Südafrika klagt an

Le Monde diplomatique –

Das Völkermord-Verfahren gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof hat geopolitische Tragweite

IGH-Präsidentin Joan E. Donoghue bei der Verkündung des ­vorläufigen Urteils am 26. Januar in Den Haag
IGH-Präsidentin Joan E. Donoghue bei der Verkündung des ­vorläufigen Urteils am 26. Januar in Den Haag Foto: REMKO DE WAAL/picture alliance/anp

Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die Nationalsozialisten 6 Millionen Juden in Europa. Es war ein in dieser Dimension und in diesem industriellen Ausmaß nie dagewesener Genozid. Der Staat Israel sollte den Überlebenden und ihren Nachkommen eine sichere Zuflucht bieten. Nun, fast 80 Jahre später, wird Israel von der Republik Südafrika beschuldigt, selbst einen Völkermord zu begehen.

Unter Berufung auf das „Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“, das 1948 in der UN-Generalversammlung beschlossen wurde, hat Südafrika am 29. Dezember 2023 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) Israel verklagt. Es soll angewiesen werden, seine Militäroperationen „im und gegen den“ Gazastreifen einzustellen, um zu verhindern, dass dem palästinensischen Volk „nicht wiedergutzumachender“ Schaden zugefügt werde.

In einem vorläufigen Urteil vom 26. Januar gab das Gericht dem Eilantrag Südafrikas nicht in allen Punkten statt. In seiner Entscheidung verurteilte der IGH den Hamas-Angriff und forderte die bedingungslose Freilassung der verbliebenen Geiseln. Es wies Israel nicht direkt an, alle Kampfhandlungen sofort einzustellen – wie es Südafrika gefordert hatte –, sondern entschied, Israel müsse „alles in seiner Macht Stehende“ tun, um einen Genozid in Gaza zu verhindern und die humanitäre Lage der Bevölkerung verbessern.

Darüber hinaus soll Israel gegen genozidale Hetze vorgehen und „direkte und öffentliche Aufrufe zur Verübung von Völkermord im Zusammenhang mit Mitgliedern der palästinensischen Gemeinschaft“ verhindern und bestrafen. Der IGH ordnete zudem an, dass Israel binnen eines Monats dem Gericht einen Bericht über die Umsetzung der angeordneten Maßnahmen vorlegen muss. Bereits vor dem abschließenden Urteil, das mehrere Jahre dauern dürfte, gab das Gericht damit Südafrika insofern recht, als dass es die Gefahr eines Genozids groß genug einschätzte, um die Anordnung sofortiger Maßnahmen zu rechtfertigen.

Die israelische Regierung beklagt indes eine „verkehrte Welt“ und betrachtet sich als Opfer. In seiner Antwort auf das vorläufige Urteil betonte der Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erneut, sein Land bekämpfe „Hamas-Terroristen, nicht palästinensische Zivilisten“. Zwar sind die Entscheidungen des IGH völkerrechtlich bindend, aber konkrete Auswirkungen auf das Schicksal der Menschen in Gaza wird das Urteil voraussichtlich nicht haben. Der Gerichtshof verfügt über keinerlei Mittel, um seine Urteile gegenüber unwilligen Staaten durchzusetzen.

Massengrab mit Opfern israelischer Luftangriffe, Chan Junis, Gaza, 22. November 2023
Massengrab mit Opfern israelischer Luftangriffe, Chan Junis, Gaza, 22. November 2023 Foto: MOHAMMED DAHMAN/picture alliance/ap

Die politischen und symbolischen Folgen des Verfahrens sind jedoch beträchtlich. Es findet in einer Phase statt, in der der UN-Sicherheitsrat, gelähmt vom US-amerikanischen Veto, keinen sofortigen Waffenstillstand beschließen oder den tödlichen Angriffen der israelischen Armee wenigstens Grenzen setzen kann.

