Die Schweiz und die Sklaverei: Ein Wort als Meilenstein
In einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme des Bundesrats zur Verstrickung der Schweiz in die Sklaverei und den Sklav:innenhandel ist erstmals von Wiedergutmachung die Rede. Nun sind weitere Schritte notwendig.
Es lässt sich leicht überlesen, dieses eine Wort, das aus einer ansonsten relativ unspektakulären Stellungnahme des Bundesrats vom 26. November einen aussenpolitischen Meilenstein machen könnte. SP-Kopräsident und Nationalrat Cédric Wermuth hatte in einer Interpellation gefragt, wie der Bundesrat zu Aussagen der Landesregierung von 1864 stehe: Als letzte in ganz Europa hatte diese damals die Sklaverei und den Sklav:innenhandel gerechtfertigt und verteidigt. In weiten Teilen klingt die Antwort des Bundesrats ziemlich genau so, wie man es gewohnt ist: Er «bedauert» zwar, «dass in der Vergangenheit Schweizer Staatsangehörige, Unternehmen und Organisationen an der Sklaverei beteiligt» gewesen seien. Und «anerkennt», dass «das Wissen um die eigene Vergangenheit und deren Aufarbeitung, inklusive Verbindung zur Sklaverei, eine wichtige gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufgabe» sei. Aber er hält gleichzeitig an der historisch haltlosen Position fest: «In den 1860er-Jahren handelten die Bundesbehörden nach den damals üblichen Standards.»
Vier verbrecherische Jahrhunderte
Doch es findet sich eben auch dieses eine Wort: Er sei der Auffassung, dass das begangene Unrecht «wiedergutgemacht» werden müsse, schreibt der Bundesrat. Das ist neu: Bisher hatte sich die Regierung höchstens zum Begriff der «Aufarbeitung» durchgerungen, wenn er auf vergleichbare parlamentarische Vorstösse seit den frühen nuller Jahren antwortete. Eingereicht wurden sie von Politiker:innen wie Pia Hollenstein, Claudia Friedl, Jo Lang, Franziska Ryser oder Samira Marti. Dabei hatte der Bundesrat eingeräumt, dass Sklaverei und Sklavenhandel zu den «schlimmsten Menschenrechtsverletzungen» gehörten.
Von der «Aufarbeitung» zur «Wiedergutmachung»: Angesichts eines historischen Verbrechens dieser Tragweite, in dessen Rahmen über rund vier Jahrhunderte hinweg über zwölf Millionen Menschen aus Afrika auf Schiffen in die amerikanischen Kolonien verschleppt wurden, ist das ein grosser Schritt. «Wenn er das wirklich ernst meint, dann ist diese Aussage des Bundesrats ein epochaler Durchbruch», sagt Cédric Wermuth. Er werde nun das Gespräch mit der Verwaltung und anderen Parlamentarier:innen suchen, auch solchen aus dem bürgerlichen Lager, um zu erwägen, welche politischen Schritte darauf folgen könnten. Er hält fest: «Der transatlantische Sklav:innenhandel und die Sklaverei in den Kolonien mögen lange zurückliegen, aber sie wirken bis in die Gegenwart fort.» Die ökonomische Ungleichheit auf der Welt und damit auch die anhaltende Ausbeutung der Menschen in den einstigen Kolonien bauten darauf auf. «Also gibt es im Hier und Jetzt Handlungsbedarf», sagt Wermuth. Dies umfasse auch eine materielle Wiedergutmachung und damit Reparationszahlungen für die begangenen Verbrechen.
Auf Anfrage der WOZ macht das Aussendepartement (EDA) keine konkreten Angaben dazu, was der Bundesrat unter «Wiedergutmachung» genau versteht. Es schreibt allerdings, dass «jede Verletzung der Menschenrechte, einschliesslich der Sklaverei, anerkannt und der Zugang zur Justiz gewährleistet werden muss» – woraus sich ableiten liesse, dass Sklaverei gemäss EDA nicht nur als zeitgenössisches, sondern auch als historisches Verbrechen justiziabel ist.
