Das Reportagenprojekt

Zwischen Nähe und Distanz

SonderschülerInnen brauchen viel Aufmerksamkeit. In der Coronazeit müssen sie und ihre LehrerInnen plötzlich Abstand halten. Wie erleben sie die Pandemie? Ein Besuch im Heilpädagogischen Institut St. Michael in Adetswil.

Die Strasse, die zum Sonderschulheim führt, schlängelt sich durch eine verzauberte Umgebung. Vom Parkplatz aus sind das Zürcher Oberland und ein Teil des Zürichsees sichtbar.  Zwischen den Bäumen und Sträuchern, die entlang der Strasse stehen, glitzert der Schnee. Auch der Kräutergarten der Heimküche, die im Sommer sehr gefragt ist, liegt unter einer weissen Decke. Die Strasse wird ihrem Namen gerecht – die Erholungshausstrasse.

Das Heilpädagogische Institut St. Michael wurde 1968 von zwei Familien mit anfangs fünfzehn Kindern als Sonderschulheim eröffnet. Vorher hatte es als Erholungshaus gedient, unter anderem für lungenkranke Kinder. 1975 kam die Sonderschule dazu. Heute verfügt das Sonderschulheim über insgesamt vierzig Plätze: Dreissig sind für InternatsschülerInnen, zehn für TagesschülerInnen vorgesehen. Die Bereichsleitung des Sonderschulheims ist in drei Teile aufgeteilt: die Schulleitung, die Betriebsleitung und die Internatsleitung.

Das Haupthaus, in dem sich die Wohngruppen, die Küche, der Saal und Büros befinden, liegt ein bisschen höher als das Schulhaus. Es ist ein grosses, längliches, fünfstöckiges Gebäude. Es wurde nicht wie das Schulhaus nach anthroposophischer Architektur gebaut, denn es steht schon seit dem Jahr 1904. Trotzdem sind manche Merkmale anthroposophischer Architektur zu erkennen. So weist das Dach keine rechten Winkel auf. Als Anthroposophie wird eine geistige Weltanschauung bezeichnet, die von Rudolf Steiner begründet wurde. Der Ausbildungs- und Erkenntnisweg dazu ist ebenfalls Teil der Philosophie.

Auf dem Pausenhof herrscht bei unserem Besuch im Dezember 2020 ein reges Treiben. Eine Gruppe von Kindern spielt mit dem Schnee. Immer etwa drei Lehrpersonen, PraktikantInnen oder pädagogische MitarbeiterInnen haben Pausenaufsicht. Die einen Kinder werden auch in der Pause von ihren Klassenlehrpersonen betreut. Es ertönen mehrere Gongschläge. Das Zeichen dafür, dass die Pause vorbei ist. Der Pausenhof leert sich allmählich. Die Schüler kehren in ihre Klassenzimmer zurück.

Masken tragen nur die Grossen

Das Klassenzimmer hat rosarote Wände. An der Wandtafel hängen bunte Kärtchen mit illustrierten Bildern darauf. Auch der Stundenplan ist bildlich dargestellt. Direkt daneben befinden sich die Hygieneregeln des Bundesamtes für Gesundheit. Auf grösseren Kärtchen über der Wandtafel hängen alle Buchstaben des Alphabets. Im Raum finden sich Gestelle mit Spielsachen. In der Mitte stehen zwei Reihen Einzelpulte. Um die einen Pulte sind Holzwände aufgestellt, damit sich die Kinder, die an diesen Plätzen arbeiten, besser konzentrieren können.

Dario* ist Autist. Er ist seit fünf Jahren im Sonderschulheim und schon seit Beginn in der Klasse von Christine Braun, der Klassenlehrperson. Ganz hinten im Klassenzimmer befindet sich ein Gruppentisch. Daneben eine Nische, auch mit einer Holzwand abgetrennt. Dort arbeitet Dario, der sehr viel Mühe hat, sich zu konzentrieren. Wenn er müde ist, darf er sich auch hinlegen. Dario benötigt eine eigene Betreuungsperson, da er teilweise nicht selbstständig arbeiten kann. Oft ist er aggressiv. Seit der zweiten Welle der Coronapandemie hat dieses Verhalten zugenommen. Er wohnt nicht auf den Wohngruppen und kommt daher in der jetzigen Zeit nur vormittags zur Schule.

Jede Klasse zählt bis zu sieben SchülerInnen. Sie haben jeweils eine Klassenlehrperson und eine Klassenassistenz. Wenn es ein Kind in der Klasse hat, auf das besonders geachtet werden muss, braucht es eine zusätzliche Klassenassistenz. Die Kinder werden grundsätzlich nach ihrem Alter in die Klassen eingeteilt, jedoch wird auch der Fortschritt berücksichtigt, den die Kinder machen. Die Lehrpersonen tragen Masken. Für die Kinder gilt eine Maskenpflicht ab zwölf Jahren. Dies ist bei den bald Zwölfjährigen ein riesiges Thema. Sie freuen sich darauf, eine Maske tragen zu dürfen, weil sie dann das Gefühl haben, zu «den Grossen» dazuzugehören.

