Tod einer Stadt
San Francisco verkommt zum Experimentierfeld der Techmilliardäre aus dem Silicon Valley
Ein Auto ohne Fahrer ist ein unheimlicher Anblick – aus der Perspektive als Fußgängerin, aber noch viel mehr, wenn ich in San Francisco mit dem Fahrrad unterwegs bin. Radle ich eine Weile neben einem solchen Gefährt, kann ich vom Sattel aus das schaurige Spektakel eines Lenkrads beobachten, das sich wie von Geisterhand dreht.
Diese Autos gondeln durch San Francisco, obwohl die lokalen Behörden dagegen sind und die Stadt sogar den Staat Kalifornien verklagt hat, weil er Firmen gestattet, Straßen als Teststrecken zu nutzen. Regelmäßig berichten Feuerwehrleute, dass fahrerlose Autos versuchen auf Löschschläuchen zu parken. Und vergangenen Juni hat ein selbstfahrendes Auto verhindert, dass die Rettungswagen zu den Verletzten einer Schießerei durchkamen.
Im Oktober wurde ein Unfallopfer, das nach der Karambolage mit einem normalen Auto noch auf der Straße lag, von einem fahrerlosen Wagen der General-Motors-Tochter Cruise erfasst. Die Frau wurde sechs Meter weit mitgeschleift. Das Fahrzeug konnte nicht erkennen, dass ein Mensch unter ihm lag. Um die Frau zu befreien, mussten die Rettungskräfte das Auto anheben. Nach diesem Unfall hat Cruise seine 950 selbstfahrenden Autos aus dem Verkehr gezogen. Waymo, ein Ableger des Google-Mutterkonzerns Alphabet, schickt seine Fahrzeuge weiterhin auf die Straße.
Fahrerlose Autos werden häufig auch „autonom“ genannt – aber Autofahren ist keine autonome, sondern eine kooperative Tätigkeit. Wer am Steuer sitzt, muss mit anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren. Ich zum Beispiel mache, egal ob zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto, Handzeichen und achte auf die Signale der anderen. Am Flughafen von San Francisco gibt es Schilder, die dazu auffordern, vor dem Überqueren der Straße mit den Autofahrer:innen in Blickkontakt zu treten. Doch in einem selbstfahrenden Auto sitzt niemand, mit dem ich in Blickkontakt treten könnte.
Wenn es um den Nutzen von selbstfahrenden Autos geht, führen die Betreiber gern ins Feld, dass menschliches Versagen eliminiert werde. Außerdem ermögliche es Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sich ohne fremde Hilfe fortzubewegen. Ehrlicher wäre es zu sagen, dass sie die Kosten für den Fahrer sparen. Seit der Einführung der „Spinning Jenny“ diente jede Art von Automatisierung als Mittel der Profitmaximierung. Nur aus diesem Grund gibt es das Self-Check-in-System am Flughafen, Selbstbedienungskassen im Supermarkt und Drugstores, intelligente Kameras auf mautpflichtigen Straßen oder Sprachautomaten in Service-Hotlines.
Mit dem Ergebnis, dass es heute sehr viel weniger alltägliche Gelegenheiten für persönliche Kontakte gibt. In den USA und anderswo leiden die Menschen unter pandemischer Einsamkeit und Isolation. Vivek Murthy, der Leiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes der USA (Surgeon General of the United States), spricht von einer regelrechten Krise, deren Ursachen mit dem Internet, Smartphones und sozialen Medien zu tun haben. Gesundheitsgefährdend seien beispielsweise Technologien, „die Kontakte von Person zu Person ersetzen, unsere Aufmerksamkeit monopolisieren, die Qualität unserer Interaktionen beeinträchtigen und sogar unser Selbstvertrauen schwächen“.
