Licht im Tunnel: Unter Strom

Nr. 27 –

Michelle Steinbeck über drohende Verkuhzaunung der Hirne

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Die jungen Rinder stehen abends im Halbkreis um den Wassertrog und brüllen im Chor. Als sie mich lachen hören, kommen sie angaloppiert, bis das erste einen Luftsprung macht und erschrocken zurückrennt. Kennenlernen des Konzepts Elektrozaun.

Durch einen Weidezaun, so lerne ich kurz darauf, fliesst viel schwächerer Strom als in einem Menschenhaushalt. Es sollte, wer an der Steckdose einen Schlag erhält, sich ärztlich abchecken lassen. Dies lese ich, nachdem mir beim Ausstecken eines Netzteils dasselbe passiert ist wie dem Teenierind. Aber anstatt wegzurennen und mich in Zukunft weise von elektrischen Geräten fernzuhalten, nehme ich ein solches in die kribbelnde Hand, auf der sich schon eine leichte Verbrennung abzeichnet, und frage Dr. Google, was ich machen soll. Der gibt mir eine Nummer, auf die ich klicke, worauf ich das Gerät ans Ohr halte und hineinsage, was passiert ist. «Ui», sagt die Stimme im Telefon, «kommen Sie gleich vorbei.»

In der Notaufnahme wird mir von verschiedenen Dr. Menschen erklärt: «Wir sind ja auch einfach Strom, unser Herz, unser Hirn, alles Strom», und sie schliessen mich an verschiedene Geräte an, die mit Strom laufen, und messen unsere Ströme. Weil der Computer keinen Code für Stromschlag anzeigt, geben sie erst mal den für Blitzschlag in meine elektronische Akte ein, wie es die künstliche Intelligenz beharrlich vorschlägt.

Dabei fällt mir ein, wie ich kürzlich gelesen habe, dass der Strombedarf durch die Nutzung von KI so gestiegen ist und weiter steigt, dass es für die Bewirtschaftung von deren Rechencentern in der Schweiz bald ein eigenes AKW braucht. Ausserdem gibt es eine Studie, bei der Hirnströme gemessen wurden von Menschen, die fürs Schreiben von Essays Chat GPT benutzen. Im Vergleich zu denen, die laut «New Yorker» ihr eigenes Hirn benutzten, ist die Hirnaktivität von KI-Nutzenden viel geringer (Schwachstrom aka Kuhzaunhirn). Ihre Ströme sind wie einbetonierte Flussläufe: Es ergeben sich weniger Verbindungen zwischen den verschiedenen Teilen des Gehirns, etwa jene, die für Kreativität und Arbeitsgedächtnis zuständig sind.

Die so entstandenen Texte wiesen ausserdem eine erstaunlich hohe Dichte an denselben Wörtern und Ideen auf, obwohl sie von komplett verschiedenen Menschen zu völlig anderen Themen in Auftrag gegeben worden waren. Der «New Yorker» folgert: «KI ist eine Technologie der Durchschnittlichkeit», die nicht nur einförmig produziert, sondern auch uns, indem wir unser Denken derart outsourcen, «durchschnittlicher macht».

Mein Cousin, gelernter Elektriker, wird mir abends durch die Telefonströme erklären, ich hätte einen «Stromerkafi» bekommen. Das sollte eigentlich nicht passieren, sagt er, aber morgen sei sicher wieder alles gut. Am nächsten Morgen reisst meine juckende Hand einen analogen Briefumschlag auf: Der Stromsparbonus ist da. In der dazugehörigen Broschüre steht, dass der basel-städtische Strom zu hundert Prozent aus erneuerbaren Quellen kommt, vor allem aus Wasserkraft. Ich lege meine Hände auf Herz und Bauch: Ja, wir leben noch. Und ich weiss, wie wir das feiern. Der Strom, dessen Energie mir einen Schock versetzte, trägt uns nun kühl durch die Hitze, fliesst mit uns von Roche nach Novartis, wo ich fürs Erste beruhigt und getröstet aussteige, uns auf den heissen Stein lege. Mein Stromercousin hatte recht: Für den Moment ist alles gut.

Michelle Steinbeck ist Autorin. Transparenzhinweis: Diese Kolumne ist entstanden mit viel Strom für einen Ventilator, der ihr eigenes Hirn vor dem Kochen bewahrte.