Europas Lieblingsfaschistin

Le Monde diplomatique –

Erinnert sich noch jemand an den Aufschrei im vergangenen September, als EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen drohte, es werde für Italien Konsequenzen haben, wenn Melonis Rechtsbündnis an die Macht kommt? Heute posieren die beiden Damen, eine konservativ, die andere rechtsextrem, lächelnd vor den Kameras, tauschen Freundlichkeiten auf ihren Social-Media-Kanälen aus und reisen zusammen nach Tunesien. Die italienische Ministerpräsidentin, gerade noch als „postfaschistisch“ verschrien, ist in wenigen Monaten zur umworbenen Partnerin mutiert.

Meloni hat das Rezept für die Metamorphose schnell begriffen. Kaum im Palazzo Chigi eingezogen, reduzierte sie die Sozialausgaben und brachte die Kritiker des Brüsseler Jochs zum Schweigen. Denn nur so kann sich Italien das Geld aus dem Wiederaufbaufonds der EU (191 Milliarden Euro bis 2026) sichern.

Meloni hat ihre Treue zur Nato versichert, drastischere Sanktionen gegen Moskau und wirksamere Waffen für Kiew gefordert, kurz: Sie hat sich dem herrschenden Diskurs unterworfen. „Es gibt keine größere Verteidigerin Europas und des Euros als Giorgia Meloni“, lobte sie der französische Essayist Alain Minc am 8. Juni auf FigaroVox.

Solange sich Meloni zur Sparpolitik und zum atlantischen Bündnis bekennt, kann sie fremdenfeindliche Sprüche klopfen, Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans*personen diskriminieren, vom Großen Bevölkerungsaustausch schwafeln, Abtreibung kriminalisieren, die Verfassung umbauen, Medien gleichschalten und Kultureinrichtungen dichtmachen. Die Türen bleiben ihr weit geöffnet – etwa in Paris, wo Emmanuel Macron ihr am 20. Juni einen herzlichen Empfang bereitete und die Gelegenheit ergriff, „Gemeinsamkeiten zu schaffen“, wie der Élysée-Palast später meldete.

Das Modell Meloni, das nationalistisch bleibt, auch wenn es sich EU- und Nato-freundlich gibt, scheint sich seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in Europa immer mehr auszubreiten. Dank ihrer Wahlerfolge regieren die Rechtsextremen in Koalitionen mit den Konservativen schon heute in Italien, Schweden, Finnland und vielleicht auch bald in Spanien (siehe „Spaniens Rechte und das Erbe Francos“). Solche Regierungsallianzen sorgen nur noch selten für Aufregung.

Als 2000 die rechtsextreme FPÖ mit Jörg Haider in Österreich an die Regierung kam, unterbrachen die 14 anderen EU-Staaten die bilateralen Kontakte mit Wien und beschränkten den diplomatischen Austausch auf das Notwendigste. Und die Präsidentin des EU-Parlaments Nicole Fontaine (1942–2018), Mitglied der konservativen Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), verkündete, sie werde keinen Fuß mehr auf österreichischen Boden setzen, solange die Rechtsextremen an der Macht sind.

Der aktuelle EVP-Vorsitzende Manfred Weber war hingegen seit Oktober schon fünfmal in Rom, um Meloni als wichtige Verbündete für die EU-Wahlen 2024 zu umgarnen. Radikalisierung der Konservativen in der Migrationspolitik gegen Zugeständnisse der Rechtsextremen in der Wirtschafts- und Außenpolitik: Das ist Europas neues Gesicht. Benoît Bréville