Die Coronapandemie hat die Tendenz zur Vereinsamung verschlimmert, aber manche Technologien haben vorher schon viele Anlässe, sich zu treffen, hinfällig gemacht. Nicht selten werden echte menschliche Begegnungen von der Techindustrie sogar als gefährlich, ineffektiv, unerfreulich oder lästig dargestellt – als ginge es uns immer nur darum, so produktiv wie möglich zu sein. Und deshalb müssen auch alle Faktoren, die die Produktivität hemmen könnten, beseitigt werden. Auf dieser Klaviatur spielten viele der neuen Unternehmen, die in den 1990er Jahren erstmals ins Onlineshopping und andere Geschäfte mit digitalen Dienstleistungen eingestiegen sind.
Diese Entwicklung hat sowohl die Stadtlandschaften als auch die menschliche Psyche verändert. Die American Booksellers Association hat ermittelt, dass allein 2021 in den USA 136 000 unabhängige Buchhandlungen mit einer Verkaufsfläche von insgesamt 1,1 Milliarden Quadratmetern aufgeben mussten – wegen Umsatzeinbußen zugunsten von Amazon. Viele Arbeitsplätze sind dadurch verloren gegangen, aber auch Beziehungen zu Menschen und Orten.
Im Internet mag ein Buch vielleicht billiger oder die Auswahl an Briefumschlägen größer sein, aber in einem Geschäft kann man eine Beziehung zum Inhaber entwickeln, mit anderen Kund:innen ins Gespräch kommen, zufällig einen Freund oder eine Nachbarin treffen. Der zwischenmenschliche Austausch ist eine nichtwarenförmige Leistung, die zusätzlich zu den Waren angeboten wird.
In ihrem urbanistischen Manifest „The Death and Life of Great American Cities“ (1961) schrieb die Architekturkritikerin Jane Jacobs über die „Augen auf den Straßen“: Fußgänger und Flaneure sorgen nicht nur dafür, dass der öffentliche Raum sicher bleibt, sondern auch einladend und gesellig. Heutzutage habe ich das Empfinden, dass sich in meiner Stadt so etwas wie ein „großer Rückzug“ vollzieht: Die Menschen haben ihre Augen nicht mehr auf der Straße, sondern anderswo – meist auf ihren Smartphones. Geschieht vor ihren Augen ein Verbrechen, filmen sie es womöglich – oder sie kriegen es gar nicht mit. Viele schrecken zurück, wenn eine fremde Person sie anspricht, oder tun so, als hätte die Kontaktaufnahme gar nicht stattgefunden. Ich selber vermeide inzwischen jene kleinen Interaktionen, die in New Orleans – und auch in New York – freundlich erwidert werden.
Ich bin 1980 nach San Francisco gezogen, als die Straßen und Bars voller Leben waren, es aber jenseits von Little Italy im Viertel North Beach nur wenige Cafés gab. Die entstanden erst in den beiden folgenden Jahrzehnten. In die Cafés ging man zum Abhängen, um ein Buch zu lesen, mit Zufallsbekanntschaften zu plaudern oder auch einfach nur, um das Leben zu beobachten. Seit der Jahrtausendwende sah man in Cafés nur noch überwiegend junge, weiße Gäste stumm auf ihre Apple-Geräte starren, als säßen sie in einem Großraumbüro. Doch selbst diese Phase scheint gerade an ihre Ende zu kommen.
Denn die nächste Phase hat bereits begonnen – in der man den Gästen austreiben will, längere Zeit im Café zu verweilen. Im April 2023 publizierte die Gastronomiezeitschrift Eater eine Story unter der Überschrift „2023 wollen die Cafés von San Francisco dich ums Verrecken loswerden.“ Die Betreiber räumen Tische und Stühle weg und setzen ausschließlich auf Take Away – auch weil sie nicht mehr wollen, dass ihre Räume als kostenlose Büros zweckentfremdet werden.
Kulturelle, soziale und religiöse Begegnungsstätten mussten schließen oder umziehen. Filmfestivals haben die Stadt verlassen, Theater, Galerien und Secondhand-Läden haben zugemacht. Traditionsgeschäfte konnten die Miete nicht mehr zahlen, darunter die erste von Schwarzen betriebene Buchhandlung der USA. Und all das, während die Vermögenskonzentration in beispiellosem Tempo zunimmt.
