiti bei den Hardau-Hochhäusern
Achtung, Fahrleitung! Um diesen Schriftzug zu entfernen, brauchte die Putzequipe zwei Nächte.
die Putzequipe entfernt nachts das FCZ-Graffiti bei den Hardau-Hochhäusern
das FCZ-Graffiti bei den Hardau-Hochhäusern nach der ersten nächtlichen Reinigung
das FCZ-Graffiti bei den Hardau-Hochhäusern ist nach der zweiten nächtlichen Reinigung vollständig entfernt

Ciro und sein Kollege klinken sich mit Karabinerhaken auf der Plattform der Hebebühne ein, die Hydraulik fährt sie langsam in die Höhe, bis sie «Züri!» gegenüberstehen. Grelles Flutlicht zeichnet ihre Schatten riesig auf dem Hochhaus ab. Ciro zielt mit der Lanzette auf das kleine, blaue Z, Wassertropfen, Sandkörner und Farbpartikel spritzen im Licht empor und sammeln sich in sandigen Rinnsalen am Rand der Strasse.

2.30 Uhr, Zigarettenpause. Ciro setzt seine Schutzkopfhörer ab, leise Musik tönt heraus. Er legt den Kopf in den Nacken. Wo zuvor noch «Züri!» stand, ist jetzt eine blasse, viereckige Fläche. Bald werden auch die restlichen Buchstaben mit Wasser und Sand im Abfluss verschwinden. «Graffiti ist schon eindrücklich», sagt Marco Ciro, «aber es ist auch schön zum Wegmachen. Das ist meine Arbeit.»

Ein gesprayter Gruss

Am Tag nachdem ich Vincent vor der Bar in seine nächtliche Aktion verabschiedet habe, schaue ich immer wieder auf mein Handy. Ich frage mich, ob alles gut gegangen ist. Ob sie erwischt worden sind.

wir haben nur ein paar fotos gemacht, die sonne war zu hell

Um 15 Uhr erreichen mich gleich vier Nachrichten, drei davon Fotos. Foto 1: Die Sonne erhellt ein graues Blechdach, auf dem drei Grossbuchstaben in Weiss und Schwarz einen pinken Untergrund zieren. Die gleichen wie auf dem Müllcontainer von neulich. Outline schwarz, second Outline gelb. Links und rechts drei schwarze Tags. Foto 2: andere Perspektive. Mehr Weitsicht. Die Stadt im Sonnenaufgang im Hintergrund. Foto 3: eine Nahansicht des Tags oben rechts, mit der Kamera hereingezoomt. Und wirklich: ein Gruss an mich. Da steht eine Buchstabenfolge, die Vincent und ich uns bei unserem ersten Treffen zusammengesponnen haben. Mein Fantasietag sozusagen. Ich muss lachen. Das ist jetzt mein kleines Geheimnis, meine Spur im Stadtbild. Und nur die, die davon wissen, wissen davon.

Die Aushandlung

«Das ist genau dieses Ding», sagt Ilaria Hoppe und lacht herzlich, als ich ihr vom Tag auf dem Dach erzähle. «Es geht da auch um einen Prozess der Aneignung. Sich seine Teilhabe zu erstreiten.» Hoppe ist Professorin für Kunstgeschichte an der Katholischen Privat-Universität Linz. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte: Graffiti. Wir sind zum Onlinegespräch verabredet, Hoppe blickt mich von meinem Bildschirm freundlich an, hinter ihr eine rote Magnetwand und ein grosses Bücherregal. Sie gebe oft Interviews, erzählt sie.

«Ästhetische Urteile sind historisch verfasst. Die Moderne feiert die weisse Wand und spricht sich gegen Ornamente aus», erklärt Hoppe. «Diese ästhetische Hegemonie ist stark von einem Hygienediskurs begleitet: Alles, was die weisse Wand stört, wird als dreckig empfunden, dazu gehören Graffitis von Anfang an dazu. Politisch knüpfen da andere Felder an: Es soll alles entfernt werden, was nicht einer Norm entspricht. Auch Obdachlosigkeit, Prostitution, Drogenkonsum.»

Regelmässig bietet Hoppe Stadtführungen an, die den Blick auf den öffentlichen Raum und auf Formen urbaner Kreativität verändern sollen. Sie freut sich, wenn Teilnehmende ihr rückmelden, sie sähen die Stadt danach mit anderen Augen. «Wenn man Tags und Writings erklärt, können Menschen eine höhere Toleranzgrenze entfalten. Nie werden alle Graffitis toll finden. Aber das soll vielleicht auch nicht so sein. Wir haben diese Friktion, die Auseinandersetzung, die Aushandlung. Dafür ist der öffentliche Raum da, zumindest in einer demokratischen Gesellschaft.»

Wie wird es weitergehen im Graffitikreislauf? «Die Städte könnten sich dazu entschliessen, nicht mehr zu reinigen. Das wäre meine Empfehlung. Graffitis, das sind auch Ritzungen in Bäumen oder Felsen. Ein riesiger Forschungsbereich. Es zeigt sich, dass es in allen Epochen ein globales Phänomen ist. Es scheint irgendwie zum Menschen dazuzugehören.»

Hoppes Worte erinnern mich an ein Telefonat mit einem anonymen Sprayer vor ein paar Tagen. Er sagte etwas, das mich berührte: «Wenn ich in eine Stadt komme und dort Graffitis sehe, dann heisst das für mich, dass hier Leute leben und Spass haben. Auf einer künstlerischen Ebene und auf einer ‹Wir bleiben wach bis drei Uhr nachts›-Ebene.» Wo Graffitis sind, waren Menschen. Vielleicht ist es ja nur menschlich, eine Spur hinterlassen zu wollen.