„Der Ruf des internationalen Rechts steht auf dem Spiel“, erklärte die irische Anwältin Blinne Ni Ghrálaigh, die mit einem Team Südafrika vertritt. Die deutlichen Mahnungen von UN-Generalsekretär António Guterres und zahlreichen UN-Organisationen stoßen bei den USA und deren britischen Verbündeten auf taube Ohren, obwohl alle humanitären Regeln verletzt werden. Angesichts der internationalen Untätigkeit, zu der auch das auffällige Schweigen in den europäischen Medien gehört, wird der IGH zur einzigen Instanz, die an das Recht erinnern und den Palästinensern eine Stimme geben könnte.1

Schon am 13. November 2023 hatte ein Kollektiv von Juristen die Anrufung des IGH vorgeschlagen, während mehrere Organisationen und der Staat Palästina verlangten, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) möge Haftbefehle gegen führende israelische Politiker erlassen.2 Als es darum ging, Wladimir Putin wegen des Ukrainekriegs anzuklagen, hatte es der IStGH sehr eilig; diesmal scheint Chefankläger Karim Khan zu zögern. „Wenn die Beweise, die wir sammeln, die Schwelle einer realistischen Aussicht auf eine Verurteilung erreichen, werde ich nicht zögern“, rechtfertigt er sich.3 Auch gegen die Anführer der Hamas wurde Klage erhoben, bisher ebenfalls ohne Erfolg.

Unabhängig vom Austausch juristischer Argumente – die weltweite Aufmerksamkeit für das Verfahren in Den Haag bezeugt die Tragweite der Ereignisse in Gaza und die Berechtigung der Klage. Nach Jahrzehnten des Schweigens wird die Zerstörung von Gaza und das Leid der Bevölkerung thematisiert. „Es ist wichtig, dass diese Fakten in einem offiziellen Rahmen und nach geltenden Rechtsvorschriften präsentiert werden, dass Anwälte sie aussprechen und Richter sie anhören“, erklärt die sudanesische Journalistin und Essayistin Nesrine Malik. „Schon die Nüchternheit des Rituals und die Choreografie der Beteiligten ist eine Art Weihe.“ All dies offenbare die schockierende Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft und wie sehr die Rechte der Bevölkerung von Gaza missachtet würden.4

Das symbolische Gewicht des IGH-Verfahrens wird auch in der Auswahl der Rechtsvertreter deutlich: Als zusätzlichen Richter hat Israel den 87-jährigen Juristen und Shoah-Überlebenden Aharon Barak ausgewählt. Südafrika lässt sich von dem 76-jährigen Richter Dikgang Ernest Moseneke vertreten, der einst mit Nelson Mandela auf Robben Island inhaftiert war. Als letztes kolonisiertes Land Afrikas und friedlicher Sieger über das rassistische Apartheidregime besitzt Südafrika in den Augen vieler eine besondere Legitimität, um eine solche Klage zu erheben.

Die Unterstützung des Landes für die Sache der Palästinenser reicht weit zurück. Schon Mandela hat oft das Leiden der beiden „kolonisierten“ Völker verglichen. „Unsere Freiheit ist unvollständig ohne die Freiheit der Palästinenser“, hatte er erklärt. Südafrika lässt keine Gelegenheit aus, um die Situation in den besetzten Gebieten anzuprangern, die Mandela 1999 selbst besucht hat.

Südafrika hat die Unterstützung immer mit konkreten Aktionen unterfüttert; etwa 1995 mit der Anerkennung der Souveränität des Staates Palästina und der systematischen Verurteilung der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen seit 2006. Der Versuch, den Begriff „Genozid“ in ein Kommuniqué der Brics-Staaten aufzunehmen, in dem die Organisation am 22. November 2023 einen Waffenstillstand forderte, scheiterte aber am Widerstand Russlands und Chinas. Russland ist seinerseits von der Ukraine für diesen Straftatbestand vor dem IGH angeklagt, und China wird wegen seines Umgangs mit den Uiguren des Völkermords beschuldigt.

Israel hat versucht, Südafrika zu diskreditieren, indem es mutmaßliche Verbindungen zwischen ANC-Führern und der Hamas anführte.5 Doch selbst wenn solche Beziehungen bestehen sollten, hätten sie nicht die geringste Bedeutung, denn der Genozid ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und muss als solches verfolgt und verhindert werden, egal durch wen und an welchem Ort es verübt wird. Daran hat der IGH erinnert, als er es ablehnte, die Videos vom 7. Oktober über die Grausamkeiten der Hamas und des Islamischen Dschihad zu zeigen, wie von Israel verlangt. Weil nichts jemals die Zerstörung eines Volkes als solches rechtfertigen kann, ist jeder Erklärungsversuch an sich vergeblich.

Die von Südafrika präsentierte Klage bemüht sich, präzise auf die Kriterien einzugehen, die den Völkermord definieren: Dazu gehört die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören – ob direkt, durch die Tötung der Mitglieder dieser Gruppe, oder indirekt, durch die vorsätzliche Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, etwa Nahrungsmittel und medizinische Versorgung.

