Jeder ein kleiner General

Manchmal fährt die Geschichte auch Karussell. Ziemlich genau 45 Jahre ist es her, dass Frankreichs Parlament das Projekt einer Europa-Armee abservierte. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) überlebte im August 1954 ihre Ratifizierungsdebatte nicht, weil die französischen ParlamentarierInnen die gemeinsame Armee nicht wollten. Aus Misstrauen gegenüber den Deutschen und weil so kurz nach dem Weltkrieg niemand schon wieder Deutsche in Uniform sehen mochte. Doch heute lässt der Kosovo-Krieg alte Fantasien spriessen. Frankreichs Militärstrategen denken nun laut über eine europäische Eingreiftruppe nach. Die müsse «mindestens 60 000 Mann» umfassen, «so viel wie die SFOR in Bosnien», sagte François Heisbourg, einer der renommiertesten Militärstrategen der Grande Nation, jüngst bei einer Sicherheitstagung.
Heisbourg, derzeit Direktor des Zentrums für Sicherheitspolitik in Genf, vormals Direktor des Internationalen Instituts für strategische Studien in London und dazwischen auch einmal Manager der französischen Rüstungsfirmen Thomson und Matra, wünscht sich, dass die Europäische Union sofort überallhin Soldaten verschicken könne. Der Jugoslawien-Krieg macht plötzlich möglich, was früher undenkbar schien - französische Soldaten in rein europäischer Waffenbrüderschaft Seite an Seite mit den unberechenbaren Deutschen und den stets verdächtig US-freundlichen Briten.
Nach sieben Wochen Bomben-Krieg fühlt sich die französische Armee nämlich einigermassen blamiert. Dass sie seit 1966 eigentlich ausserhalb der militärischen Nato-Struktur steht (und nur für die Dauer des Krieges in die Kommandostruktur integriert wurde), heute aber auf den Oberbefehl eines US-amerikanischen Nato-Generals hören muss, ist nur schwer erträglich. Dazu kommt die tägliche Schmach: Seit Kriegsbeginn haben Frankreichs Piloten mehr Bomben ins Meer als auf Serbien geworfen. Sechzig hochmoderne Bomber hat sich die Armee bauen lassen, doch zum Nachtflug sind nur acht Maschinen einsatzfähig - mehr Navigationscomputer sind nicht vorhanden. Bei Matra Systems gehen nun auch noch die Raketen aus, die Generäle müssen bei den Amerikanern kaufen. Empörung herrscht auch über die Verteilung der Ausgaben und der technischen Ergebnisse. Europa habe 500 000 Soldaten mehr als die USA und gebe 145 Milliarden Dollar fürs Militär aus, rechnet François Heisbourg vor - das entspreche sechzig Prozent des US-Verteidigungshaushalts: «Aber wir bekommen nicht einmal sechzig Prozent der Informationen aus der militärischen Aufklärung.» Die Folgerungen lägen auf der Hand, sagen Ministerialbeamte in Paris: es brauche höhere Militärausgaben, stärkere Konzentration der europäischen Rüstungsindustrie und eine schlagkräftige europäische Verteidigungsgemeinschaft. Das Instrument für diese Politik fehle bedauerlicherweise noch, sagt der sozialistische Verteidigungsminister Alain Richard, aber es sei in Arbeit. Beim nächsten EU-Gipfel im Juni (in Köln) wollen die fünfzehn EU-Mitglieder einen Monsieur PESC finden (politique étrangère et de sécurité commune) und ihm gleich noch den Posten des Generalsekretärs der WEU geben, der Westeuropäischen Union, dem Verteidigungsbündnis der EU.
Der Krieg liefert Frankreich ein weiteres Argument. Mit einer Europa-Armee könnten sich die PolitikerInnen endlich von der Vormundschaft der USA lösen, unter der sie besonders schwer leiden. Denn mit dem Sturz der EVG hat sich Paris ein Eigentor geleistet: Kaum war die Verteidigungsgemeinschaft 1954 endgültig vom Tisch, kam die deutsche Wiederbewaffnung. Washington bot der Bundesrepublik den Eintritt in die Nato an, und Frankreich rangierte in der Allianz fortan nur noch unter «ferner liefen».
So schlägt in Frankreich nun die Stunde der Hobby-Strategen und Verteidigungsminister in spe. Der bürgerliche Abgeordnete Jacques Myard ruft beispielsweise nach einem ständigen Rat der europäischen Verteidigungsminister. Die neutralen EU-Staaten (Österreich, Irland, Schweden und Finnland) sollten ihren Sonderstatus besser gleich aufgeben, empfiehlt Pierre Lellouche, ebenfalls Abgeordneter und Vertrauter von Staatspräsident Chirac. In Paris fühlt sich heute jeder als General. «Si on fait la guerre, on fait la guerre», sagt etwa Arthur Paecht, Vizepräsident des französischen Parlaments: «Wenn wir Krieg machen, dann machen wir ihn richtig.» Ein Blick auf die Landkarte zeige auch, wo das Grenzland flach ist (zwischen Ungarn und Serbien nämlich) und wo die Panzer der Nato-Bodentruppen vorstossen könnten, falls sie denn wirklich einmal rollen sollten. Aber Europa, so fügt er bedauernd hinzu, habe nicht einmal genügend grosse Flugzeuge, um ihre Panzer zu transportieren. Das Modell einer solchen europäischen Grossraummaschine hat Airbus längst angefertigt (Typenbezeichnung A 400 M), der Bau dieses Flugzeugs war den EU-Regierungen bislang aber zu teuer.
Arthur Paecht hat den Staatspräsidenten zum Nato-Gipfel nach Washington begleitet, als die Allianz ihren 50. Geburtstag mit einstürzenden Donaubrücken und einer neuen Sicherheitsdoktrin zelebrierte. Frankreichs Strategen wiederholen heute nicht mehr den Fehler, offen gegen die Nato anzurennen - «der Nato-Rahmen ist unersetzlich», heisst es nun im Pariser Verteidigungsministerium. Tatsächlich aber beginnen sie, in dem Salat an Staatenbündnissen, die der Kalte Krieg hinterlassen hat (WEU, OSZE, EU, Nato, euro-atlantischer Kooperationsrat), eine Struktur zu finden, die ihnen passt: eine jederzeit einsatzfähige europäische Armee innerhalb der Nato. Als Vorlage verweisen die Strategen nun vor allem auf das britisch-französische Abkommen von Saint-Malo vom Herbst 1998 - «ein brillantes Dokument». Paris und London haben sich damals auf eine engere Zusammenarbeit der Generalstäbe in europäischen Krisenfällen verständigt.
Jacques Chirac hat bereits vor drei Jahren (beim Nato-Gipfel in Berlin) einen Anlauf unternommen, den US-Militärs das Regionalkommando Europa-Süd in Neapel abzujagen und mit einem europäischen, vorzugsweise französischen Offizier zu besetzen. Damals scheiterte der Versuch am Widerstand des Pentagon.