Obwohl San Francisco Ende der 1990er Jahre das Epizentrum des Dotcom-Booms war (bis die Blase im März 2000 platzte), war das Silicon Valley bis Anfang der 2010er Jahre eher mit der Stadt San José assoziiert, die am Südende der San Francisco Bay liegt. Doch als Facebook, Google und Apple 2012 begannen, luxuriöse Shuttlebusse einzusetzen, um ihren Angestellten den täglichen Stau zu ersparen, zogen sehr viele von ihnen nach San Francisco.1 Mittlerweile ist die Stadt vollständig vom Valley annektiert.
Die Angestellten der Techbranche wollen an einem dynamischen, vielseitigen Ort leben, doch ihre Produkte schaffen das Gegenteil davon. Viele von ihnen halten sich für Außenseiter, gar als Teil einer Gegenkultur, doch sie verdingen sich bei Konzernen, die längst Kultur, Politik und Wirtschaft beherrschen. Dass Apple in einer Garage irgendwo bei San José gegründet wurde, ändert nichts daran, dass das Unternehmen mit einem Börsenwert von 3 Billionen US-Dollar heute das wertvollste Unternehmen der Welt ist.
In den vergangenen Jahrzehnten hat San Francisco eine ganze Reihe lokaler und nationaler Wirtschaftskrisen überlebt. Doch was sich aktuell abspielt, kann man nur als „Doom Loop“, als einen unabwendbaren Teufelskreis, beschreiben. Die Coronapandemie hat ganze Büroetagen leergefegt und viele Geschäfte in den Ruin getrieben. Das hat zum Teil mit den Entlassungen im Techsektor zu tun, aber auch damit, dass viele Angestellte mittlerweile komplett von zu Hause arbeiten und die Region verlassen haben.
Mehr noch als der Bevölkerungsrückgang und die Verödung der Innenstadt hat allerdings der reduzierte zwischenmenschliche Kontakt die Stimmung in der Stadt verändert. San Francisco ist nach wie vor das urbane Zentrum der Bay Area, doch die Art, wie die Menschen hier leben, wirkt zunehmend suburban: Fremden geht man möglichst aus dem Weg, Überraschungen werden gemieden.
In den Medien wird San Francisco in den letzten Jahren oft als Sündenpfuhl oder Brutstätte des Verbrechens bezeichnet, was wiederum beweisen soll, dass die progressive Kommunalpolitik gescheitert ist. Vor allem rechte Medien verbreiten ständig Storys über Kriminalität, Obdachlosigkeit und die Opioidkrise (die seit Jahren und beileibe nicht nur hier grassiert, mit vielen Opfern aus der weißen Mittelschicht2). Mit solchen Narrativen pflegen konservative Kreise – darunter viele Techbosse – ihre Forderung nach einem „War on Crime“ wie in den 1980er und 1990er Jahre zu begründen: mehr Polizisten, härtere Strafen und die Beschneidung von Grundrechten.
In Wirklichkeit liegt die Zahl der Gewaltverbrechen in San Francisco niedriger als in vielen anderen US-Städten. Selbst Delikte wie Autos knacken oder Ladendiebstahl werden als alarmierende Anzeichen für einen drohenden gesellschaftlichen Kollaps angeführt. Großes Aufsehen erregte im Juni 2021 ein Video, in dem ein junger, Schwarzer Mann in einer Drogerie einen Müllsack mit Waren vollstopft und auf einem Fahrrad abhaut. Mehrere Einzelhandelsketten begründeten die Schließung ihrer Filialen im Stadtzentrum mit der Diebstahlquote. Doch dann stellte sich heraus, dass der eigentliche Grund zu geringe Einnahmen und andere geschäftliche Probleme waren.
