Irak – Schiiten gegen Schiiten

Le Monde diplomatique –

Nach einem Jahr politischer Dauerkrise sollte die Wahl eines Staatspräsidenten durch das irakische Parlament am 13. Oktober 2022 – und vor allem die Ernennung eines neuen Premierministers – wieder Ruhe ins Land bringen. Aber davon kann keine Rede sein.

Proteste von Al-Sadr-Anhängern, Bagdad, 25. Oktober 2022
Proteste von Al-Sadr-Anhängern, Bagdad, 25. Oktober 2022 Foto: AMEER AL-MOHAMMEDAWI/picture alliance/dpa

Das Tauziehen zwischen den beiden großen schiitischen Lagern im Irak wird so schnell nicht enden. Denn weder die Wahl von Präsident Abdul Latif Raschid noch die Ernennung von Premierminister Mohammed Schia al-Sudani bieten einen Ausweg.

Es begann nach den Parlamentswahlen im Oktober 2021, die wegen der massiven Proteste im Herbst 2019 vorgezogen worden waren.1 Eindeutiger Wahlsieger – allerdings bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 41 Prozent – wurde wie schon 2018 die schiitische Bewegungspartei von Muqtada al-Sadr. Sie gewann mit Abstand die meisten Sitze – 73 von 328 – gefolgt von der Fortschrittspartei des Sunniten und Ex-Gouverneurs der Provinz Anbar, Mohammed al-Habousi, (43 Sitze) und dem gemäßigt proiranischen Bündnis State of Law (38 Sitze).

Doch al-Sadr, der als Vorkämpfer eines irakischen Souveränismus auftritt, gelang es nicht, eine Mehrheitsregierung zu bilden. Die anderen schiitischen Parteien und Milizen, die mehrheitlich unter dem Einfluss Irans stehen, verbündeten sich gegen ihn und schmiedeten eine Allianz, die sie „Koordinationsrahmen“ nannten.

Beide schiitische Lager – das souveränistische und das proiranische – verfügen über große politische und militärische Macht. Sie legten das Land über Monate lahm, weil sie nicht imstande waren, einen Kompromiss zu finden. Im Verlauf des vergangenen Sommers stiegen die Spannungen immer weiter an. Es kam zu Besetzungen und Demonstrationen in der besonders gesicherten „Grünen Zone“ von Bagdad, in dem das Parlament und viele Botschaften liegen. In der Nacht des 29. August 2022 kamen bei Feuergefechten zwischen den rivalisierenden Milizen Dutzende Menschen ums Leben.

Glücklicherweise beruhigte sich die Lage innerhalb weniger Stunden wieder, vor allem aufgrund einer 180-Grad-Wende al-Sadrs.2 Nachdem er seine Anhänger erst kurz zuvor in die Grüne Zone geschickt hatte, drohte er ihnen mit Konsequenzen, wenn sie sich nicht zurückzögen.

Über al-Sadrs Kehrtwende ist viel spekuliert worden. Am plausibelsten erscheint die Annahme, dass sich der schiitische Großajatollah Ali al-Sistani eingemischt hat. Bestätigen lässt sich diese These allerdings nicht, weil es weder von dem 92-jährigen Geistlichen noch aus seinem engsten Umfeld eine öffentliche Stellungnahme dazu gibt.

Diese neue innerschiitische Fitna (Spaltung) ist noch lange nicht überwunden, auch wenn der 48-jährige al-Sadr auf dem Höhepunkt der Krise Ende August verkündete, er werde sich aus dem politischen Leben zurückziehen. Bereits im Juni waren die 73 Abgeordneten seiner Parlamentsfraktion geschlossen zurückgetreten.

