Was plant die EU?: In den transatlantischen Trümmern

Nr. 10 –

Die jüngsten Turbulenzen haben die EU in eine schwierige Lage gebracht. Mit einer verteidigungspolitischen Offensive will sie die Flucht nach vorne antreten.

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Wolodimir Selenski mit Ursula von der Leyen am 24. Februar in Kyjiw
Wird getan, «was immer es braucht»? Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski mit Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, am 24. Februar in Kyjiw. Foto: Javad Parsa, Imago

Als Ursula von der Leyen Ende 2019 ihre erste Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission antrat, liess sie mit einem ambitionierten Ziel aufhorchen: Eine «geopolitische Kommission» kündigte die deutsche Christdemokratin an, die Europas Einfluss in der zukünftigen Weltordnung selbstbewusst geltend machen solle. Worte, die damals Aufsehen erregten, denn auch wenn die EU auf weltwirtschaftlicher Ebene unbestritten eine Führungsrolle spielte, nahm man sie als selbstständige globale Akteurin deutlich weniger wahr. Dazu war die Entwicklung zu einer politischen Union in vielen Mitgliedsländern umstritten.

Etwas mehr als fünf Jahre später ist der Kontrast durchaus dramatisch. «Wir leben in einer der bedeutsamsten und gefährlichsten Zeiten», eröffnete von der Leyen am Dienstag eine kurze Presseansprache in Brüssel. Dort stellte sie die Kernpunkte eines Plans namens «ReArm Europe» («Europa wiederbewaffnen») vor, der beim Brüsseler Krisengipfel der EU am Erscheinungstag dieser WOZ auf der Tagesordnung steht. Knapp 800 Milliarden Euro an zusätzlichen Verteidigungsausgaben sollen damit für die Sicherheit Europas mobilisiert werden, so die Präsidentin. «Dies ist ein Moment für Europa. Und wir sind bereit.»

Die Idee einer gemeinsamen Verteidigungspolitik bis hin zu einer europäischen Armee gehört in Brüssel und Strassburg bereits seit einigen Jahren zu den anvisierten Bereichen, in denen sich die weitere politische Integration der EU-Staaten vollziehen kann. Im Verlauf des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sie sich freilich konkretisiert. Verantwortlich dafür war neben den realen Bedrohungsszenarien östlicher Mitgliedsländer und Beitrittskandidaten auch die anhaltende Diskussion um den Verteidigungshaushalt. Die sogenannte Nato-Norm von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), die für Rüstung ausgegeben werden sollen, bestand bis vor kurzem in den meisten Ländern nur auf dem Papier.

Der Schreck sitzt tief

Der Druck, den Donald Trump seit seinem Wiedereinzug ins Weisse Haus auf die europäischen Nato-Partner ausübt, sorgt bei den EU-Staaten seit Wochen für Anspannung. Trump, der schon während seiner ersten Amtszeit mit einem Nato-Austritt der USA drohte, sollte Europa das Rüstungsbudget nicht erhöhen, fordert mit Nachdruck fünf Prozent des BIP. Die Vorgänge rund um die Münchener Sicherheitskonferenz Mitte Februar machten zusätzlich deutlich, dass Washington der EU keine Rolle bei Verhandlungen zu einem Kriegsende in der Ukraine zudenkt und sie zugleich in der Pflicht sieht, für die künftige Sicherheit des Landes aufzukommen.

Spätestens nach dem Eklat vom vergangenen Wochenende und der Abkanzelung Wolodimir Selenskis durch Donald Trump und seinen Vize J. D. Vance versteht man in Brüssel, dass man sich auf einem transatlantischen Trümmerfeld befindet. Der Schreck über den brüskierenden Rückzug des jahrzehntelangen Bündnispartners sitzt tief – auch wenn von der Leyen am Dienstag trotzig verkündete: «Die Frage ist nicht länger, ob Europas Sicherheit sehr real bedroht ist oder ob Europa mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen sollte. Die wirkliche Frage ist, ob Europa bereit ist, so entschieden zu handeln, wie die Situation es erfordert.»