Dennoch hat sich die Vorstellung, dass San Francisco in der Gesetzlosigkeit versinkt, in den Köpfen festgesetzt. Das zeigt sich exemplarisch an dem viel diskutierten „Fall Bob Lee“. In den Morgenstunden des 4. April 2023 wurde der bekannte Techmanager – der für Google und zuletzt für das Krypto-Start-up MobileCoin gearbeitet hatte – erstochen aufgefunden. Sehr schnell kam die Behauptung auf, Lees Ermordung sei Teil einer Verbrechensserie, die enthemmten Tätern aus der Unterschicht zugeschrieben wurde.
So behauptete Elon Musk auf Twitter, trotz der „schrecklichen Gewaltverbrechen in SF“ würde man die Täter nach ihrer Festnahme „häufig sofort wieder freilassen“. Und der Risikokapital-Investor Matt Ocko wütete gegen den früheren Bezirksstaatsanwalt von San Francisco: Diesem „Chesa Boudin und dem verbrecherfreundlichen Stadtrat, der jahrelang ein gesetzloses SF hingenommen hat, klebt buchstäblich das Blut von Bob an den Händen.“
Kurz darauf wurde allerdings ein Mann namens Nima Momeni des Mordes angeklagt. Momeni ist ebenfalls Techunternehmer und hatte den Abend mit seinem Kollegen verbracht. Lee starb mit Kokain und Ketamin im Blut; auch der mutmaßliche Mörder und seine Schwester sollen zur Tatzeit auf Drogen gewesen sein. Zumindest ein Teil dieser Drogen hatte offenbar ein Freund und Ex-Kollege von Lee namens Jeremy Boivin beschafft, der bereits 2021 mit jeweils einem Kilo Kokain und Crystal Meth verhaftet worden war. 2020 war er angeklagt, seine Haushälterin mit der „Vergewaltigungsdroge“ GHB sediert und anschließend missbraucht zu haben.
Chesa Boudin, der Staatsanwalt im Fall Boivin, stellte fest, dass in den konservativen Kreisen von San Francisco die Ansicht vorherrsche, dass nur Arme Drogen nehmen. Tatsächlich sind Drogen gerade in der Techindustrie weit verbreitet. Offenbar auch beim mutmaßlichen Lee-Mörder; nach Aussagen eines Freundes hatte Nima Momeni ein Kokainproblem, „wie es in Managerkreisen der Bay Area normal ist“. Momenis Verteidiger dagegen lenkte den Verdacht auf einen obdachlosen Mann, der in der Nähe des Tatorts geschlafen hatte. Dabei hatte man Momenis DNA am Griff des Küchenmessers gefunden, mit dem Lee ermordet worden war. Das Messer passt zu einem Set aus der Küche von Momenis Schwester, die Lee und Momeni in ihrem Luxusapartment im Millennium Tower an jenem Abend besucht haben.
Eine Überwachungskamera hat aufgezeichnet, wie die beiden den Tower verlassen und in Momenis BMW steigen; eine weitere filmte, wie sie ein paar Straßen weiter wieder ausgestiegen sind und Momeni kurz darauf allein zurückkommt und wegfährt. Lee taumelt ins Blickfeld einer anderen Kamera. Er schafft es, den Notruf zu wählen. Das Rettungsteam findet ihn blutend und bewusstlos auf dem Bürgersteig. Im Krankenhaus wird sein Tod festgestellt.
Verbrechen in der Bay Area können auf verschiedene Weise beschrieben werden, und nicht von allen gibt es so dramatische Bilder: wenn etwa Sam Bankman-Fried aus Palo Alto, Gründer der Kryptobörse FTX, 8,6 Milliarden US-Dollar an Kundenguthaben beiseiteschafft, oder die Stanford-Absolventin Elizabeth Holmes 700 Millionen Dollar für ihre Biotechfirma Theranos eingesackt hat, deren Blutschnelltests dann nicht funktionierten. Die als „nächster Steve Jobs“ gefeierte Unternehmerin büßt seit Mai 2023 ihre elfjährige Haftstrafe in einem Bundesgefängnis in Texas ab. Bankman-Fried wurde am 28. März zu 25 Jahren verurteilt.
