«Diesseits von Gut und Böse»: Peinliche Neugier
Die lateinische Empfehlung «De mortuis nihil nisi bene» wird meistens in dem Sinne übersetzt, dass man über Verstorbene nur Gutes sagen solle. Doch nimmt man die Forderung sprachlich genau, bezieht sich «bene» – lateinisch: gut – als Adverb auf den Akt des Sprechens oder Schreibens und nicht auf die Eigenschaften des Verstorbenen: Über Tote soll man nur gut sprechen – sich also an Fakten halten und nicht an Verleumdungen.
Eine kurze Recherche in der Schweizer Mediendatenbank zeigt, dass über den kürzlich verstorbenen Zürcher SVP-Nationalrat Alfred «Fredi» Heer vor allem viel geschrieben wurde: Dutzende Artikel finden sich dort, die in sämtlichen Medien seit dessen plötzlichem Tod erschienen sind.
Deren Tonalität folgt fast ausnahmslos der verbreiteten Lesart des «nihil nisi bene» als «nur Gutes»: «Tod eines Aufrechten», «Stiller Abschied von einem markigen Kollegen», «Einer, der das Leben liebte und es mit ganzer Kraft lebte», «Der versöhnliche Polterer», «Haudegen mit Herz», «Pointiert, nonchalant, umgänglich», «Ein friedliebender politischer Strassenkämpfer – und blitzgescheit», «Er ist zu einem Freund geworden», um nur einige zu nennen. Davon ausgehend, muss es sich beim Verstorbenen um einen der letzten Sympathieträger der SVP gehandelt haben.
Nur «Inside Paradeplatz» räumte den Spekulationen, wie Alfred Heer ums Leben gekommen sein könnte, Platz ein, löschte den Text aber auf Wunsch der Familie des Verstorbenen.
Das immense mediale Interesse am Tod gerade dieses Politikers speist sich auch aus dem, was man über sein Privatleben wusste: Im Kreis «Cheib», dem Zürcher Rotlichtviertel, aufgewachsen, immer geblieben und dort auch gestorben, umgab ihn ein Flair des Proletarischen. Was zum plötzlichen Tod Alfred Heers führte, wird derzeit noch untersucht. Es ist mir ja ein bisschen peinlich – aber ich fürchte, ein Charakterzug, den ich mit Lukas Hässig von «Inside Paradeplatz» gemein habe, ist die Neugier.