Erdöl: Opec nicht zuständig

Der Ölpreis ist so hoch wie noch nie. Schlittert die Welt in eine dritte Ölkrise?

Dass die Organisation Erdöl produzierender Staaten (Opec) die Kontrolle über den Ölpreis wieder einmal verlieren würde, hatten viele Experten vorausgesagt – aber nicht, dass er nach oben ausbrechen würde. Bei 47 US-Dollar lag der Preis an der New Yorker Rohstoffbörse Nymex bei Redaktionsschluss. Das ist der höchste Nominalwert, seitdem die Börse 1983 eingerichtet wurde und mit ihren «Futures» – langfristigen Spekulationen auf den Ölpreis – die Dynamik des Ölmarkts grundlegend veränderte.

Die Opec bemüht sich, die Marktteilnehmer zu beruhigen. Am Mittwoch letzter Woche sagte der saudi-arabische Ölminister Ali Naimi, sein Königreich könne 1,3 Millionen zusätzliche Barrel pro Tag auf den Markt pumpen. Opec-Präsident Purnomo Yusgiantoro erläuterte, die Opec habe noch 2 Millionen Barrel pro Tag Restkapazität. Und der iranische Opec-Gouverneur hielt die Organisation für die Preisentwicklung nicht verantwortlich: Es seien bereits 2,8 Millionen Barrel mehr auf dem Markt als tatsächlich nachgefragt. Sogar die Internationale Energie-Agentur der westlichen Industriestaaten spricht von «irrationaler Übertreibung» bei der Preisbildung. Trotzdem klingen die beruhigenden Töne der Opec-Staaten hohl, denn die stabilisierende Kontrolle, die den Konsumentenstaaten immer wieder versprochen wird, ist dem Preiskartell entglitten.

Alles scheint zusammenzukommen: Die Nachfrage aus Asien ist überraschend stark. Die Jukos-Affäre in Russland droht, den Produzenten eines Fünftels der gesamten russischen Förderung lahm zu legen. Venezuela kämpft weiterhin mit politischer Instabilität, und die venezolanische Produktion hat sich seit dem Streik in der Ölindustrie vom Dezember 2002 nicht ganz erholt. Die irakische Exportpipeline in die Türkei ist schon seit einigen Monaten funktionsunfähig. Unlängst wurde auch die Hauptleitung im Süden vorübergehend stillgelegt. Zu den Preissprüngen hat auch Spekulation am Ölmarkt beigetragen.

Doch langfristige Beobachter des Ölpreises weigern sich, alles auf eine Verkettung unglücklicher Umstände zu schieben. Denn auch die grundlegenden Faktoren des Ölmarkts haben sich in den letzten Jahren verändert. Bei ihrem nächsten Ministertreffen Mitte September wird die Opec wohl über weniger Reservekapazitäten verfügen als je zuvor in ihrer 44-jährigen Geschichte. In den achtziger Jahren lag das ungenutzte Produktionspotenzial in Barrel pro Tag teils im zweistelligen Millionenbereich. Selbst der Durchschnitt der letzten 10 Jahre liegt bei 5 Millionen Barrel pro Tag. Es ist also egal, ob heute 500 000 oder 2 Millionen Barrel übrig sind: Die Sicherheitsmarge ist stark geschrumpft, und das in einem internationalen Umfeld, das kaum unsicherer sein könnte.

Oft fehlte in Opec-Staaten einfach das Kapital, um die Kapazität zu erweitern oder, wie im Falle Irans, auch nur zu erhalten. Saudi-Arabien ist der einzige Staat mit nennenswertem Polster, und aufgrund der Terrorbedrohung ist es selbst – zumindest in den Köpfen der Ölspekulanten – zu einem Wackelkandidaten geworden. Die politische «Risikoprämie» beim Ölpreis liegt schätzungsweise zwischen 4 und 8 Dollar.