Es handelt sich ganz ordinär um Diebstahl, doch der Reichtum, der im Silicon Valley angehäuft wurde, lässt die dort lebenden Milliardäre aus der Finanz- und Techbranche glauben, sie stünden über dem Gesetz. Das Geld scheint ihnen so sehr zu Kopf gestiegen zu sein, dass sie glauben, alles, was sie anpacken, gelinge. Bis hin zum Umbau der Gesellschaft nach ihren Vorstellungen.
So finanzierten die Milliardäre William Oberndorf und David Sacks, ehemals PayPal, eine Kampagne, die im Juli 2022 zur Abberufung des kurz zuvor gewählten Bezirksstaatsanwalts Chesa Boudin führte. Insgesamt kamen 7 Millionen US-Dollar zusammen, 600 000 allein von Oberndorf.
Zu den Boudin-Gegnern gehört auch der Risikokapital-Milliardär Ron Conway, der wie andere Superreiche San Francisco politisch auf Rechtskurs bringen will. Conway war bereits die treibende Kraft hinter einem 2010 von der Stadt verfügten Verbot, auf Bürgersteigen herumzusitzen – wodurch insbesondere Wohnungslose kriminalisiert werden. Für einen Großteil der Techelite sind Obdachlose nicht Menschen, denen es an allem fehlt, sondern nur ein Störfaktor.
Wer Reichtum und Tugend in eins denkt, neigt dazu, Armut mit Laster gleichzusetzen, weshalb auch im Mordfall Bob Lee der Verdacht zuerst auf einen Obdachlosen fiel und nicht auf einen der Ihren. In ihrer Selbstwahrnehmung gehört die Techelite zu den Helden und Problemlösern; manchmal auch zu den Opfern – aber niemals zu den Bösen.
Vielleicht fühlen sich diese Leute durch die Existenz der Unbehausten, die sich nicht zurückziehen zu können, so sehr bedroht, dass sie möglichst zu Hause bleiben und sich nur widerstrebend und mit mulmigem Gefühl in den öffentlichen Raum hinauswagen. Dabei hilft ihnen die Expansion der Lieferdienste, die es inzwischen normal macht, dass man nicht mehr ins Restaurant oder einkaufen gehen muss.
Doch diese sogenannte Gig-Economy bedeutet nicht nur für die Beschäftigten, sondern auch für die Kund:innen eine menschliche Entfremdung. „Viele Leute verlangen, das Essen vor die Tür gestellt zu bekommen“, berichtete ein Lieferfahrer aus San Francisco schon 2016. „Die Kunden lieben Apps, bei denen die Arbeitenden anonym bleiben.“ Heute kann dir die „unsichtbare Hand“ des Markts tatsächlich einen Burrito bringen.
Mit der Produktion exorbitanter Reichtümer zerrt uns der Techsektor in eine Art Feudalsystem zurück, in dem wenige Mächtige niemanden mehr Rechenschaft schulden. Nehmen wir Elon Musk. Der reichste Mensch der Welt hat mit der Übernahme von Twitter eine Plattform für rechtsextremes, rassistisches Gedankengut und Verschwörungstheorien etabliert.
Im Ukrainekrieg kam Musks Starlink-Satellitentechnologie anfangs nur auf ukrainischer Seite zum Einsatz, neuerdings nutzen auch die russischen Truppen das System. „Es ist quasi das erste Mal, dass eine Zivilperson zum Schiedsrichter in einem Krieg zwischen zwei Staaten wird“, kommentierte Ronan Farrow im New Yorker. Das gelte auch für „den Grad der Abhängigkeit“ der USA von Musk – „auf vielerlei Gebieten von der Energiewende über die Zukunft der Transportsysteme bis zur Weltraumforschung“.