Raketen auf die Grüne Zone

Mit seinem Rückzug überließ al-Sadr seinen Gegnern vom Koordinationsrahmen vorerst das Feld. Einige seiner Unterstützer schlossen sich schnell der Gegenseite an, was zumindest für die Einigung der beiden dominierenden – und miteinander konkurrierenden – kurdischen Parteien auf einen präsidialen Kandidaten äußerst hilfreich war; nach der Verfassung von 2005 muss das Präsidentenamt nämlich mit einem Kurden besetzt werden.3

Die Demokratische Partei Kurdistans (DPK), die vom Barsani-Clan dominiert wird und zu al-Sadrs Verbündeten gehört, akzeptierte schließlich die Ernennung Abdel Latif Raschids von der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die mit Dschalal Talabani, Fuad Masum und Barham Salih seit 2005 alle bisherigen Präsidenten im Post-Hussein-Irak gestellt hat.

Nachdem die Hürde der Präsidentenwahl genommen war, folgte der Rest wie von allein. Tatsächlich sieht die irakische Verfassung vor, dass der neue Präsident nach seiner Wahl durch das Parlament innerhalb von zwei Wochen einen Premierminister aus den Reihen der größten Parlamentsfraktion ernennen muss. Nach dem Rückzug des Al-Sadr-Blocks war das der Koordinationsrahmen. So wurde der ehemalige Gouverneur der Provinz Maisan und Minister für Menschenrechte (2010–2014) Mohammed Schia al-Sudani zum Premier berufen.

Für al-Sadr war die Ernennung al-Sudanis allerdings eine Schmach. Noch im Juli hatte er den 52-jährigen Amtsanwärter kategorisch abgelehnt und seine Anhänger zum Sturm auf das Parlament aufgerufen. Und am Tag von al-Sudanis Nominierung am 13. Oktober schlugen in unmittelbarer Umgebung der Grünen Zone neun Katjuscha-Raketen ein.

Doch der neue Premier ließ sich nicht davon einschüchtern und machte sich sogleich an die Bildung einer Regierung. Von Anfang an war klar, dass diese ohne die Sadristen auskommen muss. Al-Sadr hatte erklärte, dass sich kein Mitglied seiner Bewegung an der Regierung al-Sudanis beteiligen werde.

Ein paar Kilometer nordöstlich der Grünen Zone liegt Sadr City. In diesem riesigen Stadtteil mit seinen schachbrettartig angelegten Straßen und unbefestigten Gassen leben über 2 Millionen Menschen inmitten von Müll und Schlammpfützen – nicht selten fallen Schüsse.

Die Marginalisierung von Sadr City hat gewissermaßen Tradition; die Armut ist hier allgegenwärtig. Dennoch ist Sadr City weit davon entfernt, sich aus der Politik herauszuhalten. Der Stadtteil ist nach Muqtadas Vater Muhammad Sadiq al-Sadr benannt, einem hoch angesehenen schiitischen Großajatollah, der unter Saddam Hussein als Befürworter der Religionsfreiheit auftrat. Am 19. Februar 1999 wurde er mit zwei seiner Söhne ermordet – höchstwahrscheinlich im Auftrag des Baath-Regimes (siehe Beitext im Anschluss an diesen Text).4 Auch wenn hier alle politischen Strömungen vertreten sind, ist der Ort eine Hochburg der Sadr-Anhänger geblieben.

Seit den Zusammenstößen in der Grünen Zone Ende August haben die Spannungen in Sadr City zugenommen. Für viele, die hier leben, ist der Feind klar: die Haschd al-Schaabi, die Volksmobilisierungseinheiten. Diese Koalition aus etwa 70 unterschiedlichen irakischen Milizen, die überwiegend dem proiranischen schiitischen Lager nahestehen, wurde 2014 gegründet, um gegen den Islamischen Staat (IS) zu kämpfen. Später wurden die Milizen in die staatlichen Streitkräfte integriert.

Seitdem sind die Haschd al-Schaabi sowohl militärisch als auch politisch zum Machtfaktor aufgestiegen – gegen den sich das sadristische Lager in Position bringt. So erzählten uns mehrere Bewohner in Bagdad, sie hätten über Wochen Detonationen in den Vororten der Stadt gehört. Es heißt, die sadristischen Milizionäre der Saraya al-Islam (Friedensbrigaden) trainierten dort heimlich mit schweren Waffen.

