A. L. Kennedy: Schock und Trost

Wer die rotzfrech geschriebenen Romane der schottischen Schriftstellerin liest, sollte bibelfest und horrorfest sein.

In der Küche der Wohngemeinschaft sitzt der neue Mitbewohner, der sich Martin nennt, und bietet ein mystisches Schauspiel. Martins Haut leuchtet, als stünde sie in Flammen. Seine Hände leuchten, sein Rachen leuchtet, wenn er den Mund öffnet. Der ganze Martin scheint in Flammen zu stehen, ohne zu verbrennen. Denn Martin sitzt Anfang der neunziger Jahre in der Küche eines schottischen Backsteinhauses und verblüfft seine Gesprächspartnerin Jennifer mit der Epiphanie einer szenischen Darstellung aus dem Alten Testament. Dort offenbarte sich Gott dem zornigen Moses in einem lichterloh flammenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch. Gott trug Moses auf, das geknechtete, leidende Volk der Israeliten aus Ägypten zu führen. Und ganz ähnlich spielt sich nun die erste Begegnung zwischen dem bizarren Martin und der Rundfunksprecherin Jennifer ab.

So schräg und drastisch, so komisch und christlich kann eigentlich nur ein Roman der 38-jährigen schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy beginnen. Wer ihre Romane liest, sollte zweierlei sein: bibelfest und horrorfest. Wer ihren enormen, inzwischen als international zu bezeichnenden Erfolg verstehen will, sollte sich die Besonderheit ihres Werkes vor Augen führen: Es verbindet die verschiedensten Varianten der Negativität mit Varianten der Erlösung. Es verbindet schwärzesten Pessismismus mit einem Utopievorschlag. Es sammelt so ziemlich alles ein, was die abendländische Moderne an Gewalt, Kaputtheit und Unmenschlichkeit hervorgebracht hat, und entwirft dabei empfindliche Bilder gelungener Menschlichkeit. A. L. Kennedy verwandelt Unglück in Glück. Jeder ihrer Romane hat die Gestalt eines Purgatoriums. Sie durchlaufen die Übel der Welt, bevor sie sich von ihnen befreien. Sie führen, ohne auch nur einen Moment kitschig zu sein, vom Jammertal der modernen Perversionen, der Gemeinheiten, der Hässlichkeiten ins Licht der Liebe.

Das heisst: Die Romane A. L. Kennedys bedienen sich nicht nur bei den Motiven der Bibel. Sie folgen vielmehr dem Sinn der biblischen Erzählung. Und sie sind dabei rotzfrech geschrieben. In einem speziellen Kennedy-Kontrastprogramm der Idiome und Jargons, in dem die schönsten Lyrismen neben den schlimmsten Zoten stehen, die Sprachen der Innerlichkeit und der Prophetie neben den Ausdrucksweisen der Fernfahrerkneipe. In dem Roman «Gleissendes Glück», der A. L. Kennedy hierzulande schlagartig bekannt machte, gerät Mrs. Brindle, verheiratet mit dem gewalttätigen Scheusal Mr. Brindle, an einen Fernsehguru namens Edward Gluck, der psychologische Ratgebersendungen moderiert. Sie hält ihn für ihren Erlöser. Aber der Erlöser ist ein pornosüchtiger Perversling, ein Opfer des Bilderschmutzes wie sie eines der Gewalt. Auf Umwegen kommen sie zusammen, helfen und heilen sich.

Fast alle Figuren Kennedys sind Kinder getrennter Eltern, zerstörter Familien, und viele raufen und finden sich in solchen Ersatzfamilien zusammen. Als Wohngemeinschaft sind Jennifer und Martin typische Kennedy-Gestalten mit typischen Kennedy-Vergangenheiten. Jennifer, die junge Schottin, hat viel dafür getan, ihr Gefühlsleben abzuschaffen, und sie war dabei erfolgreich. Was sie an ihrem äusserem Leben interessiert, ist Kontrolle über Abläufe und soziale Beziehungen. Was sie an ihrem körperlichen Leben interessiert, sind einerseits totale Triebunterdrückung und andererseits gelegentliche sado-masochistische Exerzitien mit ihrem Exfreund, bei denen sie selbstredend die Rolle der Peinigerin einnimmt. Einmal richtet sie ihn krankenhausreif zu. Sie könnte die Schwester von Elfriede Jelineks masochistischer «Klavierspielerin» sein. Jennifer, die Ich-Erzählerin des Romans «Also bin ich froh», kontrolliert selbst noch dessen LeserInnen. Sie spricht sie in der dritten Person an, erklärt ihnen den Erzählverlauf, kündigt Erzählsprünge und Erzähllücken an und spannt sie in voller Absicht schon mal auf die Folter: «Davon wird später die Rede sein.» Jennifer hält nichts von Liebe, nichts von Nähe und nichts von Hingabe und Preisgabe. Ihre Tätigkeit als anonyme Sprecherin von Rundfunknachrichten und Werbespots entspricht zwar nicht ihren intellektuellen Fähigkeiten, aber ihrer Seelenlage. Eben diese wird heftig gestört, ja aus den Angeln gehoben durch die Ankunft des neuen Mitbewohners, der eines Tages brennend in der Küche sitzt - und Jennifers Herz in Flammen setzt.

Auch er ist ein Monstrum. Komplett verstört schon auf den ersten Blick. Eine Herausforderung für Jennifers Ordnungsdenken. Denn das Wesen namens Martin ist so multipel, dass es in keine Raum- und Zeitordnung passt. Martin, rot glühend wie der altbiblische Dornbusch, behauptet, niemand anders zu sein als der französische Schriftsteller Savinien – besser bekannt als Cyrano de Bergerac, geboren 1619, gestorben 1655, der die Zeit seit dem 17. Jahrhundert gleichsam übersprungen haben will, um Ende des 20. in einer schottischen WG zu landen. Tatsächlich ist vom Leben dieses Martin nichts anderes zu erfahren als Geschichten aus dem historisch-authentischen Leben des Freigeistes, Voraufklärers, Duellanten Bergerac, der, wie man weiss, mit dem Schönheitsfehler einer überdimensionierten Nase geschlagen war. Die banale Erklärung, dass es sich bei Martin schlichtweg um einen Junkie handelt, den der exzessive Konsum von Drogen und Pillen ein wenig schizophren gemacht hat, liegt nahe.

Aber der Roman lässt sich nicht auf diese Logik verkürzen. Aus einem Grund: Er sieht der Handlung nicht von aussen zu. Er entwickelt sie aus der Innenperspektive des Monologs der Erzählerin. Ihr Bericht ist – und darin der Bibel verwandt wie den phantastischen Erzählungen Bergeracs – reine Glaubenssache. Ein Ernstfall literarischer Fiktion also, dem gerade der abstruseste Plot recht ist. In allen Romanen Kennedys geht es genau genommen abstrus zu. Die Liebe zwischen einer biederen Hausfrau und einem TV-Pornofreak in «Gleissendes Glück» ist noch vergleichsweise realiätsfähig. In «Alles was Du brauchst», Kennedys bisherigem Hauptwerk aus dem Jahr 1999, kommt die 19-jährige Mary Lamb, Adoptivkind zweier Männer, in eine Schriftsteller-Sekte, die auf einer Insel lebt und es ihren Mitgliedern zur Vorschrift macht, siebenmal Selbstmord zu versuchen, mit dem Risiko, im letzten Moment dem Tod von der Schippe springen zu können – oder auch nicht.

Kennedys Figuren sind Seiltänzer der extremen Erfahrung. Sie wandeln vom einen Extrem des Unbewussten, der Todessehnsucht, zum anderen, der Liebeshingabe. In beidem sind sie absolut. Und für beide Extreme gibt es in Kennedys Erzählwelt notorische Motivfelder, die sich auf den menschlichen Körper beziehen: seine Zerstörung durch Gewalt, Folter, Perversion, Selbstmord einerseits. Seine Heilung durch caritas, durch Krankenpflege, Zärtlichkeit, liebende Zuwendung andererseits. Erst der abstruse, schrille Plot der Romane aber, der groteske Abstand der Glaubenssehnsucht zur säkularen Welt garantiert den Romanen die Höhenlage, in der sich das grosse Schauspiel von Verdammung und Erlösung entwickeln und zwischen Jennifer und dem seltsamen Martin das grosse Melodrama der Sehnsucht entfalten kann. Dass es Kennedy gelingt, ihre Romane bei aller Exzentrik mit einer zeitgenössischen Kulisse zu umgeben, die die Armut Schottlands fühlbar und das Elend des Sozialabbaus unter Tony Blair deutlich macht, ist ein Kunststück, das dieser radikalen Künstlerin momentan, man möchte sagen: in der Weltliteratur niemand so leicht nachmacht.

Dass Martin de Bergerac am Ende im Nebel der Romangeschichte verschwindet, macht die seelisch geheilte Jennifer traurig, ist aber der einzig mögliche narrative Ausweg, zu dem der Roman im letzten Drittel nicht ohne Mühe hinfindet. Martin verschwindet in der Phantastik seiner Herkunft. Denn er war von Anfang an, wie er da brennend in der Küche sass, nichts anderes als eine Kopfgeburt. Ein Papierwesen, entstanden aus den Büchern eines Schriftstellers namens Cyrano de Bergerac, das sich in einem Roman der heutigen Schriftstellerin A. L. Kennedy niedergelassen und dort Gestalt angenommen hat. Die Allegorie einer literarischen Initiation also. Und ein tautologischer Literatur-Roman. Wer sich an einen solchen heranwagt, muss als Schriftstellerin Alpinistin und Ironikerin sein. Beides ist A. L. Kennedy im Höchstmass. Man muss sich nur einen kurzen Moment lang vorstellen, was für eine postmoderne Leiche dieser Roman sein könnte, um die Lebendigkeit jedes einzelnen Satzes zu würdigen, den Kennedy zu Papier bringt. Jedes Buch von ihr: ein ziemlicher Schock und ein grosser Trost.

A. L. Kennedy: Also bin ich froh. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2004. 279 Seiten. Fr. 28.70