Auf der Suche nach Palästina
Gespräche über Zukunftsvisionen und den brutalen Alltag unter der Besatzung
Erleben wir gerade den entscheidenden Moment der jüngeren Geschichte Palästinas? So ist es allenthalben zu hören, in einem Ton, so düster wie hell, ein Doppelklang von Desaster und Triumph. Nie war das Leid nach 1948 so bitter, die Gefahr völliger Vertreibung so groß. Zugleich dieser weltweite Echoraum der Solidarität, vibrierend von Siegesgewissheit: Palestine will be free.
Wo aber ist dieses Palästina, wenn es denn nicht nur eine Metapher sein soll, nicht nur Symbol der Sehnsucht nach globaler Gerechtigkeit, sondern ein reales Land für reale Menschen – und was definiert deren Freiheit?
Die tägliche Wetterkarte der Jerusalem Post zeigt Israel vom Meer bis zum Fluss, das Westjordanland einverleibt; rote Punkte markieren israelische Städte, palästinensische existieren nicht. In den Souvenirshops Israels findet sich keine andere Silhouette des Landes als from the river to the sea. Palästinensische Läden verkaufen die gleiche Silhouette, in den panarabischen Farben oder als Kalligrafie.
Birgt diese Beobachtung womöglich eine Lösung?
Zwei Völker betrachten dasselbe kleine Stück Erde als ihre Heimat und erkennen dieses Heimatgefühl wechselseitig an – dies ist der Grundgedanke von „A Land for All“ (Alfa), eine israelisch-palästinensische Initiative von Wissenschaftlern, Intellektuellen, Juristinnen, Journalisten. Sie gehen jetzt, in der dunkelsten Stunde, mit ihrem Modell einer binationalen Föderation in die Offensive: Zwei souveräne Staaten mit offener Grenze zueinander erlauben Freizügigkeit und Wohnrecht für alle zwischen Fluss und Meer. Ähnlich wie in der Europäischen Union wären Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsrecht nicht identisch – die 700 000 jüdischen Siedler im Westjordanland könnten im Staat Palästina bleiben, doch ohne Wahlrecht. Im Gegenzug könnten sich Palästinenser, deren Vorfahren 1948 vertrieben wurden, in Israel ansiedeln, ohne dort Staatsbürger zu sein.1
„Es ist für Palästinenser nicht leicht zu akzeptieren, dass Juden ein Recht haben, hier zu sein und dass sie eine Bindung an das Land haben“, sagt Rula Hardal, die palästinensische Co-Direktorin von Alfa. Ich treffe die Politologin an einem Westjerusalemer Forschungsinstitut; sie ist israelische Staatsangehörige und kommt aus einer griechisch-orthodoxen Familie im Norden. Gerade verabschiedet sie May Pundak, die jüdische Co-Direktorin. Die beiden umarmen sich, sprechen Hebräisch, für Rula Hardal neben Arabisch wie eine zweite Muttersprache, während ihre Kollegin sich entschuldigt: sorry, nur wenig Arabisch. So ist es oft in binationalen Projekten. Pundak hat zudem einen einschlägig bekannten Namen, ihr Vater Ron war ein Architekt der Oslo-Friedensvereinbarungen, aus deren Scheitern eine Aufgabe für die Tochter entstand.
Rula Hardal überdeckt jegliche Asymmetrie durch ihr Selbstbewusstsein. Die 50-jährige Feministin stritt lange für Frauenrechte in der israelischen Gesellschaft; ihr heutiges Selbstverständnis, sich nicht als Angehörige einer Minderheit im jüdischen Staat zu betrachten, sondern als Anwältin der Einheit aller Palästinenser, entstand erst allmählich, auch während einiger Jahre in Deutschland, als sie an der Universität Hannover Nahost- und Genderstudien lehrte und mit den Sichtweisen der Diaspora vertraut wurde. Dass sie nun international die palästinensische Seite des binationalen Projekts repräsentiert, durchbreche die Schranke, die Israel stets zwischen den Palästinensern errichte.
