«Ästhetik des Widerstands»: Wenn man in der Kunst nicht vorgesehen ist, muss man sich in sie hineindrängen

Nr. 35 –

Vor fünfzig Jahren erschien Peter Weiss’ «Ästhetik des  Widerstands». Ein monumentales Werk, in dem der  Autor die Grenzen eines revolutionären Kunstverständnisses auslotet.

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Pergamonaltar mit der Darstellung von Göttern und Giganten
Vom Fehlenden ausgehen: Die Erzählung beginnt vor dem Pergamonaltar, auf dem sich zwischen Göttern und Giganten kaum eine Spur von Herakles findet. Foto: Getty

Einmal wurde ich auf einer Lesung gefragt, ob das Ästhetische nicht dort beginne, wo sich die Sprache vom Politischen emanzipiere. Ich musste an meinen Bruder denken. Er ist Metaller und sagte mir mal, dass er nach acht Stunden Schichtarbeit zu erschöpft sei, um ein Buch in die Hand zu nehmen. Und doch sah ich in seinen Augen den Durst, es zu tun – und er tut es trotzdem. Wenn ich in meinem Schreiben das Politische ausklammern würde, könnte ich nicht meine Klassenrealität beschreiben, ich könnte nicht von meinem Bruder erzählen, der sein Leben nach der Kommandogewalt des Kapitals richten muss. Der Ich-Erzähler von Peter Weiss’ «Ästhetik des Widerstands», das ist mein Bruder.

Von Anfang an macht Weiss in seinem vor fünfzig Jahren erschienenen Hauptwerk deutlich: Die Aneignung von Kunstwerken vom proletarischen Standpunkt aus beginnt mit einer Leerstelle «unseresgleichen» in der Kunstgeschichte, sodass «wir uns nun selbst ein Bild des Fürsprechers des Handelns zu machen hatten». Die Rolle der Kunst und Kultur im Klassenkampf von unten, aber auch die in der Genitivformulierung des Titels angedeutete Lesart über die Widerständigkeit der Kunst in Klassengesellschaften nehmen eine zentrale Bedeutung im Textkörper ein. So wurde das Buch kurz nach seinem Erscheinen als Essayroman bezeichnet.

Peter Weiss (1916–1982) – Maler, Filmemacher, Dramatiker und zuletzt Schriftsteller – hat aber auch einen vielschichtigen Prosakomplex geschrieben. Mit Rückblenden und Reflexionen wie in einem Film eröffnet der über tausend Seiten lange Roman ein historisches Panorama vom Zusammenbruch der Zweiten Internationale 1914 bis zum kommunistischen Widerstand gegen die Nazis und zum Sieg über den Faschismus 1945. So gesehen ist das Buch ein historischer Roman. Die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung und ihre widerspruchsvollen Verläufe im imperialistischen Stadium des Kapitalismus machen die Bandbreite des Erzähltextes aus.

Aneignung heisst Neuinterpretation

Die eigentliche Erzählung beginnt am 22. September 1937 in Berlin. Umgeben von mörderischer Gewalt, die zum Flüstern und zur Kontemplation zwingt, steht der namenlose Ich-Erzähler, ein Fabrikarbeiter, mit seinen Freunden Heilmann und Coppi im Pergamonmuseum vor dem aus Bruchstücken zusammengesetzten Pergamonaltar, einem Kunstwerk der Antike, das zwei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung entstand. Während der Kampf der Giganten mit den Göttern vor ihren Augen auflebt, sie die im Steinrelief eingefrorenen Gesten im Gemetzel zu deuten, die Schriftzeichen zu entziffern versuchen, vermissen sie «den einzigen Sterblichen, der sich der Sage nach mit den Göttern» verbündet hat: Herakles. Nur ein Namenszeichen und die Löwentatze seines Umhangs deuten auf ihn hin, sonst «zeugte nichts mehr von seinem Standort».