Dass das der Fall ist, will die EU in diesen hektischen Wochen zumindest deutlich demonstrieren. Dabei wird ein Muster sichtbar: Den jeweiligen Rückzugsschritten der US-Regierung aus der transatlantischen Allianz folgt ein eilig anberaumtes Krisentreffen, auf dem sich einmal mehr herausstellt, dass ein solches Staatenbündnis zwangsläufig schwerfälliger in seiner Entschlussfindung ist als eine Grossmacht, zumal wenn sich diese gerade auf der autoritären Überholspur befindet. Umso schmerzhafter ist diese Erkenntnis in einer Situation, in der künftige Sicherheitsgarantien für die Ukraine sowie die eigene Fähigkeit zur Verteidigung für erheblichen Handlungsbedarf sorgen – und zwar unter enormem Zeitdruck.

In den letzten Wochen zeigte sich das bei den Krisentreffen in Paris und in London. In Paris wurde – nicht zum ersten Mal – klar, dass Frankreich und Grossbritannien die Entsendung von Truppen zum Schutz der Ukraine befürworten, Deutschland dies jedoch als verfrüht ablehnt. In London trugen die Teilnehmenden dem Rechnung, indem sie eine «Koalition der Willigen» beschlossen, die nach einer Beendigung des Krieges die künftige Sicherheit der Ukraine nicht nur unterstützen, sondern auch mit Truppen garantieren soll. Die Leitung soll bei Frankreich und Grossbritannien liegen, über die weiteren Teilnehmenden gibt es noch keine Klarheit.

Neue Achse über den Kanal

Was sich hingegen abzeichnet, ist, dass die Europäische Union nicht zwangsläufig identisch mit dem Dach ist, unter dem sich diese Kooperation abspielt. Bei beiden besagten Treffen war nur eine bestimmte Zahl an EU-Mitgliedstaaten vertreten, dafür waren in London jedoch auch Vertreter:innen der Türkei und Kanadas sowie Nato-Generalsekretär Mark Rutte anwesend. Daneben bestätigt sich die unter Premierminister Keir Starmer begonnene Wiederannäherung Grossbritanniens an die EU.

Derzeit ist die Trans-Kanal-Partnerschaft zwischen den militärischen Schwergewichten Grossbritannien und Frankreich also die Achse, um die sich das Feld nach dem transatlantischen Zerwürfnis neu konstituiert. Ein weiterer Akteur der europäischen Bemühungen um ein Kriegsende und Verhandlungen, bei denen die Ukraine mit am Tisch sitzt, ist die «Group of Five», bestehend aus Frankreich, Grossbritannien, Polen, Italien und Deutschland. Ihre Verteidigungsminister beraten sich seit November regelmässig über die Unterstützung der Ukraine und europäische Sicherheitspolitik. Das nächste Treffen steht am 12. März in Paris an.

Die neue Dynamik auf dem europäischen Parkett zeigt sich an einem Social-Media-Post von Kaja Kallas, der EU-Aussenbeauftragten. «Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht», kommentierte die frühere Premierministerin Estlands, die als besonders kremlkritisch bekannt ist. «Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen.» Inwieweit die EU eine solche Rolle spielen kann, ist fraglich. Der Brüsseler Gipfel vom Donnerstag wird daher eine Standortbestimmung.