Andere Länder, verschiedene Sitten
Der Umgang mit der eigenen kolonialen Vergangenheit hat schon in vielen Ländern hart geführte Debatten ausgelöst – und einen Eiertanz um Worte und Formulierungen. So etwa in Grossbritannien, wo sich der damalige Premierminister Tony Blair 2006 dazu durchrang, «tiefes Bedauern» über die Rolle des britischen Empires beim transatlantischen Sklav:innenhandel auszudrücken. Eine explizite «Entschuldigung», wie sie britische Aktivist:innen bis heute fordern, blieb indes aus; genau wie die Regierungen anderer früherer Kolonialmächte vermied es Blair, etwas zu sagen, aus dem sich die Forderung nach finanzieller Wiedergutmachung ableiten liesse. 2023 machte Premier Rishi Sunak sogar einen Schritt zurück: «Der Versuch, unsere Geschichte aufzudröseln, ist nicht der richtige Weg vorwärts», sagte er in einer Parlamentsdebatte. Anders in den Niederlanden: Dort hatte sich Ministerpräsident Mark Rutte 2022 offiziell für die Förderung der Sklaverei durch sein Land entschuldigt.
Aufarbeitung auf Augenhöhe
Nach Jahren des Stillstands scheine es, dass endlich auch in der Schweiz Bewegung in die Sache komme, sagt Wermuth, «offensichtlich war die Zeit reif dafür». Und er betont: «Wir haben das vor allem einer ausserparlamentarischen Debatte zu verdanken, die von zivilgesellschaftlichen Kräften und Wissenschaftler:innen vorangetrieben wird.»
Zu ihnen gehört der St. Galler Historiker und Aktivist Hans Fässler. Seit Jahrzehnten forscht er zu den kolonialen Verstrickungen der Schweiz. Diese sind gut belegt: Hiesige Staatsangehörige betrieben Plantagen in Übersee, Schweizer Finanzinstitute investierten in Sklavereiunternehmungen, und unterstützt wurden sie dabei von den Behörden. Über das jüngste Votum der Regierung zeigt er sich positiv überrascht: «Während sechs Jahren hat sich der Bundesrat in der Frage der schändlichen Position der Regierung von 1864 keinen Zentimeter bewegt», sagt Fässler, «und jetzt plötzlich einen ganzen Meter.»
Unter «Wiedergutmachung» stellt er sich vor, dass die Schweiz nun zuallererst mit den «Opfergesellschaften» in den Dialog trete, also den Nachkommen jener, von deren Entrechtung und Ausbeutung die Schweiz einst profitierte. Als Beispiel für einen Kooperationspartner nennt er die karibische Staatengemeinschaft Caricom, die eine Historiker:innenkommission gegründet hat, der Fässler auch schon seine Forschungsarbeiten zur Schweiz präsentierte. «Es ist wichtig, dass der Austausch und die Aufarbeitung auf Augenhöhe stattfinden», sagt Fässler. Auf dieser Basis liessen sich dann eines Tages Umfang und Modalitäten etwaiger Reparationszahlungen diskutieren. «Für den Moment wäre erst mal zu wünschen, dass die Schweiz für einmal einen Schritt von sich aus macht und nicht wartet, bis Forderungen von aussen kommen», so Fässler.
Auch Historiker Bernhard C. Schär, Professor für Geschichte an der Fernuni Schweiz und Leiter einer internationalen Forschungsgruppe zur Globalgeschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert, betont die Wichtigkeit einer partnerschaftlichen Aufarbeitung der Kolonialgeschichte. Und er verweist darauf, dass dies auch im Eigeninteresse der Schweiz und Europas liege: Zu einer Zeit, in der man von autoritären Regierungen in China, Russland und den USA unter Donald Trump unter Druck gerate, seien die europäischen Länder auf die Partnerschaft mit den einst kolonisierten Ländern angewiesen. «Hierfür müssen Europa und die Schweiz aber erst einmal das Vertrauen dieser Länder zurückgewinnen», sagt Schär. Das erfordere erstens eine ehrliche Erforschung der eigenen Gewaltgeschichte – und zweitens ein Überdenken der Weltbeziehungen, «von der Migrations- über die Finanz-, Steuer- und Zoll- bis hin zur Kulturpolitik», so Schär. «Das wird Geld kosten, und ‹Wiedergutmachung› kann hier eine Rolle spielen. Es ist aber nur ein Aspekt unter sehr vielen anderen.»