Auf allen Kanälen: Harte Bandagen
Washington will Tiktok-Eigentümer Bytedance dazu zwingen, sein US-Geschäft zu verkaufen – angeblich aus Sorge um die nationale Sicherheit.

Kürzlich liess eine Oberstufenschule im US-Bundesstaat North Carolina die Spiegel aus den Toiletten im Gebäude entfernen, nachdem immer mehr Schüler:innen während des Unterrichts auffällig lange dort verschwunden geblieben waren. Der Grund: Sie nutzten die Toilettengänge, um Clips für das Videoportal Tiktok anzufertigen. Deren Zahl ging tatsächlich rapide zurück, wie die Zeitung «USA Today» berichtete, nachdem die für die Dreharbeiten nützlichen Spiegel entfernt worden waren.
In den Vereinigten Staaten sind es aber nicht nur Leute in schulpflichtigem Alter, in deren Alltag Tiktok eine wichtige Rolle spielt. Rund 170 Millionen US-Amerikaner:innen haben ein Konto, also die Hälfte der Bevölkerung (in der Schweiz hat Tiktok etwas mehr als 2 Millionen Nutzer:innen). Viele sind von der Plattform ökonomisch abhängig, weil sie ihr Kleinunternehmen dort bewerben oder als Influencer:innen von Social Media leben. Auch für etablierte Industrien ist Tiktok ein wichtiges Instrument: Hollywood etwa nutzt das Netzwerk fürs Marketing; der «Barbenheimer»-Hype 2023 wurde massgeblich auf Tiktok angeheizt.
Microsoft als Käufer?
Möglich, dass es damit bald vorbei ist. Vergangene Woche unterzeichnete Präsident Joe Biden ein Gesetz, das eine parteiübergreifende Mehrheit im Kongress auf den Weg gebracht hatte. Es soll das chinesische Unternehmen Bytedance, dem Tiktok gehört, dazu zwingen, innerhalb von zwölf Monaten sein US-Geschäft zu verkaufen. Anlass dafür ist die Sorge, dass das Regime in Peking über Bytedance im grossen Stil an Daten von US-Bürger:innen gelangen könnte. Ausserdem wird befürchtet, China könnte über das Portal Wahlen manipulieren.
Als mögliche Käufer werden die Softwareunternehmen Microsoft und Oracle gehandelt. Es gilt jedoch als unwahrscheinlich, dass Bytedance tatsächlich bereit sein könnte, seine US-Sparte zu veräussern. Weigert sich der Konzern, müssten Apple und Google Tiktok aus ihren Appstores entfernen; ob der Zugriff per Webbrowser noch möglich wäre, ist derzeit unklar. Allerdings wird sich Bytedance juristisch gegen das Gesetz wehren, nach Einschätzung von Expert:innen mit nicht so schlechten Erfolgsaussichten.
Tatsächlich steht das Argument, über Tiktok könnten die Daten von Millionen US-Bürger:innen in die Hände von Peking fallen, auf wackligen Füssen. So ist unklar, wie eng Bytedance tatsächlich mit dem Regime verbandelt ist. Immerhin, betonen auch Gegner:innen des Gesetzes, ist die Mehrheit der Unternehmensanteile in nichtchinesischem Besitz. Sieben Prozent liegen etwa im Portfolio des US-Milliardärs Jeffrey Yass.
Vor allem aber müsste die chinesische Regierung, sollte sie an den Daten aus den USA interessiert sein, dafür gar nicht auf Tiktok zurückgreifen, sie könnte sie einfach bei sogenannten Datenbrokern erwerben – also Unternehmen, die mit gehorteten Nutzer:innendaten handeln. Möglich macht Letzteres die unzureichende Datenschutzgesetzgebung in den USA. Würde diese gestärkt, argumentieren Kritiker:innen, wäre ein separates Vorgehen gegen Tiktok gar nicht notwendig – zumal es ja auch schon über US-Netzwerke ausländische Versuche gab, Wahlen zu manipulieren, siehe etwa Facebook 2016.
Konzertiertes Lobbying
Viel spricht also dafür, dass es Washington primär darum geht, die eigene Branche vor internationaler Konkurrenz zu schützen und die globale Technologievorherrschaft abzusichern. Tiktok zählt zu den wenigen Plattformen, die nicht aus den USA kommen und trotzdem globale Strahlkraft haben. So bezeichnete der Analyst Paul Triolo das Gesetz gegenüber CNN als «Ergebnis konzertierten Lobbyings von Risikoanlegern aus Silicon Valley im Verein mit US-Technologieunternehmen».
Zudem wird nicht nur im Fall Tiktok der technologische Wettbewerb zwischen den USA und China mit immer härteren Bandagen ausgefochten. Washington hat etwa den chinesischen Konzern Huawei seit 2019 wiederholt sanktioniert. Gegenwärtig bemühen sich die USA darum, China durch Exportregulierungen bei der Halbleiterentwicklung auszubremsen.
Umgekehrt gilt aber auch: Ohne einen rigorosen Schutz des eigenen Wirtschaftsstandorts wäre China seinerseits kaum zur Techsupermacht aufgestiegen. Dort ist Tiktok übrigens – genau wie Facebook und Co. – gesperrt. In China schaut man Kurzclips über die stark zensierte Bytedance-App Douyin an.