Laut Farrow berichten Leute aus Musks Umfeld, dass dessen Ketamin-Konsum in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Die Drogensucht erklärt womöglich auch – in Kombination mit der Tendenz, sich abzuschotten, und den immer hitzigeren Fehden mit der Presse – seine impulsiven Ausbrüche und chaotischen Entscheidungen.
Noch so ein Fall ist Mark Zuckerberg. Der fünftreichste Mensch der Welt ignoriert bewusst die Rolle seiner Plattform Facebook bei Wahlbeeinflussungen in aller Welt, beim Genozid an den Rohingya in Myanmar oder Instagrams Anteil an psychischen Krisen unter Jugendlichen. Zuckerbergs Unternehmen hat kürzlich bei der Entwicklung des Metaversum, eines ambitionierten Virtual-Reality-Projekts, 46 Milliarden US-Dollar in den Sand gesetzt. „Sehr bald schon“, hatte er im September 2023 getönt, „ist es so weit, dass wir mit einigen Freunden real zusammensitzen und andere als digitale Avatare oder Hologramme dazukommen – und ihre Anwesenheit wird sich nicht weniger real anfühlen.“ Wie viele Technokraten vor ihm behauptet Zuckerberg also, dass sich menschlicher Kontakt problemlos durch Onlineverbindungen ersetzen lässt.
Die Bay Area ist längst nicht mehr Avantgarde
Und dann ist da noch Peter Thiel. Der PayPal-Gründer hat 10 Millionen US-Dollar für eine Zivilklage gegen die Klatschwebsite Gawker ausgegeben, die ihn 2016 als schwul outete. Man sollte daher meinen, dass sich dieser Mann für den Schutz der Privatsphäre engagiert. Doch Thiel ist auch der Gründer des Software-Anbieters Palantir, dessen Technologie das Heimatschutzministerium gegen illegale Einwanderung nutzt. Palantir hat zudem Cambridge Analytica geholfen, Facebook-Nutzerdaten für Trumps Wahlkampfteam abzuzweigen. Und der US-Auslandsgeheimdienst NSA konnte, wie von The Intercept berichtet wurde, mit Hilfe von Palantir sein globales Spionagenetzwerk optimieren.
Dieselben Techbosse, deren Firmen unsere Privatsphäre notorisch verletzen, verteidigen entschlossen ihre eigene. Damit verkörpern sie genau die Haltung, die laut Frank Wilhoit die Essenz des Konservatismus ausmacht: „Es gibt Ingroups, die durch Gesetze geschützt, aber nicht gebunden sind, und Outgroups, die durch Gesetze gebunden, aber nicht geschützt sind.“
So träumt Musk vom Weltraumtourismus und von Kolonien auf anderen Planeten und Thiel von der Unsterblichkeit, als würden staatliche oder biologische Gesetze für sie nicht gelten. Zudem wollen sie offenbar auf ewig einen überdimensionalen Teil der globalen Ressourcen verbrauchen.
Thiel hat 2009 sein libertäres Credo so formuliert: „Ich bin gegen konfiskatorische Steuern, totalitäre Kollektive und die Ideologie der Unausweichlichkeit des Todes.“ Außerdem glaube er nicht mehr daran, „dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind“. Vor die Wahl gestellt, würde er sich wohl nicht für die Demokratie entscheiden. Denn Demokratie setzt gleiche Chancen auf politische Teilhabe voraus, extremer Reichtum aber bedeutet unermessliche Vorteile bei minimaler Verantwortung.
Ich bin seit langem der Meinung, Demokratie bedeutet auch, dass man mit Fremden und andersdenkenden Menschen auskommen muss. Doch das Internet bewirkt, dass Menschen sich in Gruppen von Gleichgesinnten zusammentun, wobei die Anonymität im Netz enthemmt und den Hass gegen die vermeintlich anderen noch verstärkt.