In den Notizbüchern von 1972 schreibt Weiss: «Ich gehe vom Fehlenden aus und versuche, Zusammenhänge herzustellen.» Das betrifft vor allem das Verhältnis von Kunstwerken und der arbeitenden Klasse. Ob Théodore Géricaults Gemälde «Floss der Medusa» (1819) oder Franz Kafkas Roman «Das Schloss» (1926), immer wieder kommt der Text auf bildende Kunst oder literarische Werke zurück, als würde Weiss die Forderung des Revolutionärs W. I. Lenin umsetzen, wonach eine neue sozialistische Kultur nur durch die kritische Aneignung des kulturellen und künstlerischen Erbes aller bisherigen Gesellschaft entstehen könne.

Aneignung, das heisst für Weiss Neuinterpretation. Die Suche nach der ausgebeuteten Klasse im Werk ist massgeblich. Weiss lotet die Grenzen und Möglichkeiten eines revolutionären Kunstverständnisses aus, indem er Kunstwerke mit den politischen Erfahrungen der arbeitenden Klasse zwischen zwei Weltkriegen konfrontiert. Kunst ergibt nur Sinn, wenn man sich in ihr findet. Dann spricht sie an, berührt, bedrückt, berät, ermutigt. Wenn man in der Kunst nicht vorgesehen ist, muss man sich in sie hineindrängen.

«Die Ästhetik des Widerstands» verbindet konfrontativen Realismus mit höchsten poetischen Ansprüchen, wie Weiss sie zwei Jahrzehnte lang für eine moderne Neuschreibung der «Göttlichen Komödie» entwickelt hatte, bevor er dieses Projekt schliesslich aufgab. Die Auseinandersetzung mit Dante Alighieris 1321 vollendetem Gesang über Hölle, Fegefeuer und Himmel ging in den Roman ein. Daneben beeinflussten Weiss’ Engagement für die antikolonialen Kämpfe von Kongo und Kuba über Vietnam bis China und seine Verbindung zur realsozialistischen Welt als kulturellem Bezugspunkt seine Literatur. Er wandte sich dem Marxismus zu.

Im Roman kreiert Weiss vielfältige Ausdrucksformen des Widerstands zwischen analytischem Bericht und visionären Traumsequenzen, die das Buch als Metaroman erscheinen lassen, der das Schreiben eines marxistischen Romans neuen Typs vorführt. Wie seine 1981 erschienenen «Notizbücher 1971–1980» untermauern, ist sein Problembewusstsein für diese Aufgabe radikal solidarisch, seine Herangehensweise ehrlich. Die arbeitende Klasse kann es sich nicht leisten, auf einen eigenen Begriff von Schönheit zu verzichten. Das geht nur mit einer eigenen Sprache. Auch die Ästhetik ist eine Klassenfrage.

Die Besitzlosen verraten

Einen Leitgedanken gibt Weiss bereits mit dem prologischen Bezug zum Herakles-Mythos preis: Du bist auf deine Fantasie angewiesen, wenn du deinen Platz in der Kunst erkämpfen willst. Die klassenspezifische Wahrnehmungsweise der von Besitz und Kunst Abgetrennten und permanent von der Not Bedrängten geht in die Fantasie und die Kunstwerke mit ein. Von dieser Position aus erfährt die Kunst einen Paradigmenwechsel, dem der Text in absatzlosen Blöcken ohne Kapitel und in parataktischen Sätzen nachspürt. Die Kunst muss sich die Frage gefallen lassen, inwiefern sie und ihre Urheber:innen die Besitzlosen und ihr Befreiungsbestreben verraten – und verraten haben.

Die Dialektik von Kunst und Politik bildet nicht nur den Bedingungsrahmen des Erzähltextes. Sie ist der Kompass für die Entwicklung des Erzählers selbst. Die politische Qualität ästhetischer Erfahrungen kulminiert stets in jenem erzählenden namenlosen Ich. Im Kern ist das Buch ein Entwicklungsroman. Darauf musste Weiss drei Jahre vor seinem Tod selbst hinweisen, da dies in der ersten Rezeptionsphase, in der das Buch polarisiert hatte, übersehen worden war. Aus heutiger Sicht ist es aber gerade dieses namenlose Ich, das klassenliterarische Anschlüsse bietet.

