2015: erschreckender Klimawandel
Mit Verspätung, endlich: Ich reise an die Konferenz, die ich seit über einer Woche aus der Distanz beobachte. Fahrt mit dem TGV durch schöne, spätherbstlich-sonnige französische Landschaften; erst in Paris Regen.
Heute wird ein wissenschaftliches Paper bekannt, demzufolge die weltweiten CO2-Emissionen im Jahr 2015 erstmals gesunken sind, ohne dass der Rückgang auf eine Wirtschaftsschrumpfung zurückzuführen ist.
Das erinnert mich daran, dass die blosse Jahreszahl «2015», als sie noch eine Zukunft bezeichnete, mir einst Angst einflösste. Es war vor dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen, ich las zahlreiche Berichte und nahm an Veranstaltungen teil, und da gab es einen Bericht – kam er vom Wissenschaftlichen Beirat der deutschen Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU)? –, der verschiedene Szenarien skizzierte. Im optimistischsten war die Trendwende bis 2015 geschafft, wonach die Emissionen zu sinken beginnen. In diesem Szenario lasse sich das Ziel, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, noch einigermassen plausibel erreichen. Es gab auch Szenarien, in denen die Trendwende erst später geschafft wurde; umso schneller mussten danach aber die jährlichen Emissionen sinken, um das globale CO2-Budget nicht zu überziehen – zu schnell, als dass die Szenarien noch als realistisch gelten könnten.
Und es war, glaube ich, Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung und WBGU-Mitglied, der das Wort «Kriegswirtschaft» verwendete – nur in einer Kriegswirtschaft liessen sich die Emissionen so schnell senken, wie es die pessimistischeren Szenarien erforderten. Sollte sich das Sinken der Emissionen im zu Ende gehenden Jahr nicht als anekdotisch, sondern als echte Trendwende erweisen, hätten wir es also gerade noch ohne Kriegswirtschaft geschafft.
Seit zehn Jahren befasse ich mich beruflich mit dem Klimawandel. Natürlich hatte ich mich schon zuvor dafür interessiert – ein wenig; ich dachte, es wäre schade, wenn meine Kinder dereinst fast keine Gletscher mehr sehen könnten; wie wichtig diese Gletscher für die Wasserversorgung der Schweiz sind, war mir damals noch nicht bewusst, ebenso wenig wie sehr viel gravierendere Folgen des Klimawandels drohen als schmelzende Gletscher. Mein Buch «Wir Schwätzer im Treibhaus. Warum die Klimapolitik versagt» erschien 2008, und ich schrieb die letzten Kapitel kurz vor der Geburt meiner zweiten Tochter. Es war eine schwer auszuhaltende Spannung zwischen der Lektüre zutiefst pessimistischer Berichte über die ökologische Zukunft der Erde und der Erwartung neuen Lebens.
Damals erlebte ich es zum ersten Mal, dass Jahreszahlen mich ängstigten. Viele globale Zukunftsszenarien bezogen sich auf das Jahr 2050, andere auf 2100. 2050 war für mich einfach immer weit weg gewesen; nun realisierte ich, dass meine Tochter dann noch nicht so alt sein würde wie ich es damals war, und sollte sie so alt werden wie ihr Urgrossvater, würde sie sogar 2100 erleben.
Es passiert mir auch heute immer mal wieder, dass ein Bericht, eine Zahl, eine Grafik mir plötzlich Angst macht; plötzlich wieder aus der Verdrängung hervorruft, was ich doch eigentlich längst weiss – und wovon ich doch immer hoffe, es könne sich dereinst durch ein Wunder als falsche Befürchtung erweisen. Eine solche Grafik ist die, welche diesen Blog illustriert: Die Linien sind die Temperaturkurven für alle Jahresverläufe seit 1880. Die oberste Linie steht für 2015: Da schiesst etwas, was lange einigermassen kontinuierlich zugenommen hat, plötzlich oben hinaus.
Und es gab kürzlich in meiner Feierabendlektüre so einen Satz, den ich hier aus dem Gedächtnis zitieren muss, der mich ebenso ängstigte. Ich las das Buch «Natur und Macht», eine Umwelt-Globalgeschichte meines Lieblings-Umwelt- und Technikhistorikers Joachim Radkau. Er erwähnte, wenn ich mich recht erinnere, dass die französische Landschaft in den letzten 25 Jahren mehr Veränderung erfahren habe (es könnte auch ein anderer Indikator gewesen sein) als in der gesamten Geschichte seit der Besiedelung Frankreichs durch die ersten Menschen.
Es geht hier nicht um ein Erschrecken darüber, dass die Welt sich verändert; nicht um ein konservativ-nostalgisches Festhaltenwollen am Vertrauten. Nein: Plötzlich katapultieren wir uns in Sphären, wo menschliche Erfahrungswerte nicht mehr zählen! In einer einzigen Generation verändert sich die Umwelt stärker als in Jahrtausenden zuvor, und die meisten Entwicklungen beschleunigen sich noch. Wird man die Frage, ob man aus Geschichte lernen könne, plötzlich mit ganz anderen Gründen verneinen müssen als den Gründen jener ZynikerInnen, für die «der Mensch» einfach unbelehrbar ist? Weil alles, was geschieht, plötzlich jedes Vorbilds in der Geschichte entbehrt?
Mich schaudert. Vielleicht wird sich die Emissionszahl von 2015 ja als Trendwende erweisen. Glauben will ich es, auch wenn es mir wenig glaubhaft erscheint.