Muktada al-Sadr: Kleriker, Populist, Zünglein an der Waage

Nr. 39 –

Im Irak gewann die Koalition des Geistlichen Muktada al-Sadr und der Kommunistischen Partei überraschend die Wahlen im Mai. Das Parlament hat nun noch bis Ende September Zeit, einen neuen Premierminister zu wählen. Sadr spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Mangelnde Beweglichkeit lässt sich Muktada al-Sadr nicht vorhalten: Früher war der Kleriker ein Radikaler, er führte die Mahdi-Armee an, die 2004 die Waffen gegen die US-Truppen erhob. Heute dagegen gilt er als pragmatischer Königsmacher – als entscheidende Figur bei der Frage, wer neuer Premierminister des Irak wird.

Sadrs Programm verbindet irakischen Nationalismus mit Schiitentum; damit stösst er auf breite Zustimmung in einer Bevölkerung, die zu mehr als zwei Dritteln aus SchiitInnen besteht. Seine wichtigsten Ziele: Sadr will den US-amerikanischen sowie iranischen Einfluss im Irak zurückdrängen und die Korruption bekämpfen. Dazu spielt der Populist seine Gegner gegeneinander aus: Einerseits unterhält er Beziehungen zu Saudi-Arabien, dem Partner der USA im Nahen Osten. Andererseits will er mit dem proiranischen Block im Parlament eine Regierung bilden. Seinen Einfluss verdankt Muktada al-Sadr dabei vor allem seiner Familie, einer berühmten Klerikerdynastie.

Von Saddam City zu Sadr City

Rückblick: Im Jahr 2003 begrüssten viele SchiitInnen die US-Invasion im Irak. Saddam Husseins Machtapparat hatte ausschliesslich aus Sunniten bestanden, SchiitInnen sowie KurdInnen und andere Minderheiten wurden diskriminiert. Muktadas Vater, der Grossajatollah Sadik al-Sadr, war bereits in den Achtzigern zum Konkurrenten des wichtigsten schiitischen Geistlichen, Grossajatollah Ali al-Sistani, aufgestiegen. Als Verfechter des arabischen Nationalismus war Sadr der Gegenpol zum iranischstämmigen Sistani. Wegen seiner Kritik am Regime soll Saddam Hussein, der Sadr zu Beginn noch unterstützte, 1999 den Mord am populären Geistlichen befohlen haben.

Damals war Muktada erst 25 – und galt bei den Gelehrten als zu unerfahren, um die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Die Jüngeren innerhalb der Sadristen-Bewegung folgten dem radikalen Kleriker jedoch begeistert. Nach dem Sturz Husseins erlangten die Sadristen die Kontrolle über einen mehrheitlich von SchiitInnen bewohnten Vorort von Bagdad und benannten ihn nach Muktadas Vater von «Saddam City» in «Sadr City» um. Der junge Geistliche führte dort ein Regime mit islamischen Regelungen, kontrolliert durch eine eigene Polizei und Justiz, zugleich aber liess er auch Schulen und Krankenhäuser bauen.

Im April 2004 begann Muktadas paramilitärische Mahdi-Armee als erste schiitische Miliz einen Guerillakrieg gegen die US-Truppen. Das fand vor allem bei den perspektivlosen Jugendlichen von Sadr City Anklang; den quietistischen Klerikern rund um Ali al-Sistani, die Distanz zur Politik wahren wollen, war der Aufwiegler jedoch ein Dorn im Auge. Letztlich war es jedoch Sistani, der 2004 einen Waffenstillstand zwischen den USA und der Mahdi-Armee aushandelte – und damit seine Stellung als bedeutendster schiitischer Geistlicher im Irak zementierte.

Blutige Proteste in Basra

Um Muktada al-Sadr wurde es still. Bis zum Jahr 2011, als er in einer Rede verkündete: «Man sollte allein mit politischen Mitteln eine Regierung reformieren, falls diese nicht mehr dem Volk dient.» Diese Aussage beinhaltet eine Absage an politische Gewalt. 2015 übernahm er die Führung einer säkularen Protestbewegung, die die Absetzung der islamistischen Elite forderte – was zeigt, wie gross der Verdruss im Land ist ob der seit Jahrzehnten praktizierten Identitätspolitik, die SunnitInnen und SchiitInnen gegeneinander ausspielt. Der Populist Sadr verstand es, den Frust zu kanalisieren, seine Koalition gewann die Parlamentswahlen diesen Mai. Die Wahlbeteiligung war mit 44,5 Prozent aber historisch tief.

Im Juni kündigte Sadr an, den derzeitigen Premierminister Haider al-Abadi – den Favoriten der USA – bei den Wahlen zu unterstützen. Zwei Tage vor der Wahl am 15. September wechselte er jedoch das Lager: Nun paktiert er mit dem proiranischen Block und beendete somit den Stillstand in der Regierungsbildung. Der Kurswechsel folgte auf das erneute Aufflammen der Proteste in der Erdölmetropole Basra.

Bereits im Juli dieses Jahres protestierten die BewohnerInnen dort gegen den Mangel an sauberem Wasser sowie die hohe Arbeitslosigkeit. Anfang September steckten die DemonstrantInnen Büros der Regierungspartei und der Badr-Organisation, des wichtigsten Instruments iranischer Einflussnahme im Irak, in Brand. Manche vermuten, dass sich Aufwiegler aus Saudi-Arabien unter die DemonstrantInnen mischten. Als schliesslich das iranische Konsulat in Flammen aufging, eröffneten die Sicherheitskräfte das Feuer, mindestens fünfzehn Menschen starben, mehrere Dutzend wurden verletzt.

Das veranlasste auch den zurückhaltenden Ali al-Sistani zu einer politischen Stellungnahme: Der neue Premierminister müsse ein unbeschriebenes Blatt sein, sagte er. Angeblich haben sich Sadr und Hadi al-Amiri, Kopf der Badr-Organisation, vergangene Woche auf einen Kandidaten geeinigt: den ehemaligen Erdölminister Adel Abdul Mehdi. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – Muktada al-Sadr nicht selber kandidiert, wird er die Politik im Irak auch zukünftig mitbestimmen.