Im Affekt: Ein Meer von Gemüts­zuständen

Nr. 37 –

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Was für eine Stimme. Eigentlich müsste man die Augen schliessen und einfach nur dieser tiefen, rauen Stimme zuhören, die viel älter klingt, als sie ist: «Ida und ich, wir beide sind jeweils ein fester Teil. Die Hälfte von einem Ganzen.» Doch schlösse man die Augen, verpasste man tatsächlich etwas Grosses: das Spiel von Luna Wedler.

Die Zürcher Schauspielerin ist zurzeit als Tilda in der Verfilmung von Caroline Wahls Bestseller «22 Bahnen» zu sehen. Und diese Besetzung ist ein absoluter Glücksfall. Egal ob Wedler als Tilda im dunkelblauen Badeanzug zusammengekauert am Rand des Schwimmbeckens sitzt und ihre kleine Schwester Ida beim Tauchen beobachtet, ob sie ihre alkoholkranke Mutter in der Badewanne mit kaltem Wasser abduscht oder ob sie an der Kasse des Supermarkts die Einkäufe der Kund:innen scannt und ohne aufzublicken zu erraten versucht, wer vor ihr steht – die 25-Jährige ist ein Ereignis. Auf ihrem Gesicht spiegelt sich ein ganzes Meer von Gemütszuständen, ohne dass man das Gefühl hat, dass sie viel macht: Es reicht ein kurzes Zucken um den Mund, ein Aufblicken, ein Blinzeln.

Mit Laura Tonke als ihrer alkoholkranken Mutter (die im Film differenzierter als im Buch dargestellt wird) und Zoë Baier als ihrer kleinen Schwester Ida bildet sie ein grossartiges Schauspieltrio, das eigentlich nur durch die Figur des Viktor gestört wird. Dieser mag, wie schon im Buch, auch im Film nicht wirklich zu überzeugen.

Leider verschwindet Tildas Erzählstimme aus dem Off immer mehr aus dem Film, am Ende ist sie gar nicht mehr da. So fällt nicht nur der wunderbare Klang von Wedlers Stimme weg, sondern es fehlt auch der eigene und packende Sound von Caroline Wahls Buchvorlage, der sich zu Beginn des Films noch wunderbar über die Bilder legt. Zum Beispiel mit diesem Satz, den man sich zu Herzen nehmen sollte: «‹Eigentlich› ist eigentlich ein Scheisswort.»

Soeben ist Wedler an den Filmfestspielen Venedig für ihre Rolle in «Silent Friend» ausgezeichnet worden. Wir gratulieren!