Europas Rechte: Keine italienische Besonderheit
In den Ländern der EU kann die extreme Rechte immer grössere Erfolge verbuchen. Was heisst das für die Europawahl 2024? Könnten Leute wie Marine Le Pen Spitzenämter ergattern?
Während die Italiener:innen über den Ferragosto traditionellerweise an die Strände des Landes pilgerten, stürmte ein Buch die Spitze der Bestsellerlisten, das beileibe keine leichte Lektüre ist: «Il mondo al contrario» (Verkehrte Welt) des Generals Roberto Vannacci – eine rassistische, im Selbstverlag veröffentlichte Hetzschrift gegen das «Einheitsdenken». Das Pamphlet ist durchzogen mit Aussagen, die Beobachter:innen als versteckte Kritik an Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni werten. Darüber hinaus untersucht Vannacci vermeintliche Missstände wie die «multikulturelle Gesellschaft» und den «Planeten LGTBQ+++» (sic) und verunglimpft jene, die zwar Italiener:innen genannt werden, «deren Gesichtszüge aber nicht italienisch sind».
Während der Berufssoldat für seine Auslassungen inzwischen von seinem Posten entbunden wurde, stilisieren ihn einige Regierungsfiguren zum Märtyrer der Meinungsfreiheit hoch: Der stellvertretende Ministerpräsident und Lega-Vorsitzende Matteo Salvini versicherte etwa, er werde das Buch auf jeden Fall kaufen.
Hinter der Kontroverse um Vannacci sehen viele Analyst:innen einen Konflikt innerhalb der Regierung: Jene, die Meloni «Verweichlichung» vorwerfen, versuchen offenbar, ihrer Partei Wähler:innen abspenstig zu machen. Seit Silvio Berlusconis erster Regierung ab 1994 hat das – wie die Medien es nachsichtig nennen – «Mitte-Rechts»-Bündnis drei Parteien unter einem Dach versammelt: die Forza Italia des kürzlich verstorbenen Tycoons, die rechtsextreme Lega und die heute als Fratelli d’Italia bekannten Postfaschist:innen.
Nach wie vor bestehen zwischen den dreien allerdings grosse Unterschiede in Geschichte, Temperament und aktivistischer Kultur sowie eine gewisse Rivalität bei den Wahlen. Seit dreissig Jahren führen sie einen seltsamen Tanz auf, bei dem jede Partei abwechselnd die Führung übernimmt und die anderen beiden ihre Juniorpartnerinnen spielen, während sie sie gleichzeitig zu destabilisieren versuchen: in der Hoffnung, deren Wähler:innen zu erobern.
Eine gewaltige Umwälzung
Und dies ist keine italienische Besonderheit. Vielmehr kursieren im Vorfeld der Europawahl im kommenden Juni zahlreiche Spekulationen über einen «Mitte-Rechts»-Pakt nach italienischem Vorbild auf EU-Ebene. In Finnland und Schweden etwa formierten sich im Lauf des letzten Jahres liberal-konservative Regierungskoalitionen. Diese sind allerdings von «Antimigrationsparteien» abhängig, die zudem alle die antisemitische Verschwörungserzählung vom «grossen Austausch» propagieren. In Spanien wiederum kam es bei der Wahl im Juli zum Beinahepatt zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts, wobei der konservative Partido Popular auch die Bereitschaft signalisiert hatte, mit der rechtsextremen Vox zusammenzuarbeiten.
Nun stellt sich die Frage, ob die Europäische Volkspartei (EVP), zu der unter anderem die deutschen Christdemokraten und die französischen Républicains gehören, ein Bündnis mit Melonis Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) eingehen könnte. Sollten die Grenzen zwischen den rechten Kräften weiter verschwimmen, bleibt erst mal dennoch unklar, welche Form der Pakt annehmen könnte.
Seit den achtziger Jahren werden die EU-Institutionen de facto von einer Grossen Koalition aus Sozialdemokrat:innen, Liberalen und Christdemokrat:innen regiert. Das könnte sich nun ändern: Sollten die Rechten ihre nationalen Wahlerfolge fortsetzen können, ist möglich, dass die Regierungskoalition in der EU zusätzliche weiter rechts stehende Kräfte integriert. Oder dass sie gleich ganz von einem stärker rechts ausgerichteten Bündnis ersetzt wird. Für die konkordanzorientierte Machtteilung in der EU wäre dies eine gewaltige Umwälzung.
Wird die EU-Führung also bald aussehen wie jene Italiens? Eine Hürde ist zweifelsohne, dass jene Parteien, die in Rom gemeinsam regieren, in Brüssel jeweils für die anderen unliebsame Verbündete haben: Der EU-Parlamentsfraktion Identität und Demokratie (ID) gehören sowohl Marine Le Pens Rassemblement National als auch die AfD an – keine der beiden arbeitet im eigenen Land flächendeckend mit gemässigteren Kräften zusammen, beide zögern, eine klare Anti-Putin-Position einzunehmen. Im Juli, als Salvini sich mit Le Pen traf, forderte die Lega eine «Mitte-Rechts-Alternative zum Regieren mit den Sozialisten». Dabei stand der Begriff «Mitte-Rechts» für einen Block der gesamten Rechten, einschliesslich Le Pen.
