Kurswechsel in der Taiwanfrage?
Nach der Pelosi-Reise könnten die USA ihre strategische Zweideutigkeit aufgeben
Schon lange bevor die US-Air-Force-Maschine mit Nancy Pelosi an Bord am 2. August in Taiwan landete, hatte sich das Verhältnis zwischen Washington und Peking sukzessive verschlechtert. Die Biden-Regierung arbeitete darauf hin, um China herum ein Netz von Militärbündnissen zu spinnen; zugleich intensivierte die Xi-Regierung ihre aggressiven Militärübungen im Ostchinesischen und im Südchinesischen Meer (siehe Kasten im Anschluss an diese Text).
Dennoch stand es um die bilateralen Beziehungen noch nicht so miserabel, dass es Washington und Peking nicht möglich gewesen wäre, über eine Zusammenarbeit in Sachen Klimakrise und bei anderen wichtigen Themen zu sprechen, wie es Joe Biden und Xi Jinping in ihrer Videokonferenz vom 28. Juli getan hatten.
Doch der Taiwanbesuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses bedeutet einen neuen Bruch in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen. Er hat alle Aussichten auf eine Kooperation zunichte gemacht – mit dem Ergebnis, dass sich die militärische Konkurrenz weiter verschärft und das Risiko eines Kriegs steigt.
Seitdem die USA 1978 diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China aufgenommen haben, hielten sich ihre Repräsentanten (zumindest öffentlich) an das „Ein China“-Prinzip, was bedeutet: Washington erkennt an, dass Taiwan und Festlandchina zu „einem China“ gehören, aber nicht zwingend eine politische Einheit bilden.
Zugleich haben sich die USA 1979 im sogenannten Taiwan Relations Act (TRA) verpflichtet, die Regierung in Taipeh je nach Bedarf mit Waffen zu versorgen. Laut TRA betrachtet Washington zudem jeden Versuch Chinas, den Status der Insel mit gewaltsamen Mitteln zu verändern, als Fall von „ernster Besorgnis“. Diese unklare Formulierung ist strategische Absicht, denn sie lässt offen, ob die USA im Ernstfall tatsächlich eingreifen würden.
Durch die Kombination dieser beiden Konzepte ist es bisher gelungen, in der Region eine Form von Stabilität zu bewahren: Die Anerkennung des „Ein China“-Prinzips hindert Peking an einer übereilten Übernahme der Insel; die „strategische Zweideutigkeit“ wiederum lässt Taipeh wie Peking im Unklaren darüber, wie die USA reagieren würden, wenn Taiwan seine Unabhängigkeit erklären und China mit einer Invasion antworten würde. Sie soll also beide Seiten von vorschnellen Aktionen abhalten.
Offiziell halten die Verantwortlichen in Washington immer noch am beschriebenen Doppelkonzept fest. Doch in den letzten Monaten haben führende Köpfe im Kongress und in der Biden-Regierung einen zweifachen Richtungswechsel angedeutet: hin zu einer Politik, die von zwei Staaten ausgeht (One China, one Taiwan), und hin zu „strategischer Klarheit“.
Präsident Biden selbst befördert diese Tendenz. Mehrfach erklärte er, sein Land habe eine „Verpflichtung“, Taiwan im Fall einer chinesischen Invasion zu verteidigen – obwohl das nicht die offizielle Politik der USA ist.1 Für einen Strategiewechsel spricht auch, dass Biden und andere hohe Regierungsvertreter verbündete Staaten wie Australien, Japan und Südkorea verpflichten wollen, an der Seite der US-Streitkräfte zu stehen, sollten diese in einen Krieg mit China verwickelt werden.
Dass im Kongress parteiübergreifend für Waffenlieferungen an Taiwan gestimmt wurde2 und immer wieder hochrangige Delegationen von Abgeordneten nach Taipeh reisten, deutet ebenfalls auf einen Kurswechsel hin. Zudem gibt es Pläne, den Taiwan Relations Act von 1979 neu zu fassen und dabei die „strategische Zweideutigkeit“ durch eine Beistandspflicht zu ersetzen.3
Die chinesische Führung hat all diese Aktivitäten mit wachsender Verunsicherung verfolgt. Speziell Xi Jinping, der eine dritte Amtszeit an der Spitze der Volksrepublik anstrebt, sieht die Wiedervereinigung mit Taiwan als oberstes Ziel seiner Politik, als eine Voraussetzung für die „Revitalisierung“ der Nation.
Xi soll in seinem Gespräch mit Biden am 28. Juli in Bezug auf Taiwan erklärt haben: „Der entschlossene Schutz der nationalen Souveränität und territorialen Integrität Chinas ist der feste Wille von 1,4 Milliarden Menschen. Diejenigen, die mit dem Feuer spielen, werden daran zugrunde gehen.“4
All dies war Nancy Pelosi bekannt. Sie wusste, dass ihr Besuch in Taipeh die Lage verschärfen wurde. Aus dem Weißen Haus wie aus dem Pentagon wurde sie gewarnt, dass ihre Reise gerade zu dieser Zeit die Führung der Volksrepublik vor den Kopf stoßen und eine harte Reaktion provozieren würde.
Sie entschloss sich dennoch zu fahren. Mehr noch: Sie sorgte dafür, dass ihr Reise maximale internationale Aufmerksamkeit erhielt, indem sie das Ganze als Geheimoperation inszenierte. Das lässt nur den Schluss zu, dass ihr Taiwanbesuch klar darauf angelegt war, China zu provozieren und den US-amerikanischen Kurswechsel zu beschleunigen. Mit allen damit verbundenen Risiken.
Wenn das Pelosis Intention war, hat sie ihr Ziel größtenteils erreicht. Obwohl sich das Weiße Haus bemühte, die chinesische Seite über das System der Gewaltenteilung in den USA aufzuklären, war Peking nur schwer davon zu überzeugen, dass die demokratische Politikerin nur für sich selbst und nicht für die Biden-Regierung sprach.
Als Geheimoperation inszeniert
Aus Sicht Pekings war Pelosis Besuch nichts anderes als der vorläufige Höhepunkt einer von Weißem Haus und Kongress gemeinsam initiierten Abkehr von der „Ein China“-Politik, die auf die Anerkennung Taiwans als unabhängiger Staat zusteuert. Die Biden-Regierung versuchte zwar noch die Situation zu entschärfen und beteuerte, es gebe in der Politik der USA „keine Veränderung“; aber das scheint niemanden in Peking überzeugt zu haben.
Nur zehn Tage nach Pelosis Taiwanbesuch veröffentlichte das chinesische State Council Information Office ein neues Weißbuch zur „Taiwanfrage“. Darin bekräftigt Peking seinen Willen, die Wiedervereinigung mit Taiwan auf friedliche Weise zu erreichen. Zugleich geht daraus hervor, dass man auch zum Einsatz militärischer Mittel bereit sei, um jeden Widerstand seitens der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung oder ihrer ausländischen Unterstützer zu brechen. „Wir sind bereit, einen großen Spielraum für die friedliche Vereinigung einzuräumen“, heißt es in dem Weißbuch. „Aber wir werden keine separatistische Aktivitäten zulassen und keinerlei Einmischung von außen hinnehmen.“5
Begleitet werden solche offiziellen Verlautbarungen durch militärische und diplomatische Schritte, die zweierlei demonstrieren sollen: dass Peking „Einmischungen von außen“ – wie den Besuch von Pelosi – nicht mehr toleriert und dass es bereit dazu ist, Taiwan zu blockieren oder sogar anzugreifen, sollte die Insel weitere Schritte in Richtung Unabhängigkeit unternehmen.
Um diese Position zu unterstreichen, hat China eine Reihe beunruhigender Aktionen durchgeführt. Am 4. August feuerte die chinesische Volksbefreiungsarmee (PLA) elf ballistische Raketen des Typs DF-15 auf Meereszonen östlich, nordöstlich und südöstlich von Taiwan ab, womit sie wohl die Bereitschaft zur Blockade der Insel signalisieren wollte. Fünf dieser Raketen gingen offenbar in der japanischen ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) nieder, was die Botschaft aussendet, dass ein Krieg um Taiwan rasch auf Japan übergreifen würde, wo sich zahlreiche US-Militärbasen befinden.6
Am 6. August verkündete, die PLA werde ihre Kommunikation mit dem US-Militär einstellen, durch die unbeabsichtigte Zusammenstöße zwischen Flugzeugen oder Kriegsschiffen vermieden werden sollen. Zugleich wurden Gespräche über zentrale Themen wie die Klimakrise und die globale Gesundheitskrise ausgesetzt.7
Am 7. August meldeten chinesische Staatsmedien, dass die PLA in der Taiwan-Straße fortan „regelmäßige“ Manöver auf der östlichen (Taiwan zugewandten) Seite der Mittellinie durchführen werde. Bisher haben die chinesischen Streitkräfte ihre Aktionen weitgehend auf die westliche Hälfte der Taiwan-Straße beschränkt. Durch regelmäßige Militärübungen in der östlichen Hälfte erhöht Peking den Druck auf Taiwan und testet zugleich seine Operationspläne für eine mögliche Invasion.
Die Biden-Regierung hat all diese Maßnahmen und Ankündigungen als „unverantwortlich“ verurteilt. Zugleich erklärte Außenminister Blinken am 6. August in Manila: „Differenzen zwischen unseren beiden Ländern sollten kein Hindernis dafür sein, dass wir bei der Lösung globaler Probleme kooperieren“. Andere Länder würden zu Recht erwarten, dass die USA und China weiterhin auf Gebieten zusammenarbeiten, die „für ihr und unser Leben und Überleben wichtig sind“.8
Diese Bemerkungen beschreiben die Realität leider ziemlich zutreffend. Aber es wäre falsch und irreführend, allein China für die verfahrene Situation verantwortlich zu machen. Gerade Blinken hat in den letzten zwölf Monaten fast pausenlos daran gearbeitet, Allianzen zur Eindämmung Chinas auf die Beine zu stellen.
In jedem Fall markiert Pelosis Besuch in Taiwan den Beginn einer neuen Ära verschärfter Spannungen und militärischer Konkurrenz zwischen China und den USA. In dieser Situation kommt es darauf an, das „blame game“ einzustellen und zu geschäftsmäßigen Verhandlungen mit der Pekinger Führung zurückzukehren. Vor allem muss die Kommunikation zwischen Militärs beider Seiten wieder aufgenommen werden, um das Risiko eines heißen Konflikts zu reduzieren.
Dabei könnten die USA zusagen, die Patrouillen ihrer Kriegsschiffe in der Taiwan-Straße einzustellen, und als Gegenleistung fordern, dass Peking seine Streitkräfte nur noch westlich der Mittellinie operieren lässt. Vor allem aber müsste die Biden-Regierung glaubhaft vermitteln, dass sie die Unabhängigkeit Taiwans nicht unterstützt und der Führung in Taipeh keine Zusage über eine automatische militärische Unterstützung machen wird, für den Fall, dass diese sich in Richtung Unabhängigkeit bewegen sollte.
Den Pelosi-Besuch kann man nicht ungeschehen machen. Aber es muss alles dafür getan werden, dass die veränderte Situation nicht in einen Krieg mündet.
1 Siehe zum Beispiel John Ruwitch, „Would the US defend Taiwan if China invades? Biden said yes. But it’s complicated“, National public radio (NPR), Washington, 28. Oktober 2021.
2 Ende August wurde bekannt, dass die US-Regierung offenbar plant, den Kongress um die Bewilligung eines weiteren Waffendeals mit Taiwan zu bitten. Siehe: „Biden administration to ask Congress to approve $1.1B arms sale to Taiwan“, Politico, 29. August 2022.
3 Olivier Knox, „Senate looks to update and deepen US-Taiwan relationship“, Washington Post, 1. August 2022.
4 „President Xi Jinping Speaks with US President Joe Biden on the Phone“, Chinesisches Außenministerium, 29. Juli 2022.
5 Der gesamte Text unter: „The Taiwan Question and China’s Reunification in the New Era“, State Council Information Office, Peking, August 2022.
6 Sam LaGrone und Heather Mongilio, „11 Chinese Ballistic Missiles Fired Near Taiwan“, U.S. Naval Institute News, 4. August 2022.
7 Vincent Ni, „China halts US cooperation on range of issues after Pelosi’s Taiwan visit“, The Guardian, 6. August 2022.
8 „Blinken: China Should Not Hold Global Concerns ‚Hostage‘ “, AP, 6. August 2022.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Michael T. Klare ist emeritierter Professor für Friedens- und Sicherheitspolitik am Hampshire College und Mitbegründer des „Committee for a Sane U.S.-China Policy“.
Mit scharfer Munition
Vom 1. bis 7. September waren chinesische Truppen für ein gemeinsames Militärmanöver in Russland. Angesichts der Schlagzeilen in westlichen Medien hätte man annehmen können, es handele sich um eine neue Etappe in den russisch-chinesischen Beziehungen.
Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Peking seine Truppen schickt, um an den Militärübungen unter dem Namen „Wostok“ (Russisch für „Ost“ oder „Orient“) teilzunehmen, die seit 2008 in unterschiedlicher Besetzung und Größe regelmäßig stattfinden. Neben chinesischen Soldaten waren in diesem Jahr auch Truppen aus Indien an dem Manöver beteiligt, ebenso wie Militärs aus Belarus, der Mongolei und Tadschikistan.
Im Vorfeld des diesjährigen „Wostok 2022“ veröffentlichte das chinesische Verteidigungsministerium eine Stellungnahme, in der es erklärte, die chinesische Teilnahme gründe auf einem „Vertrag über bilaterale Zusammenarbeit“ und stehe in „keinen Zusammenhang mit der aktuellen internationalen und regionalen Situation“.
Zwischen Moskau und Neu-Delhi besteht ebenfalls ein Abkommen über strategische und militärische Partnerschaft. Doch Indien nimmt eben auch an gemeinsamen Militärübungen mit Japan und den USA teil. Genau vor einem Jahr trafen sie sich im Rahmen des gemeinsamen Manövers „Malabar“, nur einen Steinwurf von der chinesischen Küste entfernt. Und im November werden indische Truppen an der Seite von amerikanischen GIs den Ernstfall im Himalaja proben, in weniger als 100 Kilometer Entfernung von der umstrittenen Grenze zum chinesischen Nachbarn.
Asien und insbesondere die Seegebiete sind zu militärischen Spielfeldern zwischen Peking und Washington geworden. Und die Anrainerstaaten bemühen sich um gute Beziehungen in beide Richtungen.
Vom 12. bis 14. August führten die USA Übungen mit scharfer Munition zusammen mit Indonesien, Australien, Japan, Singapur und Thailand durch. Thailand hatte nur wenige Tage zuvor an einem Manöver mit China teilgenommen. Doch der Einfluss Washingtons ist nach wie vor größer. Davon zeugt auch das riesige Manöver vom 22. August bis 1. September an der Grenze zu Nordkorea, an dem 28 000 in Südkorea stationierten US-Soldaten, die 7. Flotte der U.S. Navy und südkoreanische Truppen teilnahmen.
Martine Bulard