Ein Herzstück von „A Land for All“ ist die wechselseitige Respektierung der Traumata, die auf beiden Seiten so prägend sind. Holocaust und Nakba. „Die jüdischen Israelis müssen die Vertreibungen von 1948 als Unrecht anerkennen und die Palästinenser das Leid der Juden aus der europäischen Geschichte“, sagt Rula Hardal. Aber der Holocaust legitimiere keinen Siedlerkolonialismus, der Zionismus müsse sich von gewalttätigen Praktiken befreien. In einem antizionistischen Protestcamp würde diese Formulierung vermutlich als zu weich, zu liberal empfunden. Aber Hardal will weg vom palästinensischen Selbstverständnis als Opfer. „Wir müssen als Alteingesessene, als Eigentümer des Landes Verantwortung übernehmen und dem anderen Volk eine gemeinsame Zukunft anbieten.“
So ist „A Land for All“ zugleich radikaler Kompromiss und radikale Utopie. Sie verlangt von jüdischen Israelis und von Palästinensern, nicht nur einander neu zu betrachten, sondern zugleich sich selbst. Mehr als ein Jahrzehnt haben Forscher, Analystinnen und Menschenrechtsaktivisten an dieser Vision gearbeitet, und dann traten sie ausgerechnet drei Tage nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober an die Öffentlichkeit. Eine Flucht nach vorn, in der wilden Hoffnung, aus der Katastrophe eine Chance zu machen. Alle Beteiligten wissen: Dafür bedarf es immensen Drucks von außen, vor allem auf das jüdische Israel.
Vom Herzl-Berg im Westen Jerusalems – Jad Vaschem ist nahebei – bis nach Beit Hanina in den Ausläufern des besetzten Ostjerusalem braucht der Light Rail nur 35 Minuten. Die Gleise der Stadtbahn kreuzen eine unsichtbare Linie, die Waffenstillstandslinie von 1949, für den Rest der Welt die Staatsgrenze Israels, auf den Landkarten seiner Schulen nicht verzeichnet.
Jüdische Mitreisende in der Bahn scheinen meine Frage, wo Ostjerusalem beginne, nicht zu verstehen. Die Annexion dessen, was Palästinensern ihre künftige Hauptstadt ist, hat sich auch ins Bewusstsein gesenkt. Vom Meer bis zum Jordan sei alles jüdisches Land, das ist die Position der israelischen Regierung, weshalb es, wie Benjamin Netanjahu sagt, logischerweise gar keine Besatzung gebe. Einer seiner Minister, Eli Cohen, nahm gerade vorweg, was daraus folgen soll: „From the river to the sea wird es einen Staat geben: den Staat Israel.“2
A Land for All – ein radikaler Kompromiss
Das binational verschränkte Leben, die demokratische Utopie von A Land for All, ist in der Realität eine autoritäre Dystopie im Werden, die Einstaatlichkeit wird der schwächeren Seite aufgezwungen durch Enteignung, zweierlei Recht und Waffengewalt. Meter für Meter, Grundstück für Grundstück schiebt sich die sogenannte Judaisierung voran, religiös verbrämtes Landgrabbing im Osten Jerusalems wie in seiner Altstadt. Ich treffe dort armenische Aktivisten in ihrem Protestcamp, Überwachungskameras nach allen Seiten: Wie andere christliche Gemeinden zuvor kämpfen sie gegen aggressive Gangs von Siedlern, die Geschäftsleute bedrohen und Priester bespucken.
Die Dystopie ist gefräßig. Im Westjordanland stellen die jüdischen Siedler bereits ein Viertel der Bewohner, das hat die Zweistaatenlösung systematisch unterhöhlt. Und gegen den Ausweg, den A Land for All an dieser entscheidenden Stelle anbietet, gibt es unter Palästinensern einen berechtigten Einwand: Eine Gleichstellung von nach internationalem Recht illegalen Siedlern und Flüchtlingen, deren Rückkehrrecht 1948 in der UN-Resolution 194 verankert wurde, sei moralisch wie juristisch unannehmbar. Während die Siedler in ihren 250 Ortschaften Bestandsschutz bekämen, bliebe die Rückkehr von Geflüchteten und ihren Nachkommen Verhandlungssache.