Unter Berufung auf die internationale Berichterstattung verweisen die südafrikanischen Juristen auf die hohe Zahl von Toten, darunter wahrscheinlich 70 Prozent Frauen und Kinder, die Vertreibung von 85 Prozent der Bevölkerung von Gaza, die Schließung von zwei Drittel der Krankenhäuser und das Fehlen von sicheren Schutzräumen. „Dieses Gemetzel ist nichts anderes als die Zerstörung jeden Lebens in Palästina“, sagt die Juristin Adila Hassim.

Israel hat die Militäroperationen damit gerechtfertigt, dass die Hamas Zivilisten als „menschliche Schutzschilde“ missbrauche und ihre Kommandozentralen in zivilen Gebäuden oder Krankenhäusern einrichte – beides Kriegsverbrechen nach dem Völkerrecht. Wie der Jurist Kenneth Roth feststellt6, konnte Israel jedoch weder beweisen, dass seine Reaktion „angemessen“ war, wie es das internationale Recht verlangt, noch den Abwurf von 2000 Pfund schweren ungelenkten Bomben über dicht besiedelten Wohngebieten rechtfertigen. Israel erbrachte auch keinen Beweis, dass sich im Al-Schifa-Krankenhaus, das durch wiederholte massive Angriffe zerstört wurde, ein Hauptquartier der Hamas befand.

Um den Tatbestand des Vorsatzes nachzuweisen, haben die südafrikanischen Juristen mehrere offizielle Erklärungen vorgelegt: die des Verteidigungsministers Yoaw Gallant, der die Palästinenser als „menschliche Tiere“ bezeichnete, die von Präsident Isaac Herzog, der jede Unterscheidung zwischen der Hamas und der Zivilbevölkerung ablehnte, und vor allem wiederholte Anspielungen, auch von Netanjahu, auf eine Bibelpassage, die zur Tötung von allen Feinden Israels aufruft: „Mann und Frau, Kinder und Säuglinge“ (Samuel 1, 15,3).

Israel argumentiert, dass die kritisierten Äußerungen nicht zu einem vorsätzlichen Plan gehören würden, wie er für eine genozidale Absicht kennzeichnend wäre, sondern nur von dem Schock zeugen, der durch die Massaker vom 7. Oktober ausgelöst wurde. Bisher hat sich der IGH tatsächlich auf das Vorhandensein eines Plans oder einer Politik der Vernichtung durch einen Staat oder eine Organisation berufen, um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen (Bosnien vs. Jugoslawien und Gambia vs. Myanmar). Für den Gazakrieg muss er nun feststellen, ob wiederholte Äußerungen und Taten einem solchen Plan gleichzusetzen sind. Die Videos israelischer Soldaten, die sich über ihre Taten freuen und sich dabei auf die Bibelpassage berufen, könnten dazu beitragen, wenn sie, so Roth, „nahelegen, dass die genozidale Botschaft Wirkung zeigt“.

Israel hat auf den aus seiner Sicht unausgewogenen Charakter der Klage hingewiesen, in der alle Schuld bei Israel liege und keine bei der Hamas, die ihre Raketenangriffe auf Israel fortsetzt. Die Anwälte Israels machen vor allem geltend, dass es der Hamas einen Vorteil verschaffen würde, wenn die Militäroperationen eingestellt werden. Es ist in der Tat das erste Mal, dass sich der Genozid-Vorwurf gegen einen Staat richtet, der auf einen als terroristisch bezeichneten bewaffneten Angriff reagiert und sich auf die Wahrnehmung seines legitimen Rechts auf Verteidigung beruft.

Dieses Argument könnte beim endgültigen Urteil der fünfzehn Richter in Den Haag ins Gewicht fallen. Diesen Einwand vorwegnehmend, hat Südafrika in der Einleitung seiner Klageschrift als Erstes die Verbrechen vom 7. Oktober 2023 klar verurteilt. Dann verwies es auf seine eigenen Verpflichtungen als Unterzeichner der Völkermordkonvention und bat das Gericht, Israel anzuweisen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das Verbrechen zu verhindern. Einige Juristen meinen, der IGH könnte über diesen Antrag hinausgehen und sich „kreativ“ zeigen, indem er Südafrika anweise, seinen Einfluss in Palästina geltend zu machen, um die Hamas zu bremsen.7

Das Vorgehen Südafrikas wird weltweit zwar von mehr als 50 Staaten unterstützt, vor allem im „Globalen Süden“. Doch bisher hat sich noch kein Land dem südafrikanischen Antrag formal angeschlossen, der im wahrsten Sinne des Wortes außerordentlich ist: Ein Staat des „Südens“ klagt ein Land an, das sich dem „Westen“ zugehörig fühlt, eines der schlimmsten Verbrechen nach internationalem Recht zu begehen.