Die Auflösung sozialer Kontakte kann sogar zum Geschäftsmodell werden. Das gilt für das in San Francisco ansässige Unternehmen Airbnb, das auf der ganze Welt nachbarschaftliche Beziehungen zerstört, wenn Mietwohnungen in Ferienobjekte umgewandelt und gleichzeitig die Preise auf dem Wohnungsmarkt in die Höhe getrieben werden. Eine Freundin, die in der halbländlichen Gemeinde Joshua Tree östlich von Los Angeles lebt, hat in ihrer Umgebung nur noch Kurzzeit-Mieter und keine Nachbarn im traditionellen Wortsinn mehr.
Die Techmogule leben vorzugsweise in Gated Communities, schicken ihre Kinder auf Privatschulen, besitzen Privatjets und Privatinseln. Wie die meisten Superreichen schotten sie sich gern ab. Dabei machen sie ihr Geld mit Technologien, die darauf angelegt sind, möglichst viele Informationen über uns abzugreifen, die aber zugleich unseren Rückzug aus gesellschaftlichen Zusammenhängen fördern. Mit dem Ergebnis, dass wir isolierter leben und zugleich weniger Privatsphäre haben als jemals zuvor.
Meines Wissens bin ich keinem dieser Milliardäre bisher begegnet. Aber ich benutze zwangsläufig ihre Plattformen und bewege mich zwischen ihren Angestellten. Und ich lebe in einer Stadt – ja, in einer Welt, die sich durch das Tun dieser Milliardäre auf radikale Weise verändert hat.
2022 hat Jacob Silverman in der New Republic einen Essay über David Sacks und die neurechten Isolationisten publiziert. „Das symbolische Epizentrum dieser Bewegung ist San Francisco“, schreibt Silverman. „Aber im Grunde geht es um das Ende des umfassenden kalifornischen Traums. Die reichen Techies, die erleben, wie ihre geliebte Metropole verfällt und krasse Ungleichheit und soziales Elend um sich greifen, halten den Staat für tot. In ihrer Enttäuschung und Entfremdung – die sich mit der republikanischen Abscheu gegenüber liberalen Großstädten (und ihrer nichtweißen Bevölkerung) paaren – beschwören sie das Bild unwiderruflichen städtischen Verfalls.“3 Damit verstärken sie das Lamento des Trump-Lagers, wonach die Städte – insbesondere in Kalifornien – dunkle, gefährliche Zonen sind, die eine harte Hand brauchen.
Doch diese Leute haben San Francisco nie wirklich geliebt, jedenfalls nicht als Ort der Vielfalt und des freien Austauschs. Und nie haben sie sich zu der Verantwortung bekannt, die sie selbst für die dramatische ökonomische Ungleichheit, für die Wohnungskrise und die verzweifelte Lage der Obdachlosen tragen.
Eine Gruppe dieser empörten Techmilliardäre hat neuerdings beschlossen, am nordöstlichen Rand der Bay Area eine komplett neue Stadt zu bauen. In aller Stille hat ein Konsortium namens Flannery Associates in Solano County über 20 000 Hektar Ackerland aufgekauft, für insgesamt 800 Millionen US-Dollar. Der Demokrat John Garamendi, der die Region im US-Repräsentantenhaus vertritt, berichtete in der Los Angeles Times, wie das Konsortium „Farmer mit Schweigeklauseln, Drohungen und Mafiamethoden dazu zwingt, ihr seit Generationen bebautes Land zu verkaufen“.
Im August 2023 legten die Investoren ihre Pläne vor: Ihr Prospekt verspricht „eine neue Stadt mit Zehntausenden neuer Wohnungen, einer großen Solarenergiefarm, Obstplantagen mit mehr als einer Million Bäumen, dazu neue Parkanlagen und Freiflächen von insgesamt 4000 Hektar“. Auf ihrer Website findet man jedoch keine Antworten auf zentrale Fragen, etwa nach den Umweltkosten des gigantischen Bauprojekts; oder nach der Selbstverwaltung der neuen Stadt, deren Gründer und (mutmaßliche) Eigentümer zu einem elitären Zirkel gehören; oder inwiefern dieses Privatunternehmen an die öffentliche Infrastruktur angebunden werden soll.