Auch die stets um Effizienz bemühten Ölmultis halten heutzutage weniger Vorräte, mit denen sie Märkte abfedern könnten. Die Produktion in der Nordsee läuft langsam, aber stetig aus, und neue Fördergebiete in Westafrika oder im kaspischen Raum werden langsamer erschlossen, als man in den neunziger Jahren noch gehofft hatte.

Engpässe mit psychologischer Rückwirkung gibt es auch bei den Raffineriekapazitäten. «Die USA haben seit den Siebzigern keine neue Raffinerie gebaut», beschwert sich ein hochrangiger Berater der saudischen Regierung, «kein Wunder, dass das Benzin knapp wird. Wir würden in Amerika Raffinerien bauen, aber das wollen die nicht.»

So alarmierend die Zahlen auch wirken: Der Ölpreis hat weniger weltwirtschaftliche Hebelwirkung als in den Siebzigern. Der Energieumsatz macht selbst in den USA nur noch geschätzte 2,5 Prozent der Gesamtwirtschaft aus, Mitte der Siebziger lag der Anteil noch bei 5 Prozent. Und inflationsbereinigt liegt der heutige Ölpreis noch unter dem vom Herbst 1990, kurz vor Beginn des ersten Irakkriegs. Zum Höhepunkt der zweiten Ölkrise von 1981 kostete das Öl nach heutigen Preisen volle 80 Dollar.

In kaum einem Bereich der Weltpolitik liegen die Erklärungen so weit hinter den Fakten zurück wie beim Öl. Deswegen ist die Zukunft vor allem eines: unsicher. Klar ist allerdings, dass weitere, auch weit dramatischere Engpässe möglich sind. Preise über 50 Dollar werden regelmässig vorausgesagt. Andererseits ist wegen der spekulativen Anspannung des Marktes bei einer weltpolitischen Beruhigung auch eine relativ schnelle Umkehr der Preise denkbar.

Nicht-Opec-Produzenten und Konsumenten werden jedenfalls auf anhaltend hohe Preise reagieren. Einerseits wird es sich lohnen, Ölreserven in abgelegenen Regionen zu erschliessen, andererseits steigt der Anreiz, auf andere Energiequellen umzusteigen – sei es Atomkraft, Gas oder Wasserstoff. Die Opec ist bei all dem eher vorübergehend «Hans im Glück» und nicht der Weltverschwörer, als der sie öfter dargestellt wird.

Wer kassiert?

Wer am Öl wie viel verdient, hängt davon ab, wo es produziert wird und – damit zusammenhängend – unter welcher Form von Arbeitsteilung und Eigentumsrechten. Verschieden hohe Preise haben je nach Produzent unterschiedliche Tragweite. In Saudi-Arabien zum Beispiel geht der Löwenanteil der Einnahmen an den staatlichen Ölgiganten Saudi Aramco, egal ob der Preis bei 18 oder bei 45 Dollar liegt. Die Produktionskosten liegen bei vielleicht 2 Dollar pro Barrel, die internationalen Transportkosten noch niedriger.

Ganz anders das Bild bei marginalen Produzenten wie in der Nordsee: Das Barrel kann dort in der Produktion über 10 Dollar kosten. Dafür verfügen internationale Konzerne über weit grössere Kontrolle und Gewinnanteile. Irgendwo dazwischen liegen Arrangements wie «Production Sharing» oder «Buy Back», die man im kaspischen Raum, in Iran und in Lateinamerika findet. Diese räumen internationalen Konzernen grössere Gewinnbeteiligung ein, ohne ihnen formal Eigentumsrechte zu übertragen. Zumindest im kaspischen Raum aber können die Gewinnmargen für alle Beteiligten knapp sein: Die Ausbeute ist oft technisch anspruchsvoll, und da der direkte Zugang zu den Weltmeeren fehlt, können die Transportkosten alleine höher sein als die saudischen Gesamtkosten.

Grosse Ölkonzerne sind zumeist «vertikal integriert» und operieren auf allen Ebenen der Ölausbeute und -verwertung. Dadurch sind sie geschützt gegen Preisschocks. Generell bedeuten höhere Preise aber auch für sie mehr Einkommen.