32 Länder des Westens, darunter 26 EU-Staaten, haben sich der Klage der Ukraine gegen Russland angeschlossen, die sich ebenfalls auf die Völkermordkonvention beruft. Keines dieser Länder unterstützt die Klage Südafrikas. Deutschland hat angekündigt, dem Verfahren als Drittpartei beizutreten – allerdings auf der Seite Israels. John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, spricht von einer Klage „ohne Grundlage“, und der britische Premier Rishi Sunak hält sie für „ungerechtfertigt“. Frankreichs Außenminister Stéphane Séjourné bezeichnete sie am 17. Januar in der Nationalversammlung als „moralischen Fehler“.

Südafrikas Klage gegen Israel ist auch ein Verfahren gegen die Doppelmoral des Westens, der damit die internationale Ordnung zu untergraben droht, die auf dem „Nie wieder“ errichtet ist. Alle westlichen Länder haben die Völkermordkonvention ratifiziert und sich damit verpflichtet, sie einzuhalten, aber auch für deren Einhaltung zu sorgen.

Frankreichs UN-Botschafter Nicolas de Rivière, der in dieser Sache offenbar noch keine speziellen Instruktionen erhalten hatte, erinnerte Anfang Januar 2023 auf einer Pressekonferenz daran, dass Frankreich aus Prinzip die internationale Justiz gutheiße und die Entscheidungen des IGH und des IStGH in jedem Fall unterstützen würde.

Der US-amerikanische Menschenrechtsanwalt Reed Brody verweist darauf, dass Israel, indem es das Verfahren akzeptiert und beträchtliche Mittel darin investiert, ebenfalls die Legitimität und Ernsthaftigkeit dieser Instanz anerkennt, womit es seiner sehr wahrscheinlichen Weigerung, sich einem möglichen negativen Urteil zu beugen, die moralische Grundlage entzieht.

Laut Roth8 ist aber ziemlich sicher davon auszugehen, dass Israels Verbündete in den USA und Europa durch das „stigmatisierende“ Urteil moralisch stärker unter Druck geraten als die Netanjahu-Regierung – aus dem einfachen Grund, weil in diesen Ländern die Menschen viel ungehinderter und in Massen ihre Solidarität mit den Palästinensern bekunden können.

Nach dem vorläufigen Urteil des IGH hofften viele, dass Israel nun mehr humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zulassen wird. Am selben Tag der IGH-Entscheidung beschuldigte Israel jedoch einzelne Mitarbeiter des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA, direkt an den Anschlägen vom 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein. Daraufhin verkündeten mehrere Länder, ihre Zahlungen an die Organisation vorläufig einzustellen, darunter die USA, Deutschland, Japan und Großbritannien. Die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem IGH hat eine geopolitische Tragweite, die weit über den konkreten Fall hinausgeht.

Der Gazakrieg habe die westlichen Länder dazu gebracht, „ihre eigene Position als Hüter einer globalen Außenpolitik zu untergraben, in der die Schwachen geschützt und die Aggressoren bestraft werden“, meint Nesrine Malik.9 „Der Fall zeigt, dass sich die Logik des Westens abnutzt und seine Überzeugungskraft schwindet.“

1 Lucie Delable, „Plainte de l’Afrique du Sud pour risque de génocide: quel rôle pour la Cour internationale de justice“, Club des juristes, Paris, 10. Januar 2024.

2 Siehe Lucie Delable (siehe Anmerkung 1).

3 Siehe Stéphanie Maupas, „La CPI sous presse pour délivrer des mandats d’arrêt pour „crimes de guerre“ et „crimes de génocide“, Le Monde, 14. November 2023.

4 Nesrine Malik, „It is not Israel on trial. South Africa is testing the West’s claim to moral superiority“, The Guardian, London, 15. Januar 2024.

5 Siehe Vincent Coquaz, „L’Afrique du Sud entretient-elle des liens étroits avec le Hamas, comme l’avance Israël?“, Libération, 17. Januar 2024.

6 Kenneth Roth, „South Africa’s case against Israël is imperfect but persuasive. It may win“, The Guardian, London, 13 Januar 2023.

7 Siehe Reed Brody, „South Africa calls in the law“, The Nation, New York, 17. Januar 2024.

8 Siehe Anmerkung 6.

9 Siehe Anmerkung 4.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz