Von oben herab: Mein Schweizer Gefühl
Stefan Gärtner fährt mit zwei Familien in der Bahn
Nicht der geringste Beitrag zu gelingendem Leben ist ja das richtige Timing, und so kann man durchaus den Zeitpunkt verpassen, zu dem man aus dem Familienabteil der Deutschen Bahn herausgewachsen ist, und mit Kindern, die das Stillsitzen und Stimmemodulieren halbwegs beherrschen, dann drei Stunden in einem Tollhaus verbringen.
Eine Reihe weiter also diese zwei mittelständischen Familien, ganz offenbar befreundet und gemeinsam auf dem Weg aus Norddeutschland zum Frankfurter Flughafen, um eine Reise in die Sonne anzutreten, eine Reise von der Art, wie wir sie uns verkniffen hatten, aus ökonomischen wie ökologischen Erwägungen, weshalb wir ein paar Tage in B. gewesen waren, wo das Hotelzimmer überheizt war und in der Strassenbahn Gestalten auftauchten, die sich lauthals über den angeblichen Hang syrischer Flüchtlinge zur Vergewaltigung Minderjähriger beschwerten, eine Neigung, die von der woken deutschen Justiz dann nicht im wünschenswerten Umfang geahndet werde. Derlei hatte unser niederdeutscher Familiencluster vermutlich vorausgesehen und lieber eine Reise dahin gebucht, wo die Leute wohnen, deren Zahl im Inland immer argwöhnisch beäugt wird, wobei es falsch ist, sich hier moralisch zu spreizen: Fragt man im deutschen Hotel nach einem Zustellbett, kommt spät um zehn auch niemand, der nicht auf einem anderen Kontinent geboren wäre. An der Rezeption dagegen ist es deutsch, und also ist Urlaub, der sich Mühe gibt, alles richtig zu machen, allenfalls einer, der etwas weniger falsch macht.
Aber unsere zwei Staatskeimzellen tauchen in dieser Betrachtung nicht wegen ihrer möglichen Gleichgültigkeit den moralischen Diskursen gegenüber auf – wie der Schweizer Meister im Silberkugelstossen Ruedi Widmer einmal festgestellt hat, rauschen diese Diskurse sowieso am Gros der Leute vorbei –, sondern aufgrund ihrer Lärmbereitschaft. Schon der Zustieg mit acht Leuten und Gepäck glich dem, was da so schön Tohuwabohu heisst, und zwar waren die Väter von der zupackenden Sorte und wären im Fall technischer Probleme sicher viel weniger hilflos gewesen als unsereins. Aber jetzt hatten sie Urlaub, und bis Koffer und Kinder verstaut waren, verging eine kleine Ewigkeit, die den Ton für unsere gemeinsamen Stunden setzte.
Es wurde lebendig. Zwar wiesen die Eltern ihre Kinder dahingehend zurecht, dass «hier auch noch andere Leute» im Waggon sässen, randalierten aber, zwischen Sprüche- und Kartenklopfen, selbst voller Reise- und Lebenslust in Wohnzimmer- bis Kneipenlautstärke und insgesamt wie ihr eigenes Klischee. Entsprechend waren Speisen «megalecker» und «das Geilste, was es gibt». So reden die Studierten zwar längst auch, aber das hier war sozusagen das Original, und dass in einer Zeit, in der die AfD marschiert, immer die Arier es sind, die ihre Knoblauchspeisen auspacken und auch sonst olfaktorisch zugegen sind, ist dann eine dieser weltgeistigen Ironien.
Warum ich das erzähle? Weil diese Episode das bedient hat, was ich «mein Schweizer Gefühl» nennen will. Dieses Gefühl geht so, dass mans gern ruhig und gesittet hat, und beruht auf der Ahnung, dass das eine gewisse Isolation voraussetzt. Auf der Hinfahrt hatten wir in einem der klassischen Sechserabteile gesessen, die in den neuen Wagen der Deutschen Bahn nicht mehr vorkommen und wo man die Tür schliessen kann, wenns einem zu laut wird, weil die Insassen der offenen Gesellschaft diese nicht mehr anders denken können denn als Forum fürs eigene Geschrei, idealerweise um Erkundigungen herum wie: «Justus, hast du gefurzt?» Dezenz – um einen Che Guevara zugeschriebenen Satz zu variieren, der eigentlich von der nicaraguanischen Schriftstellerin Gioconda Belli stammt – ist die Zärtlichkeit des Alltags, und dass das Leben je weniger, desto lauter lebt, sei mit der verfurzten kritischen Theorie einmal vermutet.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.