Die Rahmenbedingungen für den Gipfel haben sich zu Wochenbeginn noch einmal verschärft: Die Ankündigung Donald Trumps, ab sofort die US-amerikanische Militärhilfe für die Ukraine einzustellen, bis diese sich auf «Frieden» ausrichte, erhöht den Druck auf Kyjiw und seine europäischen Verbündeten. Stefan de Keersmaecker, Sprecher der EU-Kommission, wollte sich laut einem Blog-Bericht auf dem europäischen Nachrichtenportal euractiv.com dazu am Dienstag nicht äussern. Benjamin Haddad, der französische Europaminister, sagte dem Sender France 2, damit verstärkten sich «nur die Chancen des Besetzers, und das ist Russland». Der estnische Aussenminister Margus Tsahkna forderte gegenüber der Nachrichtenagentur ERR, Europa müsse nun die Lücke füllen, die die USA hinterlassen hätten.

Umso mehr im Fokus steht damit der eingangs erwähnte Aufrüstungsplan der Kommission. Wie Präsidentin von der Leyen bei der Präsentation vorrechnete, soll eine Lockerung der Verschuldungsregeln den Mitgliedstaaten ermöglichen, ihre Rüstungsausgaben um 1,5 Prozent zu erhöhen. Auffällig ist, dass die Ausnahme nur für diesen bestimmten Haushaltsposten gelten soll, womit laut von der Leyen in vier Jahren fast 650 Milliarden Euro für Rüstungszwecke frei würden. Ein EU-Fonds für Verteidigungsinvestitionen soll für weitere 150 Milliarden sorgen. Zudem will man es Banken erleichtern, Rüstungsprojekte zu finanzieren, und womöglich Geld aus EU-Fördertöpfen umleiten.

Aufrüstung statt Klimaschutz

Mit dem Brüsseler Sondergipfel wird nun die politische Debatte über diesen Plan beginnen – und darüber, ob die aussen- und geopolitische Notlage einen entsprechend schwerwiegenden Kurswechsel in der Haushaltspolitik rechtfertigt. Die neuesten Entwicklungen in Berlin, wo sich die angehende Grosse Koalition Deutschlands auf milliardenschwere Investitionen in die Verteidigung einigte, deuten in diese Richtung. «Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens auf unserem Kontinent muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: ‹Whatever it takes›», zitiert die ARD-«Tagesschau» den künftigen Bundeskanzler Friedrich Merz.

Als Schattenseite dieser Entwicklung zeichnet sich derweil ab, dass der Fokus auf Verteidigungshaushalt und Aufrüstung andere Politikfelder nicht nur überschattet, sondern auch finanziell zu ihren Lasten geht. Über den längst abgeschwächten Green Deal, das nachhaltige Vorzeigeprojekt aus von der Leyens erster Amtszeit, spricht in diesen hektischen Spätwinterwochen niemand mehr. Klimaschutzmassnahmen sind nicht nur in der überall erstarkenden populistischen Rechten ein rotes Tuch, sondern ebenfalls in weiten Teilen der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der etwa die CDU-Politikerin von der Leyen angehört. Und auf eine «Whatever it takes»-Vorgabe beim Kampf gegen Armut und Ungleichheit oder zur sozialen Abfederung von Nachhaltigkeitspolitik warten viele Europäer:innen vergeblich.

Fraglich bleibt indes, inwieweit es unter den EU-Mitgliedstaaten Zustimmung für diesen Kurs gibt. Der kremlnahe ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán warnte EU-Ratspräsident António Costa schriftlich, dass es auf dem Gipfel keinen gemeinsamen Standpunkt geben werde. Sein slowakischer Amtskollege Robert Fico liess via X verlauten: «Wenn der Gipfel nicht respektiert, dass es andere Meinungen gibt als einfach weiterzumachen mit dem Krieg, dann wird der Europäische Rat sich nicht einig werden können.»

Vor dem Hintergrund des jüngsten Wahlerfolgs der AfD in Deutschland, die von der Trump-Regierung ebenso offen unterstützt wird wie die britische Rechtsaussenpartei Reform UK, und des Aufschwungs rechtspopulistischer Parteien quer durch den Kontinent dürfte somit auch eine geopolitisch orientierte EU vor einigen internen Turbulenzen stehen.