Ruth Weiss (1924–2025): Zuhören und Erzählen

Nr. 37 –

Die Journalistin, WOZ-Mitarbeiterin und unermüdliche Kämpferin für eine bessere Welt ist 101-jährig gestorben.

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Ruth Weiss in einer Ausstellung, die ihr 2014 in Basel gewidmet wurde
Eine Jahrhundertfrau: Ruth Weiss in einer Ausstellung, die ihr 2014 in Basel gewidmet wurde. Foto: Ursula Häne

Die Reise der zwölfjährigen Ruth Löwenthal nach Südafrika mit ihrer älteren Schwester und der Mutter hätte ein Abenteuer sein können, und sie war es in gewisser Weise auch. Doch sie erfolgte aus ernstem Grund – die jüdische Familie musste emigrieren und folgte 1936 dem auf Arbeitssuche nach Johannesburg vorausgereisten Vater. Vom bayerischen Fürth ging es zunächst per Bahn nach Hamburg; vor der Einschiffung besuchte man den Tierpark Hagenbeck, der eine der vielerorts gängigen «Völkerschauen» präsentierte: «Buschmänner aus der Kalahari» wurden vorgeführt. Ruth war aufgeregt, denn dorthin, in deren Heimat, wollten sie doch ausreisen. Die Mutter jedoch war kategorisch: «Kommt», sagte sie, «Menschen stellt man nicht aus.» So erzählt es Ruth Weiss in ihrem gerade erschienenen Lebensrückblick «Erinnern heisst Handeln».

Dieses frühe Erlebnis der Diskriminierung anderer war prägend, wenn auch nicht das erste und schon gar nicht das letzte. Schon vor der Machtergreifung durch die Nazis 1933 hatte die Stimmung gegenüber jüdischen Menschen umgeschlagen, danach wurde der Alltag erst recht schwierig, ja unerträglich. Die Reise von Hamburg nach Kapstadt in der Dritten Klasse auf dem Frachtschiff Tanganjika war lang und beschwerlich. Zwischen Dakar, Accra und weiteren Zwischenstationen reisten Afrikaner:innen mit, auf Deck. Die Passagier:innen der Ersten Klasse rümpften die Nase, zumal die «N****» ihre eigenen Speisen zubereiteten. Eine Frau bot der neugierigen Ruth etwas an, doch sie traute sich nicht, davon zu kosten, weil sie damals doch nur koscher ass.

In Südafrika angekommen, bemerkte sie schnell, wie gespalten dort die Gesellschaft war, wie unberührbar die Schwarze Bevölkerung für die Weissen war – noch Jahre vor der gesetzlichen Festschreibung der Apartheid 1948. Es ging nicht lange, bis Ruth, die die Verhältnisse nicht hinnehmen wollte, eine «kafferbootje» geschimpft wurde, eine Freundin der «Kaffern», wie die diskriminierende, inzwischen längst geächtete Bezeichnung für Schwarze lautete.

Apartheid, Alltag, Widerstand

Die Familie baute sich eine bescheidene Existenz auf, Ruth lernte Englisch und Afrikaans, durchlief die Schule. Danach wollte sie Jura studieren, doch als Ausländerin erhielt sie keine Stipendien. So heuerte sie bei einer Anwaltskanzlei an, um berufsbegleitend studieren zu können. Diese Episode war von kurzer Dauer, denn sie begegnete ihrem späteren Ehemann, Hans Weiss, der ihr eine Stelle in seiner Buchhandlung anbot. Nach wechselvollen Arbeitsjahren, in denen sie sich ihre eingehenden politischen und wirtschaftlichen Kenntnisse quasi nebenher aneignete, begann sie, als Korrespondentin für deutsche, britische und afrikanische Medien zu arbeiten – ihre ersten Texte erschienen unter dem Namen ihres Mannes. Die Beziehung zum wesentlich älteren Hans Weiss, in Ruths Worten ein «kompliziertes, nervöses Beinahe-Genie», zerbrach 1962.

Die sechziger Jahre im Apartheidstaat Südafrika begannen mit Unruhen in Orlando, einem Stadtteil von Soweto, deren Zeugin Ruth wurde und die im Massaker von Sharpeville gipfelten. Mindestens 69 Schwarze Protestierende wurden dabei erschossen. Im Rivonia-Prozess von Oktober 1963 bis Juni 1964 wurden elf führende Exponenten des African National Congress (ANC) beziehungsweise von dessen militärischem Arm Umkhonto we Sizwe und anderer Widerstandsorganisationen zu drakonischen Gefängnisstrafen verurteilt, allen voran der «Angeklagte Nummer eins», Nelson Mandela.

Auf diesen war Ruth 1962 zufällig im Untergrund, in einem Hinterzimmer, gestossen, als er gerade eine Suppe löffelte – sie sollte ihn erst Anfang der Neunziger, nach Ende der Apartheid, in einem öffentlichen Rahmen wieder treffen. Denis Goldberg, der einzige weisse Rivonia-Verurteilte, war ein enger Freund Ruths. Sie setzte sich, leider vergeblich, für seine Freilassung ein. 2010 hielt er die Laudatio, als im deutschen Aschaffenburg eine Realschule nach Ruth Weiss benannt wurde.

Umbrüche, rastlose Zeit

Für sie, die mit ihren Artikeln von Anfang an gegen Rassismus und Apartheid Position bezog, wurde die Lage ungemütlich. Sie wurde zur unerwünschten Person erklärt. Nachdem sie 1965 nach Salisbury (heute Harare) im damaligen Südrhodesien (später Simbabwe) umgezogen war, verhängte Südafrika 1966 eine Einreisesperre gegen sie. Zu dieser Zeit verliebte sie sich in einen ehemaligen Arbeitskollegen und wurde schwanger. Unter Komplikationen gebar sie Ende 1966 ihren Sohn Alexander, genannt Sascha. Es war der Auftakt zu einer rastlosen Zeit. Die nicht mehr ganz junge Mutter wechselte häufig, nicht immer freiwillig, Wohn- und Arbeitsort, lebte in verschiedenen Ländern des südlichen Afrika, in London und in Köln. Dort war sie einige Monate lang für den Auslandsradiosender Deutsche Welle tätig, fühlte sich aber in einem von unbewältigter Vergangenheit gekennzeichneten Umfeld zunehmend unwohl. Sascha, den sie allein aufzog, war immer dabei.

Im südlichen Afrika, vor allem in Simbabwe, Sambia und Angola, erlebte Ruth die unterschiedlich heftigen, aber niemals reibungslos verlaufenden Unabhängigkeitskämpfe mit. Sie interviewte prominente Protagonist:innen der Entkolonialisierung, darunter den sich später zunehmend autokratisch verhaltenden Kenneth Kaunda (Sambia) und den im Verlauf seiner Präsidentschaft zum Diktator gewordenen Robert Mugabe (Simbabwe). «My very first question to you is …», der Satz mit dem sie ihre Interviews einzuleiten pflegte, wurde legendär. Er diente 2014 als Titel einer Ausstellung in den Basler Afrika-Bibliographien, die Print- und Tondokumente aus Ruths Archiv zeigte.

Die WOZ kam 1992 zu Ruth Weiss. Für den Afrikaabend der Veranstaltungsreihe «Schöne Neue Weltordnung» in der Zürcher Roten Fabrik luden wir sie und den ägyptisch-senegalesischen Entwicklungsexperten Samir Amin ein. Es wurde, dem Naturell der beiden entsprechend, ein ruhiger, aber eindringlicher Abend vor ungefähr 300 Gästen – mit vielen Fragen und dem Eingeständnis der Ratlosigkeit angesichts der unübersichtlichen Weltlage nach dem Ende des Kalten Kriegs. Samir Amin formulierte das Credo, das über der ganzen Veranstaltungsreihe hätte stehen können: «Jeder Mensch ist anders, alle Menschen sind gleich.»

In der Welt zu Hause

Ruth blieb nach der Veranstaltung für einige Tage in der Schweiz. Als Ehrenpräsidentin der Anti-Apartheid-Bewegung Schweiz – die wenig später aufgelöst wurde, weil ihr Anliegen, das Ende der offiziellen südafrikanischen Apartheid, erfüllt war – nahm sie Termine in verschiedenen Städten wahr. Ich war spätnachts ihr Chauffeur, wir redeten viel.

Ruth hatte die Gabe der Freundschaft. Wo immer auf dieser Welt sie hinkam, sie fand im Handumdrehen Familie, es entwickelten sich lebenslange Verbindungen. So erging es auch meiner Frau und mir. Ruth stieg in der Folge mehrmals bei uns ab. Stets fand sich dann Besuch ihrer hiesigen Freund:innen ein. Unvergesslich bleibt der Abend, als sie zusammen mit dem südafrikanischen Dub-Poeten und Musiker Lesego Rampolokeng unsere Bücher durchforstete; wir tauschten einen Robert-Crumb-Comicband gegen seine mit den Kalahari Surfers aufgenommene CD «End Beginnings».

Auch unsere Söhne, damals noch im Primarschulalter, waren fasziniert von Ruth. Mit ihrer leisen Stimme, die fast ohne Modulation auskam, mit ihrer Art, Fragen zu stellen, mit ihrer Erzählkunst, die sie stets vom Hauptthema auf eine Reihe von Nebengeleisen führte, um dann souverän wieder alle Klammern zu schliessen, schlug sie alle in den Bann. Alle fühlten sich ernst genommen, sie hörte zu. Dank dieser Fähigkeiten bestritt sie noch im hohen Alter als charismatische Referentin eine unüberschaubare Zahl von Lesungen und anderen Auftritten; viele davon an Schulen, wo sie nicht müde wurde, das junge Publikum für die Geschichte, für Gerechtigkeit, gegen Rassismus und Vorurteile aller Art wach zu machen.

Anfang der neunziger Jahre nahm Ruth auch aktiv am Versöhnungsprozess in Südafrika teil, dessen Leitfigur Nelson Mandela war. Die Versöhnung ermöglichte einen weitgehend friedlichen Übergang in eine «normale» Zivilgesellschaft. Später war Ruths Expertise in einem ähnlichen Prozess in Nordirland gefragt.

Gemeinsam fuhren wir als Familie zu ihrem 70. Geburtstag auf der britischen Isle of Wight, wohin sie nach dem Ende ihres regulären Arbeitslebens gezogen war. Es war ein wunderbares Treffen mit drei Dutzend Menschen von überall her, darunter Denis Goldberg und seine Frau Esmé, auch sie eine gestandene Antiapartheidkämpferin, die 22 Jahre lang auf ihren in Pretoria inhaftierten Liebsten hatte warten müssen. Später nahmen meine Frau und ich an verschiedenen Feiern rund um Ruth teil: in Deutschland, wohin sie nach zehn Jahren in Grossbritannien übersiedelt war – in der Nähe ihrer entwicklungspolitisch engagierten Freund:innen von der Ruth-Weiss-Gesellschaft – und schliesslich vor zwei Jahren an ihrem 99. Geburtstag im dänischen Nordjütland. Dort, in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrem Sohn und dessen Familie, verbrachte sie in einer kleinen Ortschaft ihre letzten zehn Lebensjahre.

Die Unermüdliche

Für die WOZ schrieb Ruth Weiss mehr als zwanzig Jahre lang Dutzende von Artikeln, vorwiegend über das südliche Afrika. Doch eigentlich hatte sich ihr Interesse verschoben. Statt journalistisch wollte sie lieber literarisch schreiben. Sie publizierte Bücher in hoher Kadenz: vom sehr erfolgreichen Jugendbuch «Meine Schwester Sara» – es erzählt die Geschichte eines in Südafrika adoptierten Mädchens, das auf die Spur seiner Herkunft kommt, und war offizielle Schullektüre in Baden-Württemberg – über ihre Miss-Moore-Krimis bis zur siebenbändigen Löw-Saga über mehrere Generationen einer jüdischen Familie in früheren Jahrhunderten. Sie schien unermüdlich, und viele Manuskripte warten noch auf Bearbeitung und Publikation. Mehr und mehr beschäftigte sie sich mit ihrem «gestohlenen» Judentum, dabei sah sie die Verfolgung der Jüd:innen stets im Kontext aller anderen schlimmen Verfolgungen.

In diesem Jahrhundert durfte sie eine Reihe öffentlicher Ehrungen entgegennehmen: die Nominierung für den Friedensnobelpreis im Rahmen der Initiative «1000 Women for the Nobel Peace Prize 2005», das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse in Deutschland 2014, zehn Jahre später das Grosse Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und 2023, aus der Hand des Staatspräsidenten Cyril Ramaphosa, den höchsten Orden Südafrikas, den Companions of O. R. Tambo.

Mit Ramaphosa und anderen hatte sie Ende der achtziger Jahre am Zimbabwe Institute for Southern Africa (ZISA) wichtige Vorbereitungsarbeiten im Hinblick auf das Ende der Apartheid geleistet.

Für die Überreichung einer umfangreichen Festschrift im Nürnberger Justizpalast, dem Schauplatz der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher aus der Zeit des Nationalsozialismus, bedankte sie sich 2022 auf ihre Weise. Mit dem Rollator gelangte sie zum Pult, einen Zettel in der Hand, auf den sie kaum einen Blick warf. In freier Rede brachte sie dann während einer Dreiviertelstunde mit ihren typischen Abschweifungen ihre Sicht der Dinge auf den Punkt. Es gab Standing Ovations. Auch 2023, zum Holocaust-Gedenktag, hielt sie im Landtag von Nordrhein-Westfalen eine bewegende und aufrüttelnde Rede.

Anlässlich ihres 101. Geburtstags, am 26. Juli dieses Jahres, fand in Tübingen die Eröffnung einer Ausstellung mit Bildern des Malers René Böll statt. Es handelte sich um Tuschzeichnungen, die er mit Zitaten des Dichters Friedrich Hölderlin, des Schriftstellers Heinrich Böll und von Ruth Weiss kombinierte. Ruth war zu geschwächt und nicht mehr in der Lage, zu reisen. Sie verfolgte aber einen Teil der Ansprachen über Video und bedankte sich mit einer kurzen Botschaft. Am 2. August erhielten wir ihr letztes Mail. Am vergangenen Freitag, dem 5. September, ist die Jahrhundertfrau in Ålborg, Dänemark, friedlich eingeschlafen.

Ruth Weiss, mit Lutz Kliche: «Erinnern heisst Handeln. Mein Jahrhundertleben für die Demokratie». Herder Verlag. Freiburg/Basel/Wien 2025.