Ruanda – 30 Jahre danach
Zwischen April und Juli 1994 ermordeten in Ruanda radikale Hutu mehr als 800 000 Menschen. 30 Jahre später prägen die Erinnerungen an den Völkermord noch immer die Beziehungen zwischen Ruanda und seinen Nachbarländern.
Alles wirkt ruhig in dem kleinen Dorf Bugeshi im Distrikt Rubavu im Westen Ruandas. Ein Schafhirte mit grauem Hut kommt in Gummistiefeln die Hauptstraße entlang, sein knorriger Stock begleitet den Rhythmus seiner Schritte. Er geht auf eine Gruppe junger Männer zu, die Kartoffeln in große Leinensäcke werfen. Trotz der kühlen Luft stehen ihnen Schweißtropfen auf der Stirn.
Der Schäfer bleibt stehen, beobachtet sie eine Weile und setzt seinen Weg fort. Plötzlich kommt ein Motorrad um die Ecke, darauf ein Soldat der ruandischen Armee. Er lässt den Motor aufheulen und verschwindet hinter einer Hütte, die auf den ersten Blick verlassen wirkt. Doch im Schatten der Holzwand sitzt ein weiterer Soldat mit steinernem Gesicht. Es handelt sich um einen der Posten an der Grenze zum benachbarten Nord-Kivu, einer Provinz in der Demokratischen Republik Kongo (DRK).
Eric1 steht in seiner Tischlerwerkstatt, er arbeitet gerade mit dem Schweißgerät, es sprühen die Funken. Schließlich schiebt er die dunkle Schutzbrille auf die Stirn und versichert uns: „Wir sind hier in Sicherheit, die Wirtschaft brummt, und unser Land schützt uns.“ Denn auch wenn hier Ruhe herrscht – nur ein paar Kilometer weiter, auf der anderen Seite der Grenze, operieren zahlreiche bewaffnete Gruppen. Eine davon ist die Rebellenmiliz Bewegung des 23. März (M23).
Die M23 wird beschuldigt, die Bevölkerung von Kivu zu terrorisieren und die Provinz auszuplündern. Ihr Aufstand begann 2012 und ist Ende 2021 nach acht Jahren Pause erneut ausgebrochen (siehe die Beiträge von Erik Kennes und Nina Wilén sowie von Rodrigue Nana Ngassam auf Seite 12/13).
„Hinter der Grenze herrscht das blanke Chaos, aber wir bekommen davon nichts mit. Wir erfahren es nur aus den Medien“, sagt Justine. Kaum hat die etwa Vierzigjährige es gesagt, rast ein Pick-up mit sechs bewaffneten Männern durchs Dorf. Als wir Justine fragen, was sie hier tun, antwortet sie nicht und starrt zu Boden.
In Ruanda ist man besser vorsichtig. Alle haben Angst vor Spionen. Das Land mit seinen 13 Millionen Einwohnern wird von der UNO und der DR Kongo beschuldigt, die M23 zu unterstützen. Der ruandische Präsident Paul Kagame wirft seinerseits der kongolesischen Regierung unter Félix Tshisekedi vor, die Miliz Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR) zu unterstützen, ruandische Exilanten, die am Genozid von 1994 beteiligt gewesen sein sollen.
Es ist eine alte Feindschaft. Der Zweite Kongokrieg zwischen 1998 und 2002 – auch Afrikanischer Weltkrieg genannt – hat mehrere Millionen Todesopfer gefordert. Ruanda wird dafür mitverantwortlich gemacht. Aus diesem Krieg sind diverse andere Konflikte hervorgegangen, die bis heute im Osten der DR Kongo wüten.
Den Ursprung des heutigen Chaos auf den einen Aggressionskrieg zu beschränken, wäre jedoch laut Gauthier de Villers, ehemaliger Leiter des Zentrum für afrikanische Studien und Dokumentation (Cedaf) in Brüssel, „eine sträfliche Vereinfachung“.2 Eines jedenfalls ist sicher: Die Konflikte zwischen Hutu und Tutsi und der Genozid von 1994 prägen bis heute die Beziehungen Ruandas mit seinen Nachbarstaaten.
Um das Verhältnis zwischen Ruanda und der DR Kongo zu verstehen, ist ein Blick in ein anderes Nachbarland nötig: An der Grenze zu Uganda liegt die Stadt Cyanika, etwa ungefähr 70 Kilometer nordöstlich von Bugeshi in einer grünen Hügellandschaft. Auf beiden Seiten der Grenze befinden sich Nationalparks, die bei westlichen Touristen sehr beliebt sind.
Beide Länder haben Gemeinsamkeiten: ihre Vulkane, ihren Nebel und ihre Gorillas. Ansonsten trennt sie so einiges. So rasen die Motorradfahrer jenseits der Grenze auf ugandischer Seite ohne Helm durch die Gegend, in vollem Tempo. In Ruanda hingegen gelten Helmpflicht und ein Tempolimit, jeder Verstoß wird streng bestraft. Was die politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern betrifft, so haben sie sich in letzter Zeit ständig verschlechtert. Aber das war durchaus nicht immer so.
Der ruandische Präsident Paul Kagame, 1957 geboren, floh als Kind mit seiner Familie aus Ruanda, wo die Tutsi schon damals verfolgt wurden, nach Uganda. Er verbrachte seine Jugend in der ugandischen Hauptstadt Kampala und träumte davon, Pilot zu werden. Mitte der 1970er Jahre lernte er dort den Ugander Yoweri Museveni kennen, der an der Gründung der revolutionären Gruppe Front für die Nationale Errettung (Fronasa) beteiligt gewesen war. 1979 war sie am Sturz von Diktator Idi Amin beteligt.3
Der tatendurstige Kagame schloss sich im darauffolgenden Bürgerkrieg der Guerilla an und traf dort seinen Freund Fred Rwigema wieder, der einige Jahre später der erste Kommandant der Ruandischen Patriotischen Front (FPR) wurde. Die FPR war von ruandischen Exilanten gegründet worden, mit dem Ziel, das hutudominierte Regime im Heimatland zu stürzen. Als Museveni im Januar 1986 Kampala eroberte und zum Präsidenten Ugandas wurde, ernannte er Kagame zum Direktor des Geheimdienstes und Rwigema zum stellvertretenden Verteidigungsminister.
Ein paar Jahre später musste Museveni seine einstigen Waffenbrüder unter dem Druck der Nationalisten wegen ihrer ruandischen Herkunft absetzen.4 Kagame, der in den USA eine militärische Ausbildung erhalten hatte, wurde Chef der FPR – als Nachfolger von Rwigema, der während der ersten Offensive in Ruanda im Oktober 1990 getötet worden war.
Mit Musevenis Unterstützung übernahm die FPR nach vier Jahren schließlich die Kontrolle über das Land und beendete den Genozid an den Tutsi im Juli 1994. Kagame übernahm de facto die Macht, obwohl er erst 2000 Präsident Ruandas wurde.
Der frühere Rebell verstärkte die Armee und mischte sich in den Zweiten Kongokrieg ein. Und diesmal stimmten die Interessen Ugandas nicht mit denen Ruandas überein. Ab 1999 bekämpften sich die Armeen der beiden Länder in der DR Kongo.
„Diese Geschichte ist mehr als eine Frage des Vertrauens zwischen Museveni und mir“, erklärt Kagame im Mai 2021. „Sie dauert schon lange, aber ich fasse es so zusammen: Für uns ist es nicht akzeptabel, untergeordnet zu sein. Wir wollen nicht kontrolliert oder benutzt werden. Wir sind zwar ein kleines Land, aber dafür sind wir zu groß.“5
Diese Äußerung gilt wohl auch für die Beziehung zu Burundi. In Mahama im Osten Ruandas scheinen Dorfbewohner und die Burundier im Flüchtlingslager einträchtig und einträglich zusammenzuleben. Dank der Flüchtlinge wurden die hiesigen Bauern in ein Förderprogramm für Landwirtschaftskooperativen aufgenommen, wie uns lächelnde Dörfler unter einem Bananenbaum erzählen. „Ihre Anwesenheit hat alles verbessert! Wir haben hier sogar eine ökonomische Partnerschaft mit den Burundiern“, erklärt Christophe, der 42-jährige Chef der Kooperative.
Die diplomatischen Beziehungen sind jedoch weniger herzlich, obwohl die beiden Länder eine ähnliche Vergangenheit haben: Beide waren belgische Kolonien, und die Staatenbildung geschah durch bewaffnete Exilgruppen. Doch die FPR wird von Tutsi geführt, während die führende Kraft in Burundi, der Nationalrat für die Verteidigung der Demokratie – Verteidigungskräfte der Demokratie (CNDD-FDD), aus einer Rebellenbewegung von mehrheitlich Hutu hervorgegangen ist.
Seit dem Machtantritt der CNDD-FDD 2005 verschlechtern sich die Beziehungen. So wirft die Regierung Burundis Ruanda vor, 2015 einen Putschversuch in Burundi unterstützt zu haben. Und die ruandische Regierung wirft ihrerseits Burundi vor, am Genozid von 1994 beteiligte Hutu aufgenommen zu haben.
„Entscheidend für diese Beziehung ist das unterschiedliche Gedenken an die ermordeten Tutsi in Ruanda und die ermordeten Hutu in Burundi“, erläutert der Soziologe André Guichaoua, Spezialist für die Region der Großen Seen. 1972 und 1988 fanden in Burundi Massaker an Hutu statt, mit zehntausenden, 1972 womöglich sogar hunderttausenden Toten. „Keiner will die Opfer der anderen Seite erwähnen“, so Guichaoua.
Die Beziehungen Ruandas zu Tansania sind anders gelagert. Sina Schlimmer, die im Subsahara-Afrika-Zentrum des Institut français des relations internationales (Ifri) arbeitet, sagt dazu: „Samia Suluhu Hassan, die Präsidentin Tansanias, und Paul Kagame beschäftigen sich vor allem mit ökonomischen Fragen. Sie konzentrieren sich mehr auf Infrastrukturprojekte als auf die politischen Fragen der 1980er und 1990er Jahre.“
Tansania nimmt eine Vermittlerrolle in der Region der Großen Seen ein. Das war schon 1992/93 so, als die Arusha-Abkommen den Bürgerkrieg in Ruanda beenden sollten, und auch 1994 bei der Eröffnung des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, der über die mutmaßlichen Verantwortlichen des Genozids an den Tutsi urteilen sollte. 2004 wurde in Tansania eine Erklärung für „Frieden, Sicherheit, Demokratie und Entwicklung der Großen Seen“ unterzeichnet.
Aber die Achse Ruanda–Tansania erlebte auch Turbulenzen. 2013 verärgerte ein diplomatischer Zwischenfall bei einem Gipfel der Afrikanischen Union (AU) in Addis Abeba den ruandischen Präsidenten. Der damalige tansanische Präsident Jakaya Kikwete (2005–2015) schlug ein Gespräch mit den FDLR vor und verlangte von Ruanda, die M23 nicht länger zu unterstützen. Die Spannung zwischen den beiden Ländern legte sich erst 2016 nach dem Besuch von Kikwetes Nachfolger John Pombe Magufuli in Kigali.
Ruandas Beziehungen zu den Nachbarn werden zwar stark von dem ethnischen Konflikt geprägt, der die Geschichte des Landes bestimmt hat, aber auch Wirtschaftsinteressen spielen eine wichtige Rolle in der Region.6 Burundi, Uganda, Tansania und Ruanda sind allesamt interessiert an den Erzen im kongolesischen Kivu. Mehr als hundert bewaffnete Gruppen wüten dort, ein Vorteil für die gierigen Nachbarn.
„Das Gold geht über Tansania und Burundi, während sich Ruanda mehr für Coltan, Zinn und Wolfram interessiert, die illegal in die Emirate exportiert werden“, erläutert der Politikwissenschaftler Thierry Vircoulon, ebenfalls vom Ifri. „Doch Ruanda will mehr, was die Rückkehr der M23 seit 2021 erklärt, denn die kontrolliert ein Gebiet, in dem diese drei Mineralien vorkommen. Kagame hat sogar schon davon gesprochen, die Grenzen infrage zu stellen, und das ist riskant.“
Derartige Behauptungen werden von der ruandischen Regierung zurückgewiesen. Und Willy Ngoma, Sprecher der M23, erklärt, sie seien nicht in Bergbauregionen aktiv, sie kämpfe „für die Ausrottung des Tribalismus“.
Eines steht fest: Auch wenn sich die Regierung in Kigali auf Kosten von Nord-Kivu „bereichert“, wie Vircoulon behauptet, so gilt das gewiss nicht für die Ruanderinnen und Ruander. Die Einwohner eines Dorfes nahe der Grenze jedenfalls haben mit den Auseinandersetzungen zwischen ihrem Land und der benachbarten DR Kongo nichts am Hut.
Seit die M23 wieder aktiv geworden ist, ist die Grenze nicht mehr so durchlässig, und die Wut wächst. Die Dorfbewohnerin Jacqueline schimpft: „Früher habe ich meinen Fisch in Goma in der DR Kongo gekauft und für 25 000 ruandische Francs zwei Kisten bekommen. Hier bekomme ich dafür nicht mal eine.“ Ein Nachbar ergänzt: „Die Korruption wütet hier im Land. Wir halten besser den Mund, wenn uns das Leben lieb ist. Ob an der Grenze oder sonst wo, den Armen hilft keiner.“
1 Die Vornamen wurden geändert, um die befragten Personen zu schützen.
2 Gauthier de Villers, „La guerre dans les évolutions du Congo-Kinshasa“, in: Afrique contemporaine, Bd. 3, Nr. 215, Paris 2005.
3 Michela Wrong, „Do Not Disturb: The Story of a Political Murder and an African Regime Gone Bad“, New York (PublicAffairs) 2021.
4 Bernard Leloup, „Le Rwanda et ses voisins. Activisme militaire et ambitions régionales“, in: Afrique contemporaine, Bd. 3, Nr. 215, Paris 2005.
5 François Soudan und Romain Gras, „Paul Kagame: Tshisekedi, Kabila, Macron, Touadéra, ma famille et moi“, Jeune afrique, 25. Mai 2021.
6 Siehe Sabine Cessou, „Countdown in Kinshasa“, LMd, Dezember 2016.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Marion Fiquet ist Journalistin.