Nichts von alledem. Dafür präsentiert der Prospekt Bilder in Pastellfarben, auf denen Kinder auf baumgesäumten Straßen vor adretten Reihenhäusern spielen und Erwachsene mit brauner, schwarzer und weißer Haut auf einer Plaza sitzen oder Fahrrad fahren. Dabei ist es eher unwahrscheinlich, dass die Investoren vorhaben, selbst in diesen Reihenhäusern zu wohnen, ihre Kinder auf der Straße spielen zu lassen oder neben der schwarzen Frau aus dem Prospekt im Zug zu sitzen.
2022 beschwerte sich Marc Andreessen, einer der Flannery-Investoren, über den Bau eines Mehrfamilienhauses in seinem mondänen Wohnort Atherton, wo ein Haus durchschnittlich 8 Millionen Dollar kostet. In einer E-Mail an die Stadtverwaltung forderte er, „umgehend“ alle Mehrfamilienhausprojekte aus dem Bebauungsplan zu streichen, denn diese würden den Wert der Immobilien und die Lebensqualität „massiv mindern“ sowie die Lärmbelästigung und den Verkehr „enorm steigern“.
Für die Villenbesitzer sind Menschen, die in Wohnungen (oder Zelten) leben, nichts als Abschaum, den man nicht um sich haben will. Das Wort Wohnungskrise kennen sie nicht. Die Reichen wohnen im Grunde nirgendwo, sie sind Nomaden, die zwischen mehreren Wohnsitzen pendeln. Andreessen zum Beispiel gehört unter anderem noch ein 177 Millionen teures Anwesen in Malibu. Gegen das Projekt von Flannery Associates regte sich vor Ort allerdings heftiger Widerstand, und die Regierung des County hat erklärt, dass sie keine Ackerflächen in Bauland umwidmet.
Ich weiß nicht, ob diese Milliardäre wissen, was eine Stadt ist. Aber ich weiß, dass sie ihren Reichtum benutzt haben, um die Vielfalt der Stadt, die seit 1980 mein Zuhause ist, zu zerstören: Sie haben das Wohnen unbezahlbar gemacht, die Armen dämonisiert, Lokalpolitiker zu ihren Marionetten gemacht und einen politischen Rechtsruck finanziert.
Ich war stets stolz darauf, aus der Bay Area zu kommen. Sie war für mich ein freier und zugleich geschützter Ort. Hier nahm die Umweltbewegung ihren Anfang; sie war ein Zentrum der Experimentellen Poesie und der Antikriegsbewegung, der Geburtsort der Schwulenbewegung, des Kampfs für die Rechte von Indigenen und der Black Panthers. Es war eine Hochburg der Linken, die Schutz bot vor den Brutalitäten und dem Konformismus der amerikanischen Gesellschaft, eine Zuflucht für Dissidenten und Ausgegrenzte und ein Laboratorium neuer Ideen.
Ein solches Laboratorium ist die Bay Area noch immer. Aber sie ist nicht mehr Avantgarde, sondern ein globales Machtzentrum, das die Welt – durch das Wirken einer neuen Superelite – auf eine Weise formt, die jeden Tag beängstigender wird.
1 Siehe „Von Goldgräbern und Nerds“, LMd, Juni 2013.
2 Siehe Maxime Robin, „Wenn der Arzt zum Dealer wird. In den USA sind rezeptpflichtige Opioide zur Einstiegsdroge geworden – ein Lagebericht aus Ohio“, LMd, Februar 2018.
3 Siehe Jacob Silverman, „The Quiet Political Rise of David Sacks, Silicon Valley’s Prophet of Urban Doom“, The New Republic, 18. Oktober 2022.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Rebecca Solnit ist Schriftstellerin, Kulturhistorikerin und Umweltaktivistin; zuletzt erschien von ihr „Orwells Rosen“, Hamburg (Rowohlt) 2022.
© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin