Fromm und radikal

Le Monde diplomatique –

Wie der religiöse Zionismus zur Staatsdoktrin wurde

Rabbi Meir Kahane in New York, Oktober 1988
Rabbi Meir Kahane in New York, Oktober 1988 Foto: SUSAN RAGAN/picture alliance/AP

Am 1. November finden in Israel zum fünften Mal innerhalb von kaum mehr als drei Jahren Parlamentswahlen statt. Laut Umfragen haben die nationalistischen Rechtsparteien und die mit ihnen verbündeten religiösen Zionisten klar die Nase vorn – besonders bei den 18- bis 25-jährigen Wählerinnen und Wählern. Die Prognosen sagen der von Benjamin Netanjahu angeführten Allianz eine satte Mehrheit von 70 der 120 Sitze voraus. Dazu gehören auch die Partei „Der Religiöse Zionismus“ (HaTzionut HaDatit) um Bezalel Smotrich und die „Jüdische Stärke“ (Otzma Jehudit) unter Itamar Ben Gvir, denen Umfragen 11 bis 14 Mandate zutrauen.

Ein Grund für diese Entwicklung ist, dass die nationalistisch-religiöse Ideologie sich in Teilen der israelischen Gesellschaft immer mehr festsetzt. Einer der prominentesten Wortführer dieser Strömung ist der israelisch-amerikanische Autor Yoram Hazony, dessen Thesen in ultrarechten Kreisen in Amerika und Europa weit verbreitet sind. Sein Buch „The Virtue of Nationalism“ fand bei konservativen Milieus in den USA gleich nach Erscheinen im September 2018 großen Anklang, wurde ein Bestseller und wurde in rund zwanzig Sprachen übersetzt.1

Den Entschluss, dieses Buch zu schreiben, hatte Hazony zwei Jahre zuvor gefasst, als er nach dem Brexit-Votum in Großbritannien und nach der Wahl Donald Trumps in den USA den Nationalismus im Aufwind sah. Das Buch wurde wegweisend für Ultranationalisten in aller Welt und soll prägenden Einfluss auf die außenpolitische Trump-Doktrin2 gehabt haben. Auch Ungarns Präsident Victor Orbán ist ein Fan und zitiert Hazony regelmäßig.

In Hazonys Theorie finden sich – mit Ausnahme des Antisemitismus – die meisten Aspekte des „integralen Nationalismus“ des rechtsradikalen französischen Publizisten Charles Maurras (1868–1952) wieder: der Abgesang auf den Universalismus, die Ablehnung der Ideale der Aufklärung und der Prinzipien der Französischen Revolution; das Ganze umgemünzt auf die heutige Zeit.

Hazony sieht die Europäische Union als imperialistisches Gebilde, getrieben von dem Wunsch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wieder auferstehen zu lassen. Hitler war nach Hazonys Meinung kein Nationalist, sondern Imperialist.

Wenige Monate nach Erscheinen seines Buchs gründete Hazony in Washington die Edmund Burke Foundation mit dem erklärten Ziel, „den Nationalkonservatismus in den westlichen und in anderen Demokratien zu stärken“. Edmund Burke war ein britischer Staatsmann, der sich 1790 als großer Kritiker der Französischen Revolution und der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ hervortat. Co-Vorsitzender der nach ihm benannten Stiftung ist David Brog, früherer Präsident der US-Organisation „Christians United for Israel“ mit 10 Millionen Mitgliedern.

Im Juni 2022 formulierte die Burke Foundation ihre Weltanschauung in dem Manifest „National Conservatism: A Statement of Principles“,3 das französische Leser an den (mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierenden) französischen Staatschef Pétain erinnern wird – auch hier abzüglich der antisemitischen Elemente. In der Präambel heißt es: „Wir sehen die Tradition der unabhängigen und selbstbestimmten Nationalstaaten als notwendiges Fundament für ein Gemeinwesen, das sich wieder an den richtigen Werten orientiert: Patriotismus, Mut, Ehre, Loyalität, Religion, Weisheit, Familie, Mann und Frau, den Sabbat, Vernunft und Gerechtigkeit. Wir sind konservativ, denn wir sind überzeugt, dass diese Werte für den Erhalt unserer Zivilisation unentbehrlich sind.“

In Artikel 4 („Gott und öffentliche Religion“) wird postuliert: „Wo die Christen in der Mehrheit sind, muss das öffentliche Leben im Christentum und seiner moralischen Haltung verankert sein. Der Staat und die öffentlichen und privaten Institutionen müssen diese Haltung respektieren. Die Juden und die anderen Minderheiten müssen geschützt werden.“

Hazonys ideologischer Werdegang begann bereits als Student in Princeton. Im Frühjahr 1984 sprach dort Rabbi Meir Kahane vor 250 jüdischen Studierenden. Der in den USA wegen Terrorismus verurteilte Gründer der Jewish Defense League (JDL) war in Israel mehrmals wegen der Vorbereitung von Anschlägen gegen Palästinenser in Haft, 1990 wurde er Opfer eines Mordanschlags. Kurz vor seiner Rede in Princeton war er als Kandidat der offen rassistischen Kach-Partei in die Knesset gewählt worden.

Auf den Spuren Kahanes

Für Hazony war der Abend eine Offenbarung: „Wir waren wie hypnotisiert. Rabbi Kahane war der einzige jüdische Anführer, der sich für unser Leben interessierte und zu uns kam, um uns zu sagen, was wir tun sollten. Er schien als Einziger zu begreifen, wie dringend wir einen überzeugenden Grund brauchten, um Juden zu bleiben.“4 Später beteuerte Hazony, er habe sich die politische Weltsicht des Kahanismus, der vor Gewalt nicht zurückschreckte, nie zu eigen gemacht.

Was er sich sehr wohl zu eigen machte, war die neomessianische Theologie Kahanes: „Lasst uns nicht vergessen, dass wir in das Land Israel gekommen sind, um einen jüdischen Staat zu errichten und nicht einen Staat nach westlichem Vorbild. Wir müssen uns von jüdischen Werten und nicht von den kurzlebigen Werten der westlichen Welt leiten lassen. Was für uns gut oder schlecht ist, lassen wir uns weder vom Liberalismus noch von der Demokratie und auch nicht von der Idee eines vermeintlichen Fortschritts vorschreiben.“5

Fünf Jahre nach der Begegnung in Princeton schloss Hazony sich mit seiner Ehefrau und den vier gemeinsamen Kindern einer Gruppe amerikanischer Familien an, die mit ihm als Anführer die Siedlung Eli mitten im besetzten Westjordanland gründete. Als er 1994 an der Rutgers University in New Jersey seine Dissertation in Politischer Philosophie einreichte, war er schon Redakteur der Jerusalem Post, Israels großer englischsprachiger Tageszeitung, die kurz zuvor von einem kanadischen Pressekonzern übernommen worden und politisch nach rechts geschwenkt war. Chefredakteur David Bar Ilan fand Gefallen an dem jungen israelisch-amerikanischen Siedler und machte ihn mit Likud-Parteichef Netanjahu bekannt.

Hazony war an der Entstehung des Buchs „A Place Among the Nations“ beteiligt, in dem der künftige Premierminister sein politisches Programm darlegte. Darin ist Hazonys Handschrift bereits deutlich erkennbar – und zwar an der Art und Weise, wie er die Geschichte seinen Theorien anpasste. So propagierte er das unter Historikern äußerst umstrittene Narrativ, die Juden seien nicht nach dem gescheiterten Bar-Kochba-Aufstand im Jahr 135 n. Chr. durch die Römer aus Palästina vertrieben worden, sondern erst 637 während der islamischen Expansion durch die Araber.6

Auch an anderer Stelle hinterließ Hazonys Einfluss seine Spuren, wenn Netanjahu behauptet: „Die israelische Linke leidet an einer chronischen Krankheit, die das jüdische Volk schon seit einem Jahrhundert heimsucht. Diese Krankheit heißt Marxismus und prägte die linken, linksextremen und kommunistischen Bewegungen in Osteuropa.“ Diese Krankheit erkläre auch, warum linke Israelis nach dem Krieg vom Juni 1967 die eroberten Gebiete zurückgeben wollten.

Mit finanzieller Unterstützung vermögender US-Amerikaner, die Netanjahu nahestanden, wurde 1994 in Jerusalem das Schalem-Zentrum (Merkaz Shalem) gegründet – eine Denkfabrik, die „Antworten auf die Identitätskrise des jüdischen Volkes geben“ soll. In der Zeitschrift Nekuda, dem Sprachrohr der Siedlerbewegung, schrieb Hazony: „Das ist mein Lebensziel: Ich will aufzeigen, dass das marxistisch-zionistische Konzept in Israel gescheitert ist. An dieses Konzept glaubt niemand mehr. Heute müssen wir für die Zukunft des jüdischen Volksgedankens insgesamt kämpfen – und besonders in Israel.“7

Im Jahr 2000 veröffentlichte Hazony sein Buch „The Jewish State. The Struggle for Israel’s Soul“8. Darin behandelt er das, was er als das große Komplott gegen das jüdische Wesen Israels bezeichnet. Die Verschwörung reiche bis in die 1920er Jahre zurück, als bedeutende jüdische Intellektuelle wie der US-amerikanische Reformrabbiner, Pazifist und Antinationalist Judah Leon Magnes und der Philosoph Martin Buber, der für Verständigung mit den Arabern und einen binationalen Staat warb, in Jerusalem die Hebräische Universität gründeten.

Auch der große Historiker und Philosoph Gershom Scholem, Experte für jüdische Mystik, habe Schuld auf sich geladen, indem er den führenden Zionisten empfahl, die messianischen Elemente innerhalb ihrer Bewegung zu bekämpfen. Damit habe er allen politischen Forderungen der Zionisten die Grundlage entzogen.

Erst kürzlich hatte Asa Kasher, Philosophieprofessor an der Universität Tel Aviv, gewagt, den demokratischen Charakter Israels zu verteidigen: „Ein jüdischer Staat im wörtlichen Sinn ist ein Staat, dessen soziale Natur von der jüdischen Identität seiner Bürger ausgeht. In einem jüdischen und demokratischen Staat ist die Natur des Staates nicht durch Zwang, sondern durch die freie Entscheidung der Bürger bestimmt.“

Der ehemalige Siedler (inzwischen wohnte Hazony in Jerusalem) empörte sich daraufhin: „Kasher behauptet, ein ‚jüdischer und demokratischer‘ Staat sei ein Land, dessen Bewohner Juden sind und der Staat eine universalistische Demokratie ist. Mit anderen Worten: Ein ‚jüdischer und demokratischer Staat‘ ist ein nichtjüdischer Staat!“ Nach dieser gegen den Universalismus gerichteten Logik trägt das demokratische Prinzip zur Entjudaisierung Israels bei.

Hazonys Idee von Israel rief zahlreiche Gegner auf den Plan – allen voran die Richter des obersten Gerichts. Aharon Barak etwa, 1995 bis 2006 Präsident des obersten Gerichtshofs, definierte die Werte Israels als jüdischer Staat als „die universellen und gemeinsamen Werte, die die Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft teilen“.

Die wichtigsten israelischen Schriftsteller gerieten ebenfalls in Hazonys Schusslinie. Ihnen wirft er vor, sie lehnten die Idee eines jüdischen Staats ab. Dazu zählen Amos Oz, für den der Nationalismus ein Fluch der Menschheit war, und Abraham B. Jehoshua, der für eine „Normalität“ Israels warb. Auch David Grossman wurde von Hazony attackiert: „Er bringt Israel bei, dass Schwäche eine Tugend sei, und schwächt damit die Nation.“

Dank seiner Verbindungen zu den Republikanern und den rechten jüdischen Kreisen in den USA ist Hazony eine zentrale Figur im ideologischen Ökosystem des religiösen Zionismus. Dieses System hat sich im Laufe der Jahre aus messianischen Rabbinern und ultranationalistischen Organisationen gebildet. Finanziert wird es zum größten Teil vom 1998 gegründeten „Tikvah Fund“, dessen Mittel vor allem von reichen US-amerikanischen Geldgebern stammen.

Als Thinktank dieses religiösen Zionismus fungiert das 2012 gegründete Kohelet Policy Forum, das nach Meinung der israelischen Tageszeitung Haaretz in der Knesset insgeheim die Fäden zieht.9 Mit seiner Lobbyarbeit hat der Thinktank dafür gesorgt, dass am 19. Juli 2018 das diskriminierende Nationalstaatsgesetz verabschiedet wurde.

Darin ist festgeschrieben: „Der Staat Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes, in dem es sein natürliches Recht auf kulturelle, religiöse und historische Selbstbestimmung ausübt. Die Verwirklichung dieses nationalen Selbstbestimmungsrechts im Staat Israel ist allein dem jüdischen Volk vorbehalten. Der Staat betrachtet die Entwicklung jüdischer Siedlungen als nationalen Wert und wird deren Errichtung und Stärkung fördern und unterstützen.“ Damit erhielt Yoram Hazonys Gedankengut in Israel den Rang eines Gesetzes.

1 Yoram Hazony, „Nationalismus als Tugend“, Graz (Ares) 2020.

2 Michael Anton, „The Trump Doctrine“, Foreign policy, Washington, D. C., 20. April 2019.

3„National Conservatism: A Statement of Principles“, The Edmund Burke Foundation, 15. Juni 2022.

4Jerusalem Post, 9. November 1990.

5 Meir Kahane, „Our Challenge: The Chosen Land“, Philadelphia (Chilton), 1974.

6 Benjamin Netanyahu, „A place Among the Nations. Israel and the World“, London (Transworld) 1993.

7Nekuda, Ariel, Nr. 180, September 1994.

8 Yoram Hazony, „The Jewish State. The Struggle for Israel‘s Soul“, New York (Basic Books) 2000.

9„The Right-wing Think Tank That Quietly ‚Runs the Knesset‘ “, Haaretz, Tel Aviv, 5. Oktober 2018.

10 Siehe Charles Enderlin, „Der Weg in die Ethnokratie“, LMd, September 2018.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Charles Enderlin ist Journalist.