An einem Frühsommerabend treffen sich im Ostjerusalemer Nashashibi-Kulturzentrum Intellektuelle und ausländische Diplomaten zum nichtöffentlichen Austausch. Die Villa ist melancholisches Denkmal einer palästinensischen Oberschicht, die mit der Nakba unterging: Die umfangreiche Bibliothek von Issaf Nashashibi (1885–1948), Philosoph und Literaturwissenschaftler, wurde 1948 geplündert, viele Bände Israels Nationalbibliothek einverleibt. Ein passender Rahmen für Gespräche über Gerechtigkeit für alle im historischen Mandatsgebiet Palästina. Muss der ethnonationale jüdische Staat für sakrosankt gehalten werden, wie in der westlichen Diplomatie üblich? Oder wären Juden und Jüdinnen womöglich besser geschützt ohne suprematistische Privilegien?
Dafür plädiert auf jüdischer Seite schon länger der Philosoph Omri Boehm. Seine binationale „Republik Haifa“ möge vorerst ein Traum sein, schrieb er, sei jedoch „ehrlicher als der Gedanke, ein System der Apartheid könne jemals ein menschliches Antlitz haben“.3 Eine Schnittstelle zur propalästinensischen Solidaritätsbewegung dieser Tage. Wenn Demonstranten auf ihren Pappschildern Gleichheit für alle zwischen Meer und Fluss verlangen, erneuern sie das alte Lieblingsmodell der säkularen palästinensischen Linken: ein demokratischer Einheitsstaat, one person, one vote. Denn Kern der palästinensischen Frage sind Freiheit, gleiche Rechte, Selbstbestimmung und nicht ein Separatstaat.
Edward Said forderte bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten, über die „erbärmlichen Perspektiven, wie sie Teilung und Trennung zu bieten haben“, hinauszublicken.4 Allerdings warnte er zugleich vor dem gefährlichen Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu wollen und sich „ein utopisches Land ohne aufdringliche jüdisch-israelische Präsenz“ zu erträumen.
Wer Koexistenz allein auf Basis gleicher individueller Bürgerrechte definiere, weiche der Frage nach einem legitimem jüdisch-israelischen Nationalbewusstsein aus, argumentiert der palästinensische Politikwissenschaftler Bashir Bashir, ein führender Experte im neuen akademischen Diskurs über flexible Modelle von Souveränität. Juden und Jüdinnen ausschließlich als Individuen zu betrachten, ließe sie ohne kollektive Schutzrechte, wenn sie – demografisch absehbar – zur Minderheit zwischen Meer und Fluss werden.
Der besonderen jüdischen Geschichte Rechnung zu tragen, in einer egalitären Gesellschaft für alle, das bleibt die große Aufgabe der Zukunft. Wenn für Zukunft noch Zeit ist.
Was bedeutet es, Palästinenser, Palästinenserin zu sein?
Abgesehen von Exil und Diaspora, abgesehen von den Lagern im Libanon, in Jordanien, leben die Palästinenser allein auf dem kleinen Stück Erde zwischen Fluss und Meer schon unter sechs verschiedenen Rechtskonstruktionen: im Kernland Israel, in Gaza, in Ostjerusalem und in den drei administrativen Zonen des Westjordanlands. Nirgendwo sind sie jüdischen Bürgern gleichgestellt, doch auch untereinander sind sie ungleich – sozial, geografisch, politisch fragmentiert.
Wie groß ist allein die Kluft zwischen zwei palästinensischen Protagonisten von „A Land for All“, der viel reisenden Rula Hardal und – im Westjordanland – Awni al-Mashni, der die Gruppe vor zwölf Jahren mitbegründete! Unsere erste Verabredung platzt; ich warte in Ramallah, er kommt wegen geschlossener Checkpoints nicht aus Bethlehem heraus, 22 Kilometer, unüberwindbar.
Mit akkurat gebügeltem Streifenhemd, ergrautem Schnauzbart, jordanische Zigaretten kettenrauchend hat Awni al-Mashni etwas von alter Fatah-Garde, das ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Die Autonomiebehörde von Mahmud Abbas betrachtet er sehr kritisch, sie diene vor allem Israels Interesse. Zu Beginn unseres Gesprächs stellt er sich vor mit den Worten „Ich bin ein palästinensischer Flüchtling“, als sei dies das Entscheidende in einem ereignisreichen Leben, und tatsächlich war es das wohl. Seine Eltern flohen 1948 aus al-Qabu, einem Dorf westlich von Jerusalem. Awni wurde im Dheisheh-Flüchtlingscamp bei Bethlehem geboren und lebte dort die meiste Zeit, sofern er nicht gerade im Gefängnis saß, und das war so für insgesamt 13 Jahre. Wo einmal das Haus der Eltern stand, ist heute der Begin-Nationalpark, für al-Mashni unerreichbar; er darf nicht nach Jerusalem.
Bei einem Deutschlandbesuch vor vielen Jahren war er in einer KZ-Gedenkstätte. „Ich verstehe das Leid der Juden in Europa, das zu verstehen ist nicht schwer, und so etwas darf nie wieder passieren. Aber es geschah nicht in meiner Verantwortung und darf nicht auf meine Kosten gelöst werden.“ Ob er sich durch die Anerkennung des jüdischen Traumas von vielen seiner Landsleute unterscheide, frage ich. Er widerspricht, „aber die Frage ist sehr provokativ für jemanden, dessen Haus gerade zerstört wird“.
Welcher inneren Kraft es bedarf, den Schmerz über ein seit Kindertagen erlebtes Unrecht im Zaum zu halten und sich für Versöhnung starkzumachen, kann ich nur erahnen. Al-Mashni macht sich keine Illusionen, wie lange selbst im günstigsten Fall eine binationale Gesellschaft von der Asymmetrie der Macht gezeichnet wäre. „Die Mentalität der Apartheid zu überwinden, wird Generationen dauern.“
Während des Gesprächs mochte ich ihm die Frage, was ihn ins Gefängnis gebracht hatte, nicht stellen. Sie erschien mir plötzlich anmaßend, weil Gefängnis unter seinen Lebensumständen so normal ist. Die Menschen, die ich während meiner Recherche traf, hinterließen in meinem Notizbuch gemeinsam ein Jahrhundert Knast. Ich frage al-Mashni im Nachhinein, über die sichere Distanz von Whatsapp, und bekomme Details: Mit 17, als er einer bewaffneten Zelle angehörte, die erste Haft; später, als er unbewaffnet kämpfte, mehrere Jahre im Gefängnis. Darunter auch die berüchtigte Administrativhaft, ohne Anklage, ohne Urteil. „Die Besatzung“, schreibt er mir, „duldet keinerlei Widerstand, auch wenn er gewaltlos und friedlich ist.“
Die Besatzung – sie ist im palästinensischen Sprechen ein handelnder Akteur, kein Zustand. Und tatsächlich diktiert die Besatzung auf ständig sich ändernde Weise den Alltag.
Zwischen der Vorstellung von Freizügigkeit from the river to the sea und dem blockierten Leben im zerstückelten Westjordanland lässt sich kaum ein größerer Kontrast denken. Es gibt Statistiken über die sieben Typen von Hindernissen, Barrieren, Checkpoints und Straßensperren, sie summieren sich auf 565, auf einer Fläche so groß wie ein Viertel Hessens. Und zwei Drittel davon stehen ohnehin unter Kontrolle Israels.
Die Armee verschließt einfach die Gitter und Gatter am Ausgang von Ortschaften und Dörfern, so dass deren Bewohner gar nicht erst die Landstraßen erreichen. Mancherorts stehen jetzt Siedler als Reservisten in Uniform an Checkpoints. Der europäische Mitarbeiter einer Stiftung erzählt mir, wie schnell auch er in Gewehrläufe blicke, wenn er an einem Posten aus Versehen seinen Wagen zu weit vorgesetzt habe.
Kalandia, den größten Checkpoint zwischen dem besetzten Ostjerusalem – alias „Israel“ – und dem Westjordanland5, kannte ich von einem früheren Besuch. Betäubt von Lärm, Gedränge und bellenden Kommandos, schob ich mich damals mit Massen von Werktätigen, Palästinas Arbeitskräften für Israels Baustellen, durch die Kontrollen. Seit dem 7. Oktober sind Arbeitsgenehmigungen und Passierscheine annulliert, die erzwungene Ruhe erlaubt mir Beobachtungen. Wie sich betagte Frauen mit arthritischen Knien langsam die viel zu hohen Stufen einer Überführung hinaufquälen. Wie eng die Drehkreuze sind, die Reisetasche muss gegen die Brust gepresst werden. Kleinigkeiten nur; jede zielt auf Demütigung.
Etwas abseits dann das Flüchtlingslager Kalandia, vom umgebenden Wirrwarr aus Betonklötzen, Zäunen und Sperren durch sichtbares Alter unterschieden: enge Straßen, alte Gebäude, Graffiti, das Zuhause von 14 000 anerkannten Flüchtlingen. Sie bleiben, weil es anderswo zu teuer wäre, und aus einem Gefühl der Zugehörigkeit. Die Liebe zur Heimat, sie gilt zuerst dem Dorf der Vorfahren, dann dem Camp, wo die Beziehungen aus dem längst zerstörten Dorf weiterbestehen.
Wandgemälde erzählen von Getöteten und Inhaftierten, meist an der Mauer des Hauses, wo der Betreffende lebte. Israelische Soldaten kommen oft bei Nacht, ihre Lärmgranaten versetzen Kinder in Todesangst. Das Camp bringt bewaffnete Kämpfer hervor – was ist Ursache, was Wirkung? Manche Märtyrer-Graffitis sind sonnenverblichen, andere frisch. Ich denke an einen Satz von Awni al-Mashni: Gewalt ist keine Lösung. Er wirkt hier fremd.
„Feuerwaffen verboten“ steht am Eingang zur Schule des UNWRA-Hilfswerks. 1200 Schüler, Klasse 1 bis 9. Der Rektor der Jungenschule, ein Mathematiker, wurde im Camp geboren und ging als Kind selbst auf diese Schule. Was hatte ich erwartet vom Leiter einer UNWRA-Schule? Dass er ein Außenstehender wäre, neutral – und nicht so ein wütender, sarkastischer, verletzter Mensch? Einer seiner Söhne, Jurastudent, ist im Gefängnis, auch andere jüngere Verwandte sind in Haft. „Unseren Kindern kann jederzeit etwas zustoßen, denn wir leben unter Besatzung!“ Ein zweiter Sohn sitzt bei unserem Gespräch dabei, soll mir seine Deutschkenntnisse beweisen. Ein stiller junger Mann, er zögert, legt sich die Worte zurecht und sagt dann: „Dies ist keine fruchtbare Erde für menschliche Entwicklung.“
Besuch einer Klasse, 42 Jungs lernen gerade Prozentrechnung. Meine Frage, was sie von der Zukunft erwarten, wird mit Berufswünschen beantwortet wie Arzt oder Fußballer. Als ich nach politischen Wünschen frage, steht ein Junge aus der letzten Reihe auf: Eine Gegenwart ohne Gefängnis sei ihm wichtiger als irgendeine Zukunft.
Angst und Unsicherheit sind allgegenwärtig, selbst im Umland von Ramallah, wo man die sicherste Zone vermuten könnte, weil hier die Autonomiebehörde und internationale Institutionen ansässig sind. Und den Terror der Siedler, Überfälle und Brandschatzung, fürchten keineswegs nur die Ärmsten, die ihren Schafstall und ihren Olivenhain so leicht verlieren können im zionistischen Monopoly um Land und Raum.
Jede Kleinigkeit eine Demütigung
Der Besitzer eines adretten Mittelschichthauses bringt mich auf die Dachterrasse, wir können bis nach Jordanien sehen, nur dass mein Gastgeber die Straße, die sich vor unseren Augen durch die Hügel zieht, nicht benutzen darf, sie ist für die Siedler, er zeigt nach links, und für die Armee, er zeigt auf eine andere Anhöhe. Von unten höre ich ein leises Surren, die Dame des Hauses poliert die Fenster mit einem elektrischen Gerät, und mein Gastgeber sagt in das Surren hinein: „Ich habe so viele Jahre an diesem Haus gebaut, habe gespart, mit dem Heiraten gewartet. Der Gedanke, dass die Siedler morgen kommen könnten und alles ist vernichtet, macht mich wahnsinnig. Niemand beschützt dich.“
Ein härteres Urteil lässt sich über die „Sulta“, wie die Nomenklatura der Autonomiebehörde in der arabischen Kurzform heißt, kaum fällen. Dennoch ist offen geäußerte Kritik mir, einer Fremden, gegenüber für manche ein ethisches Problem, denn sie verstößt gegen den Kodex des Widerstands: vereint gegen die Besatzung.
Auf den ikonischen Gemälden des Malers Sliman Mansour ist Palästina eine Frau, schön, erhaben und von unantastbarem Stolz. Mansour malte die Hände seiner Figuren übergroß, Zeichen der Verbundenheit zum Land, zur Arbeit mit der Erde. Zu dem vielen, was Palästinenser der Autonomiebehörde vorwerfen, gehört dies: Sie schützt nicht einmal das Wasser, schützt nicht die Quellen, die in den palästinensischen Heimatmythen eine so große Rolle spielen; sie lockt die Leute weg vom Land, in die unproduktiven Jobs ihrer Bürokratenbubble, das synthetische Palästina der hohen Gehälter. Sie entfremdet die Palästinenser von ihrer Erde, ihren Traditionen.
Die Birzeit-Universität empfängt mit einem einladenden Campus: viel heller Stein, Bäume, Coffeeshops, Tischtennisplatten, sogar ein Raum zum Schachspielen. Hier studieren die Klügsten einer Generation, die in den Ruinen des Friedensprozesses aufwuchs, mit einer höhnisch vorgegaukelten Autonomie. Am Eingang zum Büro des Studentenrats hängen die Fotos der Gewählten; die Hamas stellt die stärkste Fraktion. Sie setzten sich für die Interessen der Studierenden ein, seien aktiv und nicht korrupt, versichern die jungen Frauen, die mich auf dem Campus herumführen. Ich habe sie zufällig kennengelernt, eine heterogene kleine Schar, mit und ohne Kopftuch. Die Zusammensetzung des Rats, sagen sie, sei ein Zeichen von Demokratie.
In seinem Büro spreche ich den Historiker Nazmi al-Jubeh, ein Säkularer in Opposition zum Islamismus, darauf an. Er könne in den studentischen Debatten nach seinen Vorlesungen keinen klaren Unterschied zwischen Hamas und Nicht-Hamas erkennen, sagt der Professor. Und der Lehrplan der Birzeit-Uni reserviert viel Zeit für Aussprache: „Die Studenten sollen lernen, mit verschiedenen Ideen zu leben.“ Al-Jubeh, knapp 70, ein eleganter Mann mit feinen Gesichtszügen, tritt als Architekturhistoriker im Fernsehen auf, ist international renommiert – und war mehrfach im Gefängnis. „Natürlich!“ Er lacht mit dem Sarkasmus, der mich durch alle Gespräche begleitet. „Durch den Sarkasmus überleben wir“, bestätigt er, „sonst würden wir explodieren.“ Seit 30 Jahren in Birzeit lehrend, hat er sich für die Lebenszeit, die er mit dem Warten an Checkpoints vertat, eine ganze Bibliothek in seinem Auto eingerichtet. „Ich habe mich hinter dem Steuer in Bücher versenkt, um nicht verrückt zu werden.“
Auf meine Frage: Was ist heute Palästina?, lautet seine spontane Antwort: „Viel mehr, als Palästina einmal war.“ Viele Tausende hätten die verlorenen historischen Ortschaften zu Namen von Personen und Geschäften gemacht, von Restaurants und Unternehmen, ob in Chicago oder in Amman. Er selbst hat über Lifta geforscht, das einzige palästinensische Dorf in Israel, von dem Ruinen erhalten sind.6 „Ich habe nun Beziehungen zu Lifta-Gemeinden weltweit, alle haben Websites mit Erzählungen und Anekdoten, natürlich auch Romantisierungen. Die Dörfer werden virtuell wiederhergestellt, das schafft über Kontinente hinweg Beziehungen zwischen Menschen, die einander nie gesehen haben.“ Und die meisten, sagt al-Jubeh, seien überzeugt: Eines Tages kehren wir nach Hause zurück.
Das Land der Erzählung. Neben der Zukunftsvision von Freizügigkeit zwischen Fluss und Meer und dem blockierten, fragmentierten Alltag ist dies ein drittes Palästina. Und aus dem Besitz der erzählten Heimat entsteht, was für Außenstehende so erstaunlich ist, gerade jetzt: Ausdauer, Beharrungsvermögen.
In Ostjerusalem treffe ich zum Schluss Mahmoud Muna, Essayist, Verleger und Eigentümer zweier stadtbekannter Buchhandlungen für englischsprachige Literatur zum Nahen Osten. Seit Januar arbeitet Muna mit Hochdruck an einem Buch über Gaza, seine 4000-jährige Geschichte, seine Menschen. Der Titel „Daybreak in Gaza“7 klingt nach Aufbruch, und Muna sagt tatsächlich: „Ich bin optimistisch.“ Das Buch werde die kulturelle Größe der Region rehabilitieren, werde sie „rehumanisieren“, entgegen dem Bild von Gaza als einem Streifen Sand, besiedelt von Überflüssigen, die niemand wolle, von Unnützen, dazu bestimmt, als Kollateralschaden zu enden. „Steine können zerstört werden; die menschlichen Leistungen sind unzerstörbar. Und das ist, was für uns zählt. Das ist die Tiefe, die andere uns immer nehmen wollten, die Tiefe unserer Wurzeln und unserer Geschichte.“
Triumph und Desaster. Die Zivilgesellschaft in Gaza hat zu einem entsetzlich hohen Preis den Kampf um die Gunst und die Herzen der Welt gewonnen. Daneben steht der schwarze Schatten des nicht entschuldbaren Hamas-Massakers; mir gegenüber wurde es meist beschwiegen. Die Palästinenser haben sich mit Hingabe und mit Gewalt, mit unsäglichem Leid und mit Terror wieder auf die globale Agenda katapultiert. Gaza hat gezeigt, wie der Westen mit zweierlei Maß misst, doch die Resonanz auf israelische Kriegsverbrechen hat auch mit dem Wandel der internationalen Ordnung zu tun. Da kippt eine Ära. Werden die Palästinenser ihren neuen großen Echoraum nutzen können, ohne Einigkeit, ohne anerkannte Führung?
Viele sprechen nun vom Neuaufbau der PLO, als Organisation, die alle repräsentiere, auch die Diaspora, die Jugend, die Frauen, mit einer einigenden Vision von Befreiung. Die Hamas, meint selbst die moderate Rula Hardal, werde Teil dieser Zukunft sein, in der Hoffnung, dass – wie es bisher immer war – die Säkularen an Einfluss gewinnen, sobald Schritte hin auf eine bessere Zukunft sichtbar werden.
Während meiner Reise las ich Mahmoud Darwischs Gespräche über „Palästina als Metapher“. Darwisch wie Said, die beiden meistzitierten Interpreten des palästinensischen Schicksals, überwanden auf je eigene Weise immer wieder die Dichotomien von Identität und Nationalismus, an einen namenlosen universalen Ort. Im harten Sprechen dieser Tage wirkt die Mahnung Saids, es gelte zu lernen, „wie man mit dem Anderen lebt statt gegen ihn“, wie aus ferner Zeit.
1 Zu den Details siehe „A Land for All. Two States, one homeland“, alandforall.org.
2 Post auf X am 22. Mai 2024.
3 Omri Boehm, „Israel – eine Utopie“, Berlin (Propyläen Verlag) 2020, S. 229.
4 Edward W. Said, „Das Ende des Friedensprozesses“, Berlin (Berlin Verlag) 2002, S. 225.
5 Siehe die Erzählung „Staub“ von Adania Shibli, LMd, Oktober 2006.
6 Siehe „Das Trauma von 1948“, LMd, Januar 2023.
7 Mahmoud Muna und Matthew Teller (Hg.), „Daybreak in Gaza. Stories of Palestinian Lives and Culture“, London (Saqi Books) 2024.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien: „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, Berlin (Propyläen) 2022.
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