Tatsächlich ist gut möglich, dass ein solches Bündnis nach der Europawahl in Brüssel die Mehrheit stellen wird: Die jüngsten Umfragen deuten darauf hin, dass die EVP, Melonis EKR und die ID zusammen knapp die Hälfte der Sitze im Parlament erringen könnten. Die andere Möglichkeit wäre ein Bündnis aus EVP, EKR und der liberalen Renew-Fraktion. Aus diesen Umfrageergebnissen eine eindeutige Mehrheit zu zimmern, wird aufgrund der gewichtigen Trennlinien allerdings nicht einfach.
Distanzierung oder Normalisierung
Mehrere EVP-Vertreter:innen haben eine Koalition mit Le Pens Rassemblement National oder der AfD mit Nachdruck ausgeschlossen. Und der Forza-Italia-Vorsitzende, Antonio Tajani – ein ehemaliger Präsident des EU-Parlaments –, forderte kürzlich ein Bündnis von «Liberalen, Konservativen und Christdemokraten»: Tajani, der wegen seiner nachsichtigen Äusserungen über den historischen Faschismus berüchtigt ist, argumentierte, dass ein Pakt mit der AfD angesichts ihrer «Nazikultur» unmöglich sei. Und er bezeichnete Le Pen als «Anti-Europa-Figur, die die Nato verlassen will».
Auch der EVP-Vorsitzende Manfred Weber besteht darauf, dass seine Fraktion «nicht mit Rechtsextremen zusammenarbeiten wird»; wer mit der EVP zusammenspanne, müsse «proeuropäisch und proukrainisch» sein und «für Rechtsstaatlichkeit» einstehen, sagte er im Mai gegenüber dem TV-Sender «France 24». Weber schloss etwa eine Partnerschaft mit der polnischen PiS aus, der anderen wichtigen Kraft in Melonis EKR-Fraktion.
Trotzdem lässt sich im Umgang mit Meloni eine Normalisierung beobachten – und dass zentristische Kräfte versuchen, die extreme Rechte zumindest in Teilen in die wichtigsten euroatlantischen Institutionen zu integrieren. Statt eines «cordon sanitaire», eines «Sperrgürtels» gegen die extreme Rechte, gibt es bloss eine Reihe gradueller Phasen zunehmender Legitimierung und Zusammenarbeit.
Aufschlussreich sind hier die Fälle der beiden jüngsten Nato-Mitglieder, die dem Bündnis als Reaktion auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine beigetreten sind. Im Interview mit «France 24» verwies Weber positiv auf die jüngsten Entwicklungen in Stockholm und Helsinki. In Schweden hatte der aktuelle Ministerpräsident und örtliche EVP-Vertreter, Ulf Kristersson, 2018 einem Holocaustüberlebenden versprochen, niemals mit den Schwedendemokraten zu verhandeln. Nachdem diese bei der Wahl letzten Herbst die grösste Kraft am rechten Rand wurden, schloss er dann doch einen Pakt mit ihnen. Wie die rechtsextremen Wahren Finnen, die heute an der Regierung sind, haben auch die Schwedendemokraten zwar eine «systemfeindliche», verschwörungsmythische und xenophobe Weltsicht beibehalten, sind aber von ihrer früheren Anti-Nato-Haltung abgerückt.
Kein Schutzwall
Viele Kommentare zu diesen europäischen Entwicklungen zeugen vom Vertrauen in die Macht der EU-Institutionen, die harten Kanten von Meloni und ihrem polnischen Verbündeten PiS abmildern zu können – auch über die Aussenpolitik hinaus. Das von der polnischen Regierung für den 15. Oktober geplante Referendum über «illegale Einwanderung» deutet aber darauf hin, dass sie noch einen langen Weg vor sich haben.
Leser:innen in der Schweiz mögen an der Vorstellung zweifeln, Vereinbarungen zur Konkordanz und die Teilung der Macht mit rechtsextremen Parteien würden ausreichen, um deren Radikalität abzufedern – anstatt ihre Inhalte zu normalisieren. Zumindest den aktuellen Umfragen nach zu urteilen, könnte dies auch die Lehre für Europa aus den Schweizer Wahlen vom 22. Oktober werden: Rechtsextreme Parteien sind nicht bloss «Aussenseiter» oder «populistische Aufrührer», sondern Kräfte, die ein fester Bestandteil der politischen Szene werden können. Weder die AfD noch Le Pen sind im Begriff, Spitzenpositionen in der EU einzunehmen. Aber Melonis Aufstieg widerlegt die Behauptung, dass die Union selbst ein Schutzwall gegen die extreme Rechte ist.
David Broder ist Autor von «Mussolini’s Grandchildren. Fascism in Contemporary Italy» (Pluto Press, 2023). Er ist Europaredaktor des «Jacobin» und Kolumnist für den «New Statesman» und «Internazionale».
Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.