Jessica ist mit fünfzehn Jahren die älteste der Kinder in ihrer Klasse und muss daher  als einzige eine Maske tragen. Sie sitzt ganz unruhig auf ihrem Stuhl. Bei jeder gestellten Frage von uns an die Klasse hält sie ungeduldig ihre Hand hoch und hat den Drang, sich zu äussern. Ihre Hände sind ganz rot vom Desinfektionsmittel. Sie hat es versehentlich benutzt. Für die Kinder gilt grundsätzlich, dass sie ihre Hände mit Seife und Wasser waschen müssen.

Ein Superheld als Geschenk

Der bald zwölfjährige Simon hat seine Hände zwischen Stuhl und Oberschenkel eingeklemmt. Er hört sich unsere Fragen ganz aufmerksam an und muss für die Antworten nicht lange überlegen. Auf die Frage, ob jemand von den Kindern wisse, was das Coronavirus sei, antwortet Simon so, als würde er Wikipedia rezitieren. Und auf die nächste Frage, auf was sich die Kinder am meisten freuen, wenn wir wieder wie früher leben können, antwortet er: «Ich freue mich, wenn alles vorbei ist mit Corona, dann darf ich endlich wieder meine Mutter umarmen.»

«Du wirst auch bald zwölf, Kai. Wie findest du es, auch bald eine Maske tragen zu müssen?», fragt Frau Braun ihren Schüler. «Farbstifte und Knete.» Kai beginnt, die Wunschliste für seinen Geburtstag aufzuzählen. Es scheint, als wäre er manchmal in seiner eigenen Welt. Elyas antwortet dafür auf die Frage nach dem Maskentragen: «Ich finde es doof. Ich muss schon im ÖV die Maske anziehen und bekomme schlecht Luft.» Er möchte am liebsten mit seinen Eltern wieder in den Türkeiurlaub reisen.

Raphael, der Zwillingsbruder von Simon, ist sehr still. Er meldet sich nur dann, wenn Frau Braun ihn aufruft. Sonst sitzt er ganz ruhig, ohne gross aufzufallen, auf seinem Stuhl. Erst später erzählt er, dass er selbst Corona hatte. «Ich war in meinem Zimmer, Simon war in seinem. Ich habe sehr viel ferngesehen», erzählt er und schmunzelt dabei. Alle Kinder freuen sich darauf, ihre Liebsten wieder umarmen und ihnen ein Küsschen geben zu dürfen.

Die Schüler arbeiten nach der Fragerunde selbstständig. Sie zeichnen und basteln. Kai zeichnet konzentriert ein Bild. Die Vorlage dafür hat er im Kopf. Er zeichnet zuerst alles mit Bleistift vor und zieht die Linien anschliessend mit Filzstift nach. Dann macht er sich daran, die Flächen auszumalen. Dabei achtet er auf ganz viele Details, die die Zeichnung realistisch wirken lassen. Er hat einen Superhelden mit ausdrucksstarkem Blick gezeichnet. Kai kommt nach Schulschluss zu uns und schenkt uns jeweils ein Bild, das er in dieser Lektion gezeichnet hat.

Am Ende des Schultages fragt Frau Braun ihre Schüler, wie sie ihr heutiges Arbeiten einschätzen. Das hilft den Kindern zur Selbsteinschätzung. Dann bespricht sich die Klassenlehrperson kurz mit den Kindern, und sie dürfen alles aufräumen. Anschliessend machen sich die SchülerInnen bereit für den Heimweg. Die TagesschülerInnen werden nach der Schule vom Taxi abgeholt und nach Hause gefahren.

«Das ist unser Daheim»

Für die Lehrpersonen ist es nicht einfach in dieser Zeit. Durch die Maske besteht eine enorme Kommunikationsschwierigkeit. Weil die Kinder die Mimik der Lehrpersonen nicht mehr sehen können und sie somit nicht mehr richtig verstehen, ist der Unterricht eine grosse Herausforderung. Aber damit nicht genug. Auch Administratives fällt schwer. Sitzungen führen die Beschäftigten über Microsoft-Teams. Der Empfang ist teilweise so schlecht, dass das Herstellen der Verbindung oft viel länger dauert als die Besprechung selbst.

Der Turnunterricht findet nicht mehr statt. Die Klassen gehen jetzt häufiger im nahe gelegenen Wald spazieren, damit sie sich doch noch austoben können. Dort dürfen sie die einschränkenden Masken abnehmen. Auch den Musikunterricht gibt es vorübergehend nicht mehr. Vor allem die Blasinstrumente waren für die Kinder sehr interessant. Jetzt singen sie nur noch in den kleinen Klassen zusammen.

Als positive Veränderung nehmen die Lehrpersonen vor allem die Abstandsregel wahr. Zum Beispiel geht Jessica immer zu nahe an Personen heran, weil sie die Distanz nicht richtig abschätzen kann. Die betroffenen Personen fühlen sich dann recht schnell unwohl. Mit der Abstandsregel, die die Lehrpersonen den Kindern beibringen mussten, können sie den Kindern eine bessere Erklärung geben, wieso sie Abstand halten müssen. «Das klappt bis jetzt ganz gut», sagt Frau Braun.

Vom Schulhaus zum Hauptgebäude führt ein gepflasterter schmaler Weg durch eine idyllische Umgebung. Der kleine Teich im Garten neben dem Weg ist gefroren. Schulschluss ist meistens um 15.30 Uhr. Einige Kinder sind unterwegs vom Schulhaus zur Wohngruppe. Sie spielen noch im Schnee. In der Garderobe des Haupthauses sitzen Simon und Raphael. Sie sind hier zu Hause. «Wir gehen jetzt heim», sagt Simon. Raphael wollte ihn gerade korrigieren, weil sie eigentlich jedes zweite Wochenende «nach Hause» zur Mutter oder zur Pflegefamilie gehen. Selbstsicher erwidert Simon: «Nein, das ist unser Daheim.»

Das Internat war seit Beginn der Pandemie geöffnet, auch während des Verbots des Präsenzunterrichts. «Ausser der Maskenpflicht und den anderen Regelungen des Schutzkonzepts des Sonderschulheims inklusive der BAG-Hygiene- und Verhaltensregeln gibt es für die Bereichsleitung keine grossen Veränderungen durch die Coronapandemie», sagt Internatsleiter Reto Christ. «Aber die ganze Situation ist eine grosse Herausforderung für alle: für die Schüler, für die Eltern sowie für die Mitarbeiter.» Es müssten immer wieder Anpassungen ins Schutzkonzept eingebaut werden, die Massnahmen kommuniziert und auch umgesetzt werden. «Wenn bei einem Kind oder einer Betreuungsperson Krankheitssymptome auftreten, muss die entsprechende Reaktion korrekt und schnell erfolgen.»

Wie vermutlich in jedem anderen grösseren Betrieb oder im privaten Umfeld auch gibt es CoronaskeptikerInnen. Die Diskussion darüber, ob eine Maske hilft oder nicht, kommt ebenfalls immer wieder vor. Für die Leitung erfordert dies zusätzliche Geduld, aber auch eine gewisse Gelassenheit.

Friedliche Atmosphäre

Der Internatsleiter erklärt im Gespräch auch, wie der Beschluss für einen Eintritt in die Sonderschule erfolgt: «Wenn in der Regelschule oder auch vor dem Eintritt in den Kindergarten ein Kind Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten zeigt, findet zuerst ein Standortgespräch über das Kind mit den Eltern statt.» Dort werde dann gemeinsam geklärt, ob sonderpädagogische Massnahmen nötig sind oder nicht. Wenn diese als nötig erachtet werden, führt der Schulpsychologische Dienst eine Abklärung durch und gibt den Schulbehörden des Wohnorts eine Empfehlung. Wenn es keine Massnahmen braucht, bleibt das Kind wie bisher in der Regelschule.

Christ erklärt weiter: «Eine von mehreren sonderpädagogischen Massnahmen ist die integrative Förderung. Dabei wird das Kind in der Regelschule von einem schulischen Heilpädagogen unterstützt und gefördert.» Wenn das nicht möglich ist, weil das Kind beispielsweise in der Klasse zu sehr stört, wird ein Eintritt in eine sonderpädagogische Tagesschule in Betracht gezogen. «Falls auch eine soziale Indikation dazu kommt, kann der schulpsychologische Dienst eine stationäre Sonderschulung empfehlen. Eine soziale Indikation liegt vor, wenn es der Familie und den Eltern nicht möglich ist, das Kind zu Hause zu betreuen und es entsprechend zu fördern.»

Durch das Fenster hinter Reto Christ sind die Berge sichtbar. Sie sind mit Schnee überzogen. Der Himmel ist rot-orange gefärbt. Unterhalb des Schulheims beim nächsten Gebäude bellt ein Hund. Sonst ist es abends ganz still. Die Kinder sind entweder auf ihren Wohngruppen oder bei ihren Familien oder Pflegefamilien zu Hause. Eine friedliche Atmosphäre legt sich über die ganze Umgebung. Ab und zu erklingt irgendwo ein Lachen oder ein Gespräch.

*Die Namen der SchülerInnen wurden von den AutorInnen geändert.