Unter faschistischer Herrschaft ist der Erzähler in Berlin zunächst zu Passivität und Konspiration gezwungen, wo er von seinen kommunistischen Freunden Heilmann und Coppi Anstösse bekommt, zu lesen und Fragen zu stellen, gerade weil er Arbeiter ist. Danach begibt er sich als internationaler Brigadist nach Spanien. Dort begegnet er dem marxistischen Arzt Max Hodann und spürt am eigenen Leib die Zersplitterung der revolutionären Linken als schwere Bürde der arbeitenden Klasse im Kampf um ihre Selbstbefreiung. Als Besiegter flüchtet er nach Paris und lernt den kommunistischen Medienmacher Willi Münzenberg kennen, dessen Energie und Kreativität er bewundert. Als die Faschisten Paris besetzen, findet er ein Exil in Schweden und wird Assistent von Bertolt Brecht. Dieser schult ihn nicht nur in den Tugenden zur Verbreitung der Wahrheit; bei Brecht beginnt er zu schreiben. Schliesslich schliesst er sich dem kommunistischen Widerstand im Untergrund an und berichtet von der Roten Kapelle in Berlin. Nie wurden die Gräuel und Schrecken des Hitler-Faschismus so eindringlich und bedrückend in deutscher Sprache beschrieben wie im Schlussteil des Romans. Die Begegnungen und Orte quer durch Europa markieren die Stationen des Ich-Erzählers auf seinem Weg zur Selbstfindung als Künstler und als Kommunist.

Willen zum Wissen

Dieses Ich verlässt seine Klasse nicht entlang seiner Bildungsgeschichte. Es schämt sich nicht für seine Herkunft. Sein Schamgefühl betrifft die eigene Unwissenheit, die es vorwärtstreibt in seinem Willen zum Wissen. Beharrlich nimmt es das Wissen aus der vorgegebenen Hierarchie heraus und übersetzt es in seine Klassenlage, damit sich seine Klasse ihrer Lage widersetzen kann. Weiss beschreibt den Erkenntnisprozess als Kampf. «Jeder Meter auf das Bild zu, das Buch, war ein Gefecht, wir krochen, schoben uns voran, unsere Lider blinzelten, manchmal brachen wir bei diesem Zwinkern in Gelächter aus, das uns vergessen liess, wohin wir unterwegs waren.» So schlägt das Ich permanent in ein Wir um, was die autobiografisch geprägte Klassenliteratur von heute streckenweise versäumt.

In der eigenen Geschichte die Geschichte der arbeitenden Klasse zu erkennen und in der Geschichte der arbeitenden Klasse seine eigene Geschichte zu entdecken – hier ist das Alphabet einer klassenbewussten Literatur im 21. Jahrhundert zu finden. Das Programm einer Ästhetik des Widerstands ist eben das: Prosa mit dem Wir als Fluchtpunkt des Ich.

Bei der Antwort auf jener eingangs erwähnten Lesung dachte ich sofort an den Roman von Peter Weiss. Unsere Geschichten sind es wert, erzählt zu werden, mit allen Mitteln, noch mehr mit einem eigenen Kunstverständnis und einer kämpfenden Ästhetik. Wenn nicht wir unsere Geschichten erzählen, erzählt sie niemand.

Mesut Bayraktar (35) ist Schriftsteller und lebt in Hamburg.

Der erste Band von Peter Weiss’ Roman «Die Ästhetik des Widerstands» erschien 1975 im Suhrkamp-Verlag. 1978 folgte der zweite, 1981 der dritte Band. Heute sind die drei Teile als einbändiges Taschenbuch oder Hardcover erhältlich.