Uno-Klage zum Krieg in Gaza: «Die ernsthafte Gefahr eines Völkermords besteht»
William Schabas, ein renommierter Professor für Völkerrecht, setzt sich seit Jahrzehnten mit der Frage auseinander, was ein Genozid ist. Im Gespräch ordnet er die aktuellen Völkermordvorwürfe Südafrikas gegenüber Israel ein.
WOZ: William Schabas, was dachten Sie, als Sie Ende Dezember erfuhren, dass Südafrika Israel wegen Völkermordes im Gazastreifen beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag anklagt?
William Schabas: Ich fand es sehr spannend, weil ich seit Beginn des Krieges in Gaza im Oktober über die Möglichkeit einer solchen Klage vor dem IGH nachdenke und mit anderen darüber diskutiere. Ich begrüsse das also.
Sie haben die öffentlichen Anhörungen letzte Woche mitverfolgt, als Südafrika und Israel ihre Positionen vor dem IGH darlegten. Was war Ihr Eindruck von den jeweiligen Auftritten?
Ich denke, Südafrika hat sehr gut und überzeugend umgesetzt, was es in dieser Phase des Verfahrens zu tun hatte. Es ist wichtig zu verstehen, was genau am letzten Donnerstag und Freitag in Den Haag auf dem Spiel stand: Die Anhörungen waren keine Debatte darüber, ob in Gaza ein Völkermord stattgefunden hat. Es ging erst mal lediglich um den Antrag Südafrikas, der sofortige, vorübergehende Massnahmen zum Schutz der Rechte der Palästinenser:innen fordert, solange der Fall vor Gericht verhandelt wird. Etwa die sofortige Aussetzung der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen. Um mit dem Antrag erfolgreich zu sein, muss Südafrika alleinig nachweisen, dass seine Argumentation plausibel ist. Und das hat es meiner Meinung nach sehr effektiv getan.
Der Völkerrechtsexperte
William Schabas (74) ist ein irisch-kanadischer Professor für Völkerrecht an der Middlesex University in London und international anerkannter Experte für Menschenrechte. Er hat 2009 das Standardwerk «Genocide in International Law: The Crime of the Crimes» verfasst.
2019 verteidigte Schabas vor dem Internationalen Gerichtshof Myanmar gegen den Vorwurf des Völkermords, den Gambia erhoben hatte. Für diese Verteidigung ist er stark kritisiert worden. Gegenüber der WOZ sagte Schabas: «Ich war als internationaler Anwalt tätig und verteidigte die Position des Mandanten. Das ist, was ich tue. Manche Leute mögen das nicht, weil sie meinen, dass Anwälte selbst Position beziehen sollten. Aber ich habe diese Ansicht nicht vertreten.» Nach dem Militärputsch in Myanmar 2021 hat Schabas sein Mandat abgegeben.
2014 hat William Schabas als Uno-Chefermittler eine Untersuchung zum Israel–Gaza-Konflikt geleitet. Auf Druck Israels musste er von diesem Posten zurücktreten, weil er 2012 die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO juristisch beraten hatte.
Wie beurteilen Sie den Auftritt der israelischen Seite?
Meiner Einschätzung nach war er nicht sehr gut. Sie betonte sehr ausführlich die verschiedenen Taten der Hamas, die am 7. Oktober geschahen, und die anschliessenden Geiselnahmen. Das ist nicht wirklich relevant für die Frage, ob Israel in Gaza einen Völkermord begeht. Ich glaube nicht, dass der Auftritt rechtlich sehr effektiv war. Fairerweise muss man sagen: So ein Antrag über vorübergehende Massnahmen ist sehr schwierig abzuwehren. Gegen einige der Forderungen Südafrikas lässt sich nur schwer etwas einwenden. Zum Beispiel gegen die Aufforderung, keinen Völkermord zu begehen. Wird Israel dagegen Einspruch erheben und sagen: «Nein, wir haben das Recht, einen Völkermord zu begehen»? Natürlich nicht.
In Bezug auf die vorläufigen Massnahmen haben Sie eine klare Einschätzung. Wie sehen Sie die Chancen der Klage allgemein?
Das ist für Südafrika eine viel grössere Herausforderung. Innerhalb der nächsten zwei, drei Wochen dürfte ein Entscheid über die vorläufigen Massnahmen gefällt werden. Nach diesem Entscheid geht es um die Prüfung der Zuständigkeit des Gerichts. Hier kann Israel Einspruch erheben und sagen, dieser Fall gehöre gar nicht vor den IGH. Erst wenn der IGH die Zuständigkeit geprüft hat und diese als gegeben sieht, folgt die Prüfung des eigentlichen Sachverhalts. Dann muss Südafrika nachweisen, dass Israel verschiedene Verbrechen begangen hat, in der Absicht, das palästinensische Volk zu zerstören und es physisch zu vernichten.
Was erwarten Sie von einem solchen Prozess?
In früheren Entscheiden des Gerichtshofs zu Völkermord gab es zwei Fälle, zwei grosse Urteile: Bosnien im Jahr 2007 und Kroatien im Jahr 2015. Der Gerichtshof wählte dabei einen recht strengen Ansatz für die Definition von Völkermord. Er hat beispielsweise eine Abgrenzung gemacht zu dem, was man als ethnische Säuberung bezeichnen könnte, also die Vertreibung von Menschen aus einem Gebiet durch physische Zerstörung. Wenn die begründete Vermutung vorliegt, dass Israel nicht beabsichtigt hat, die Palästinenser:innen physisch zu vernichten, sondern sie aus dem Gazastreifen zu vertreiben, kann der Fall auf dieser Grundlage abgewiesen werden. Allerdings entwickelt sich das Recht, das sich mit Genozid befasst, auch ständig weiter. Ich bin ziemlich sicher, dass Südafrika in Bezug auf die vorläufigen Massnahmen gewinnen wird – aber nicht, dass es in vier oder fünf Jahren in der Hauptsache gewinnen wird.
Welche Konsequenzen hätte es für Israel – und für seine Verbündeten –, wenn es vom Internationalen Gerichtshof angehalten würde, gewisse vorläufige Massnahmen umzusetzen?
Eine solche Anordnung wäre eine Verpflichtung zur Verhinderung eines Völkermordes. Diesbezüglich stehen gerade auch die USA aufgrund ihres Einflusses auf Israel in der Pflicht. Es ist aktuell eine Klage der Menschenrechtsorganisation Centre for Constitutional Rights gegen US-Präsident Joe Biden und andere in Bezug auf die Pflicht zur Verhinderung von Völkermord hängig. Ich habe eine Erklärung in diesem Gerichtsverfahren abgegeben, das Ende des Monats verhandelt wird. Ich stützte mich in meiner Erklärung, die ich bereits im Oktober verfasst habe, auf die Aussagen, dass Israel den Gazastreifen im Grunde belagere und ihm Lebensmittel, Medikamente, Trinkwasser und Strom verweigere. Ich sagte, dass dies allein schon ausreiche, um die ernsthafte Gefahr eines Völkermordes anzudeuten. Meiner Ansicht nach ist diese Gefahr nochmals grösser geworden.
Inwiefern?
Israel hat in den vergangenen drei Monaten im Namen der Bekämpfung der Hamas unglaubliche Zerstörungen und Tötungen von Palästinenser:innen im Gazastreifen vorgenommen. Diese richteten sich hauptsächlich gegen nichtmilitärische Ziele, gegen Spitäler, Schulen, Kinder – Menschen, die überhaupt nicht in den Konflikt verwickelt waren. Man kann die Hamas nicht besiegen, indem man Kinder tötet und Häuser von Zivilist:innen zerbombt. Wenn ich den Verlauf des Konflikts in den letzten drei Monaten beobachte, komme ich zu dem Schluss, dass das eigentliche Ziel Israels die Zivilbevölkerung in Gaza ist. Und ich denke, das verstärkt die Beweise, dass die ernsthafte Gefahr eines Völkermordes besteht.
Die israelische Seite argumentiert, die Hamas benutze die Zivilbevölkerung des Gazastreifens als menschlichen Schutzschild. Was sagen Sie dazu?
Ja, das Problem der menschlichen Schutzschilde ist eine Realität. Sie berechtigt jedoch nicht dazu, die Zivilbevölkerung zu vernichten. Hier stellt sich das Problem der Verhältnismässigkeit, und zwar in Bezug auf den Schaden, der verursacht wurde. Es besteht keine Bedrohung für das Überleben Israels durch die Hamas, die es rechtfertigen würde, Tausende Kinder zu töten und all diese Gebäude zu zerstören. Das Argument mit den menschlichen Schutzschilden hat eine gewisse Berechtigung, aber es rechtfertigt nicht das Ausmass der humanitären Katastrophe in Gaza.
Ein weiteres Argument ist das Recht auf Selbstverteidigung nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober. Gibt es im internationalen Recht eine Antwort auf die Frage der Selbstverteidigung?
Das ist eine Art Mantra. Ich habe heute [Montag, 15. Januar, Anm. d. Red.] den britischen Verteidigungsminister im Radio gehört, wo er sagte, Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung. Der Begriff der Selbstverteidigung im internationalen Recht bezieht sich auf die Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff von ausserhalb des Landes. Der Gazastreifen ist faktisch ein von Israel besetztes Gebiet. Der Begriff der Selbstverteidigung gilt folglich nicht wirklich, zumindest nicht im internationalen Recht.
Sie haben eine Menge Erfahrung und waren sogar in einen Völkermordfall vor dem IGH involviert. Gab es vergleichbare Fälle in der Vergangenheit?
Ich denke, es gibt jeweils grosse Unterschiede im Kontext. Auch in den klassischen Fällen von Genoziden, die völkerrechtlich als solche gelten: an den Herero 1904 in Namibia, an den Armenier:innen zur Zeit des Ersten Weltkriegs, der Holocaust an den Jüd:innen während des Zweiten Weltkriegs. Einen offensichtlich und wirklich vergleichbaren Fall gibt es meines Erachtens nicht. Am ähnlichsten dürfte wohl der Fall der Armenier:innen sein, wo die Vertreibung eine zentrale Rolle spielte.
Die Uno-Völkermordkonvention ist nach dem Holocaust geschaffen worden. Für viele Israelis bedeutet die jetzige Anklage von Israel eine völlige Umkehrung ihrer eigenen Realität oder Geschichte …
Ja, es ist eine grosse Tragödie. Ich selbst bin ein Nachkomme von Holocaustopfern und Holocaustüberlebenden. Ein Teil meiner Familie floh vor dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland und Osteuropa, andere kamen im Holocaust um. Ich denke, vor allem Jüd:innen sollten sensibel sein für die Bedeutung des Überlebens von Minderheiten, von ethnischen Gruppen. Und viele sind auch von einer grossen Sympathie gegenüber Menschen geprägt, die unterdrückt und verfolgt werden.
Sehen Sie denn angesichts der tragischen Lage im Gazastreifen auch Hoffnungsschimmer?
Für mich zeigt der Krieg, dass die einzige Lösung ein palästinensischer und ein israelischer Staat ist. Meine Hoffnung ist, dass die israelischen Entscheidungsträger durch diesen Krieg begreifen, dass sie die Hamas nicht zerstören können. Die einzige Möglichkeit, die Hamas zu vernichten, bestünde darin, das palästinensische Volk vollständig zu vernichten. Vielleicht werden sie erkennen, dass die Probleme nicht verschwinden werden, solange sie dem palästinensischen Volk keinen eigenen unabhängigen Staat zugestehen. Mit den Oslo-Verträgen von 1993 wurde ein unabhängiger Staat Palästina versprochen. Es gab von vielen Ländern grosse Unterstützung dafür. Die Verträge wurden nie umgesetzt, aber das müssen sie. Für mich ist das die Hoffnung: dass aus Kriegen manchmal etwas Neues hervorgehen kann.