„Nach der Ernennung des Premierministers hat das aufgehört, aber die Wut ist noch größer geworden“, erzählt ein junger Mann, der bei der Protestbewegung von 2019 dabei war. „Die Sadristen sind frustriert und warten nur auf Anweisungen von ihrem Anführer.“ Er zeigt uns Chatverläufe aus Whatsapp-Gruppen, in denen al-Sadrs Unterstützer „in Kontakt bleiben und sich auf den Ernstfall vorbereiten.“

„Die Sadr-Anhänger hier sind ganz normale Leute, Ladenbesitzer, Taxifahrer, Arbeitslose“, erklärt ein Anwohner. „Im Gegensatz zu den Haschd al-Schaabi bekommen sie kein Gehalt. Aber wenn Muqtada al-Sadr sie braucht, dann stehen sie bereit. Es gibt hier viele Leute, die ihm folgen.“

Für den 25-jährigen Sajad, der in Sadr City als Lehrer arbeitet, ist Muqtada al-Sadr die einzige Hoffnung für das Land: „Er hat gegen die Amerikaner gekämpft, als sie den Irak besetzten, und jetzt gegen den Iran und seine Milizen.“ Al-Sadr sei der einzige Politiker „mit irakischem Blut in den Adern“. Das würden selbst seine Gegner anerkennen. „Iran ist unser Nachbarland, und das sollte es auch bleiben. Seine Einmischung im Irak, seine Milizen und die Parteien, die unser Land kontrollieren, zerstören uns.“

Milizionäre in der Totenstadt

Der 30-jährige Malik ist arbeitslos und berichtet von dem Groll, den die Bewohner des Viertels seit jeher gegen den Zentralstaat hegen: „Wir lebten schon immer am Rand der Gesellschaft und so geht es weiter. Es gibt keine Arbeit, der Alltag hier ist hart, und zwar für alle.“ Die Schulen seien schlecht, die Infrastruktur miserabel, und es gebe keine Dienstleistungen, erzählt Malik. Dabei habe Sadr City dem Irak so viel gegeben, mit seinen Schriftstellern und Akademikern. „Und nicht zu vergessen all die Märtyrer, die im Kampf gegen den IS und gegen die Amerikaner ihr Leben geopfert haben. Die meisten kamen von hier. Der Irak hat uns nichts zurückgegeben.“

Wir fahren nach Nadschaf, 180 Kilometer südlich von Bagdad. Die heilige Stadt wird oft als Hauptstadt des schiitischen Islams bezeichnet. Trotz der innerschiitischen Spaltung herrscht hier fromme Ruhe, die sicher auch vom relativen Wohlstand herrührt, der durch die vielen Pilger in die Stadt kommt.

Der Friedhof Wadi al-Salam (Tal des Friedens) vor den Toren Nadschafs gilt mit seinen 5 Millionen Gräbern als größte Totenstadt der Welt. Hier liegt auch Abu Mahdi al-Muhandis begraben, ein Anführer der Haschd al-Schaabi, der im Januar 2020 zusammen mit dem Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden Qasem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff getötet wurde.5

Vor dem Mausoleum, wo al-Muhandis aufbewahrt wird, stehen Dutzende Menschen. Viele haben Tränen in den Augen. Ein Milizionär ruft, dass „dieser Tod, der noch nicht gerächt wurde, eines Tages gerächt werden wird“. Die Milizen sind hier offensichtlich gern gesehen. Trotzdem scheinen sich die beiden verfeindeten schiitischen Lager innerhalb der Friedhofsmauern gut zu vertragen: „Die Sadristen kommen ebenfalls hierher, und wir gehen zum Mausoleum von al-Sadr, es gibt keine Probleme“, versichert der Milizionär.

Nebenan steht ein Mausoleum, in dem hunderte Kämpfer der Asa’ib Ahl al-Haqq begraben liegen, einer einflussreichen Gruppe innerhalb der Haschd al-Schaabi. Im Innern trauert eine Familie um ihre Angehörigen, die an der Front gegen den IS gefallen sind. Sie machen sich zwar Sorgen um die Zukunft des Landes. Aber der Verlust ihrer Söhne bestärkt sie in ihren politischen Ansichten und Loyalitäten.

„Sie sind als Märtyrer gefallen, um den Irak zu retten“, sagt ein trauernder Vater. „Zuerst haben sie gegen al-Qaida gekämpft, später gegen die Amerikaner.“ Als im Februar 2014 der IS vor den Toren Bagdads stand, sei niemand außer ihnen in der Lage gewesen, die Hauptstadt zu verteidigen. „Sie haben es getan, und sie gaben ihr Leben für uns alle hier. Ohne all die Märtyrer von Asa’ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Hisbollah oder der Badr-Organisation würde der Irak nicht mehr existieren. Heute müssen wir uns für sie einsetzen, und für ein stabiles Land.“

Ein paar hundert Meter weiter liegt der sadristische Teil der Nekropole. Hier ist die Stimmung weniger traurig als kämpferisch. Die Besucher zeigen stolz Medaillons und Porträtfotos ihres Anführers. „Wir werden ihn bis zum Tod verteidigen. Er ist wichtiger als der Irak und sogar wichtiger als meine Eltern“, erklärt der 22-jährige Haider. Neben ihm steht ein etwa 30-jähriger Mann und sagt: „Früher haben uns die Amerikaner alles genommen. Und heute sind es die Iraner, die uns von innen heraus auffressen, auch wenn sie vorgeben, nur unser Bestes zu wollen.“

Etwas südlich der Totenstadt liegt der Imam-Ali-Schrein. Die Besucher kommen aus allen Gegenden des Südirak. Viele signalisieren, dass sie kein Interesse daran haben, über die politische Lage im Land zu sprechen. Der 43-jährige Jabar Ahmoud ist mit seiner Familie aus Basra angereist. Die Fahrt war eine kostspielige Angelegenheit für den arbeitslosen Vater von zehn Kindern.

Aus der Gegend um Basra kommen über 70 Prozent des irakischen Öls, aber die Stadt ist mehr denn je von Armut und Arbeitslosigkeit geplagt. Und die politischen Turbulenzen der vergangenen 12 Monate haben auch in Basra ihre Spuren hinterlassen. Inzwischen sind die Milizen der Haschd al-Schaabi quasi zum größten Arbeitgeber in der Region geworden. Wer sich ihnen anschließt, bekommt nicht nur ein Gehalt, sondern auch soziale Anerkennung.

In den vergangenen Wochen kam es in Basra immer häufiger zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Haschd al-Schaabi und den Sadristen. Das ließ das Schlimmste befürchten. Der Familienvater Jabar erzählt von Feuergefechten Anfang Oktober. Die rivalisierenden Gruppen hätten sich in zwei verschiedenen Stadtteilen verschanzt. „Die Gefahr ist da, aber ich glaube, dass Großajatollah al-Sistani und die religiösen Autoritäten uns retten und Ordnung schaffen werden.“

Sehr wahrscheinlich hat die religiöse Führung maßgeblich dafür gesorgt, dass die Unruhen vom 29. und 30. August schnell wieder endeten. Aber heißt das auch, dass die marja’iyya (die schiitische religiöse Führung) dauerhaft in der Lage sein wird, den Konflikt der beiden verfeindeten politischen Lager zu entschärfen?

Als klerikale Institution übernimmt die Marja’iyya eine neutrale, gern auch übergeordnete Position und mischt sich nicht in die politischen Angelegenheiten ein. Diese Rolle hat mit zu ihrem Ansehen beigetragen.

Aber sie ist zugleich ein Schwachpunkt, meint Robin Beaumont, Politikwissenschaftler und Spezialist für den politischen Islam im Irak: „Ihre Anordnungen werden nur dann umgesetzt, wenn es den schiitischen politischen Blöcken in Bagdad in den Kram passt. Sobald die Marja’iyya die Regeln des politischen Systems infrage stellt, wie es seit 2003 besteht, wird das stets ignoriert.“ So geschah es beispielsweise mit Aufrufen zur Beendigung der Korruption und des ethnisch-konfessionellen Quotensystems.

