Im Affekt: «Zigeuner» lesen!

Nr. 40 –

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Wenn die Stadtzürcher Fachstelle für Diversität, Integration und Antirassismus alle schlechten und rechten Vorurteile über die eigene Arbeit erfüllen wollte – dann hat sie es kürzlich mit einem Federstrich getan. Sie lud die Schriftstellerin Isabella Huser an eine Tagung ein, strich aber ohne Rücksprache den Titel ihres Romans «Zigeuner» aus dem Programm. Von einem «grotesken Zensurentscheid» spricht Verleger Ricco Bilger in einem Newsletter, mit dem er den Vorgang publik machte. Sie habe auf den Begriff verzichtet, so die Fachstelle im «Tages-Anzeiger», weil dieser in Teilen der Bevölkerung als negativ wahrgenommen werde. Was die Sache nur noch grotesker macht: Wer, wenn nicht Jenische wie Autorin Huser selbst, sollen über die Verwendung des Begriffs entscheiden? Schliesslich ist es eine alte antirassistische Praxis diskriminierter Bevölkerungsgruppen, Schimpfwörter in stolze Eigenbezeichnungen zu verkehren – siehe etwa die Verwendung des «N-Worts» im Rap.

Immerhin etwas Gutes hat die Zensur: Sie bietet wieder einmal Gelegenheit, darauf hinzuweisen, was für ein ausgezeichnetes Buch «Zigeuner» ist, literarisch wie historisch. Eine feinfühlige Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte, die gleichzeitig in aller Schärfe das historische Unrecht gegenüber den Jenischen in der Schweiz herausarbeitet, deren Diskriminierung schon vor der Gründung des modernen Bundesstaats begann und schliesslich in den Kindswegnahmen durch Pro Juventute gipfelte. Eine prominente Empfehlung für das Buch gibt es auch im neuen «wobei»-Magazin: Die frühere Bundesrätin Ruth Dreifuss führt es als eines von drei Schweizer Büchern in ihrer kleinen Weltbibliothek auf.

Huser schildert übrigens nicht nur die Verfolgung der Jenischen, sondern auch deren Widerstand. Schon einer ihrer Vorfahren, Balthasar Huser, beschwerte sich 1857 in einem Brief an den Bundesrat, dass er zum Herumziehen genötigt werde. Die Zürcher Fachstelle hätte also durchaus wissen können, dass sich die Husers zu wehren wissen. Vorausgesetzt, man hat das Buch dort gelesen.

Wer die Dreifuss-Bibliothek als Plakat möchte: Gerne ein Mail an bibliothek@woz.ch schreiben.