Diese überparteiliche Position ermögliche es dem schiitischen Klerus, die Illusion zu wahren, er sei ein Bindeglied zwischen den politischen Blöcken, erläutert Beaumont. „Aber meiner Meinung nach ist das, was wir seit 2003 erleben, die Umgehung der religiösen Autorität durch die Politik.“

Beaumont ist jedoch der Ansicht, es sei unwahrscheinlich, dass die Situation im Irak völlig aus dem Ruder läuft. „Al-Sistani hat allein durch seine Anwesenheit eine mäßigende Wirkung. Sollte es erneut zu Zusammenstößen kommen, würde er sich öffentlich von den beteiligten Akteuren distanzieren, und das will niemand.“

Muqtada al-Sadr erscheint im Moment geschwächter und angreifbarer denn je. Das hat nicht zuletzt mit dem überraschenden Rückzug seines religiösen Mentors Großajatollah Kasem al-Haeri Ende August zu tun. Al-Haeri lebt im iranischen Ghom und hat aus gesundheitlichen Gründen seine klerikalen Funktionen aufgegeben.

Seitdem steht al-Sadr ohne religiösen Rückhalt da. Zudem hatte al-Haeri bei seiner Abschiedsrede seine Anhänger dazu aufgerufen, dem obersten Führer Irans – Ajatollah Ali Chamenei – als religiöser Referenz zu folgen. Für al-Sadrs Anhänger besteht kein Zweifel daran, dass der Rückzug al-Haeris von Teheran diktiert wurde, um ihren eigenen Führer ins Abseits zu stellen. Das hat die Wut im Lager der Sadristen weiter angefacht. Dort ist man überzeugt, dass ihr Wahlsieg vom Oktober 2021 von ihren Feinden gestohlen wurde.

Doch obwohl sich Muqtada al-Sadr in dieser schwierigen Lage befindet, verfügt er weiterhin über großen Einfluss. Denn seine zahlreichen Anhänger würden alles für ihn tun. Diese Loyalität wird noch verstärkt durch das in seinem Lager vorherrschende Gefühl, bestohlen worden zu sein.

In einem Literaturcafé im Bagdader Stadtteil Karrada treffen sich junge Aktivist:innen, die während der großen Protestwelle im Oktober 2019 auf die Straße gegangen waren. Damals haben sie den Sturz des Regimes und ein Ende des konfessionellen Systems gefordert. Sie mussten mitansehen, wie ihre Bewegung brutal zerschlagen wurde, und zwar hauptsächlich durch Einheiten der Haschd al-Schaabi, aber auch durch sadristische Kräfte. Innerhalb von zwei Monaten wurden 600 Menschen getötet und 30 000 verletzt.

In den vergangenen Monaten hat das Sadr-Lager immer wieder versucht, Aktivisten aus der Hirak-Bewegung auf seine Seite zu ziehen. Mit dem Argument, dass man doch gemeinsame Ziele wie den Kampf gegen Korruption und gegen ausländische Einmischungen teile.

Aber die jungen Leute lassen sich nicht täuschen: „Beide Seiten sind Teil des Systems“, sagt der 31-jährige Ali. Und die 25-jährige Safaa ergänzt: „Der einzige Unterschied zwischen den beiden Lagern ist, dass al-Sadr seine Entscheidungen selbst trifft und nicht die Anweisungen einer ausländischen Macht befolgt. Aber wir werden mit ihnen trotzdem nicht gemeinsame Sache machen.“

1 Ab Oktober 2019 wurden die Hauptstadt sowie weite Teile im Süden des Landes von einer Protestbewegung erschüttert, genannt Tishreen (Oktober) oder auch Hirak (Bewegung); die Proteste wurden blutig niedergeschlagen. Um die 600 Demonstrant:innen wurden zwischen Oktober und Dezember 2019 getötet. Siehe auch Feurat Alani, „Bagdad und die Wut der Jugend“, LMd, Januar 2020.

2 Siehe Karim El-Gawhary, „Des Predigers Lichtschalter“, taz, 30. August 2022.

3 Im Irak gilt seit 2004 das Muhasasa-System. Posten und Macht werden mittels eines ethnisch-konfessionellen Quotensystems vergeben.

4 Siehe Alain Gresh, „Wer ermordete Ajatollah al-Sadr?“, LMd, Juli 1999.

5 Siehe Michael T. Klare, „Kampf der Strategen“, LMd, Februar 2020.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Laurent Perpigna Iban ist Journalist und Fotograf.

© Orient XXI; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Die Familie al-Sadr

Seit Beginn seiner politischen Karriere in den frühen 2000er Jahren pflegt der einflussreiche irakische Geistliche Muqtada al-Sadr sein Bild als Widerstandskämpfer. Egal ob gegen die US-Besatzer oder das Nachbarland Iran, stets setzt sich der 48-Jährige als Verteidiger der wahren Interessen der Irakerinnen und Iraker in Szene.

Muqtada al-Sadr wurde am 4. August 1974 im irakischen Nadschaf als Abkömmling einer prominenten schiitischen Geistlichenfamilie geboren. Sein Vater war Mohammed Sadiq al-Sadr, ohne den die Karriere seines Sohns kaum zu verstehen ist. Sadiq al-Sadr war ein angesehener Würdenträger zu Zeiten des irakischen Baath-Regimes unter Saddam Hussein, das rigoros jegliche politische Regung der Schiiten im Land unterdrückte.

Sadiq al-Sadr gelang es in den 1980er und 1990er Jahren, kritische Distanz zum Regime zu bewahren. Gleichzeitig kooperierte er in einem Maß, das es ihm ermöglichte, unter anderem über karitative Einrichtungen seinen Einfluss auszubauen und eine Gefolgschaft unter der schiitischen Bevölkerungsmehrheit um sich zu scharen.

Auch zur autoritären – wenn auch schiitischen – Führung im Nachbarland Iran hatte Sadiq al-Sadr ein ambivalentes Verhältnis. Unter anderem weil er stets den arabischen Charakter der Schia hervorhob. Zum endgültigen Bruch kam es 1999, als er sich zum Führer aller Gläubigen erklärte, womit er den Zorn des Regimes in Teheran auf sich zog. Denn der geistliche Führer Irans Ali Chamenei beansprucht ebendies für sich.

1999 wurde Sadiq al-Sadr gemeinsam mit zwei seiner Söhne ermordet. Die meisten Beobachter sehen Saddams Geheimdienst hinter der Tat, andere machen Iran verantwortlich. Fest steht: Es ist diese Familiengeschichte, auf der Muqtada al-Sadr seinen Erfolg aufbaut.

Als die US-Amerikaner 2003 das Baath-Regime stürzten, war er 28 Jahre alt. Seine politische Karriere begann erst in Post-Hussein-Zeiten, parallel zur jahrelangen US-Besatzung im Irak. Mit dieser hatte Muqtada al-Sadr eines der großen Themen seines Lebens gefunden: Widerstand gegen die US-Interventionsmacht. Al-Sadr gründete mit der „Mahdi-Armee“ einen paramilitärischen Verband, der zeitweise mehrere zehntausend Kämpfer zählte.

Ab 2004 nahm er den bewaffneten Kampf gegen die US-Truppen auf, der in den Reihen der Mahdi-Armee ungleich mehr Tote forderte als auf US-Seite, und setzte sich als irakischer Patriot in Szene. Die Amerikaner verboten seine Zeitung und gingen gegen Geistliche der Sadr-Bewegung vor, was seine Popularität nur noch steigerte.

Als die Amerikaner 2011 aus dem Irak abzogen, verlor Muqtada al-Sadr seinen mächtigen Widersacher. Zunehmend wandte er sich jetzt gegen das iranische Regime, das die Instabilität im Irak gezielt ausnutzte, um den eignen Einfluss auszubauen.

Mit seinen irankritischen Positionen erfreut sich Muqtada al-Sadr großer Beliebtheit unter seinen Anhänger:innen. Gleichzeitig trägt er mit seinem Anspruch, die schiitischen Iraker:innen politisch zu dominieren, zu ebenjener politischen Spaltung des schiitischen Lagers in zwei große Blöcke bei, die der heutigen Pattsituation zugrunde liegt.

Jannis Hagmann