Netanjahus fataler Triumph
In den vergangenen Monaten hat Israel die führenden Köpfe von Hamas und Hisbollah getötet. Dennoch ist die Regierung Netanjahu zur Fortsetzung der Kriege in Gaza und im Libanon entschlossen. Zudem droht nach wie vor eine Eskalation im Konflikt mit Iran, in den auch die USA hineingezogen werden könnten.
Israels Ministerpräsident ist ein politisches Stehaufmännchen. Das hat er in den vergangenen Monaten wieder einmal gezeigt, als er er sich auf spektakuläre Weise aus einem Umfragetief herausarbeitete.
Netanjahus unfassbares innenpolitisches Geschick erklärt auch, warum er sich so lange an der Macht halten konnte. Im rechten Spektrum der israelischen Wählerschaft war seine Popularität bereits im Frühjahr gestiegen, weil er sich dem – allerdings sehr dezent ausgeübten – Druck der US-Regierung widersetzte, die ihn zu einem Waffenstillstand und einem Gefangenenaustausch mit der Hamas bewegen wollte.
Trotz des Widerstands aus Washington gab Netanjahu der israelischen Armee (IDF) am 6. Mai 2024 den Befehl, eine Offensive auf die Stadt Rafah und den Süden des Gazastreifens bis zur Grenze zu Ägypten zu starten. Damit nahm er der Hamas-Führung den größten Anreiz für einen Waffenstillstand. In der Folge weigerte sich der Regierungschef, die IDF auch nur zeitweise aus Rafah abzuziehen, was damals selbst die Armeeführung forderte, ebenso Verteidigungsminister Joaw Galant, sein größter Rivale innerhalb der Likud-Partei. Damit machte er jegliche Aussicht auf ein Abkommen mit der Hamas zunichte und empörte zugleich die Ägypter, denen damit die Kontrolle über den Grenzverkehr nach Gaza entzogen war.
Netanjahu handelte also ganz offen dem Wunsch des US-Präsidenten zuwider. Er hatte nicht die geringste Lust, Joe Biden das Geschenk eines Waffenstillstands und der Freilassung der Geiseln zu machen. Unter denen waren auch sieben US-Bürger:innen (sechs Männer und eine Frau), die man sicher zu einem Fototermin ins Weiße Haus eingeladen hätte.
Ein toxischer Freund für Washington
Indem Netanjahu dem US-Präsidenten, der damals noch seine Wiederwahl anstrebte, einen politischen Erfolg versagte, unterstützte er dessen republikanischen Kontrahenten Donald Trump. Auch als Biden am 21. Juli seine Kandidatur zugunsten seiner Vizepräsidentin Kamala Harris aufgab, änderte Netanjahu seine Haltung nicht. Er hat gute Gründe zu befürchten, dass Harris im Weißen Haus eine Nahostpolitik betreiben würde, die sich weniger an der Linie Bidens und mehr an der ihres Mentors Barack Obama orientiert.
Die Beziehung zwischen Netanjahu und Obama war – man erinnert sich – von Anfang an gespannt. Netanjahu war Ende März 2009, zwei Monate nach der Amtseinführung Obamas, erneut an die Macht gekommen. Mit Hilfe der Republikaner im Kongress begann er sofort eine Art permanenten Guerillakrieg gegen den neuen US-Präsidenten. Mit genau dieser Taktik reagierte er nun auch auf Bidens immer offenere Kritik an seiner Person und auf die offenkundige Bevorzugung, die sein Verteidigungsminister Galant beim US-Präsidenten und beim Pentagon genoss.
Galant führte, anders als Netanjahu, seit Beginn des Gazakriegs zweimal hochrangige Gespräche in Washington, zuletzt am 26. Juni 2024. Kurz darauf, am 24. Juli, durfte Netanjahu, vor allem auf Betreiben der Republikaner, eine Rede vor dem Kongress in Washington halten. Es war sein vierter Auftritt vor der US-Legislative, womit er den Rekord von Winston Churchill brach. Die drei Tage zuvor zur Präsidentschaftskandidatin der Demokraten gekürte Kamala Harris war bei Netanjahus Auftritt nicht anwesend, obwohl sie als Vizepräsidentin zugleich dem Senats vorsitzt. Ihre Abwesenheit wurde als ein Akt der Distanzierung vom israelischen Regierungschef angesehen.
Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass die Kandidatur von Harris, die in den ersten Umfragen deutlich zulegte, Netanjahus spätere Entscheidungen stark beeinflusst haben. Bis dahin dürfte seine Hoffnung, dass Trump die Wahl am 5. November gewinnt, deutlich größer gewesen sein. Von einem Präsidenten Trump konnte er erwarten, dass er ihm noch mehr freie Hand lassen würde als Biden. Bei einem möglichen Sieg von Harris musste er damit rechnen, das sie seinen politischen Manövrierraum einschränken würde.
Das wichtigste Thema für den israelischen Ministerpräsidenten ist Iran – neben der Einverleibung weiterer palästinensischer Gebiete gemäß der expansionistischen Pläne der zionistischen Rechten.1 Das Regime in Teheran stellt aus Sicht Israels die größte existenzielle Bedrohung dar, seit Ägypten Ende der 1970er Jahre seine konfrontative Politik geändert hat.
Nach der „Islamischen Revolution“ im Februar 1979 hatte Chomeinis Iran mit dem Westen gebrochen. Seit das Land in den 1980er Jahren einen mörderischen Krieg gegen den Irak geführt hatte, verfügte es aufgrund verschiedener Embargos über keine modernen Waffen. Dieses Defizit wollte Teheran durch den Ausbau eines regionalen ideologisch-militärischen Netzes kompensieren, das man gegen die USA und ihre regionalen Verbündeten, darunter Israel, aktivieren könnte.
Die Islamische Republik pflegte von Anbeginn an eine fanatische Feindschaft gegenüber dem „großen Satan“ und seinem engsten Verbündeten, dem Staat Israel, dessen Vernichtung sie beschwor. Diese antiisraelische Stoßrichtung war das wichtigste ideologische Instrument des iranischen Regimes, mit dem es seinen Einfluss in der arabischen und muslimischen Welt ausbauen wollte – und zwar über die schiitischen Gemeinschaften hinaus, die aufgrund der gemeinsamen Religion seine Hauptverbündeten waren.
In diesem Sinne entwickelte Iran seit 1990 immer engere Beziehungen zu den Muslimbrüdern. Die Bruderschaft lehnte die Stationierung von US-Militär auf dem Territorium Saudi-Arabiens ab, die das Vorspiel der Intervention gegen den Irak und seine Besatzungstruppen in Kuwait war. Deshalb brach Teheran mit dem saudischen Königshaus. Zwar bemühte sich das Regime hauptsächlich um die Hamas als den palästinensischen Arm der Muslimbrüder, doch es suchte auch engere Kontakte zum Palästinensischen Islamischen Dschihad, der ideologisch auf derselben Linie liegt, aber politisch mit der Hamas konkurriert.
Aufseiten Israels entwickelte sich derweil eine wahre Iran-Obsession. 2003 tauchten erstmals Indizien auf, dass die Islamische Republik insgeheim das unter dem Schah-Regime begonnene Programm zur Entwicklung von waffentauglichem Uran fortsetzte. In Israel kam man zu dem Schluss, Teheran sei zweifelsfrei dabei, eine Atombombe zu entwickeln. Das aber würde das regionale Monopol auf Nuklearwaffen beenden, das Israel seit den 1960er Jahren besaß.
Diese Horrorvision verband sich mit einer Angst vor Vernichtung, die von der Erinnerung an die Schoah herrührt, aber auch mit der Begrenztheit des israelischen Territoriums zu tun hat. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Entschlossenheit der israelischen Führung, zum großen Schlag gegen Iran auszuholen, der vor allem die Atomanlagen treffen sollte.
Im Januar 2009, wenige Tage vor Obamas Amtseinführung, veröffentlichte die New York Times einen brisanten Artikel. Darin enthüllte der Washingtoner Chefkorrespondent David E. Sanger, dass die israelische Regierung seit Beginn des Vorjahrs, dem letzten Amtsjahr von Präsident George W. Bush, in Washington dringlich um die Lieferung von bunkerbrechenden lasergelenkten Bomben vom Typ GBU-28 (mehr als zwei Tonnen schwer und fast vier Meter lang) gebeten hatte. Zudem habe die von Ehud Olmert geführte Regierung um die Erlaubnis ersucht, das noch von der US-Armee besetzte irakische Territorium zu überfliegen, um den wichtigsten iranischen Nuklearstandort Natanz2 anzugreifen.
Die Bush-Regierung lehnte das Ansinnen ab, denn sie befürchtete, ein israelischer Angriff könnte die US-Truppen im Irak gefährden. Doch schon 2007 hatte sie 55 GBU-28 für Israel bestellt, die 2009 geliefert werden sollten.
Obama hat die Lieferung dieser „Bunker Buster“ in seinem ersten Amtsjahr genehmigt.3 Dennoch haben sich seine Beziehungen zu Netanjahu verschlechtert, als er öffentlich den Ausbau der israelischen Siedlungen im Westjordanland kritisierte. Doch der wichtigste Streitpunkt zwischen Obama und Netanjahu blieb Iran.
In gewissem Sinne verstärkte die Genehmigung für die Lieferung von bunkerbrechenden Bomben an Israel den Druck auf das Regime in Teheran, einem diplomatischen Abkommen über die Beschränkung seines Atomprogramms zuzustimmen.
Mit Erfolg: Im Juli 2015 kam die sogenannte Wiener Nuklearvereinbarung (JCPoA) zustande, zum größten Ärger Israels und des saudischen Königshauses, dem anderen historischen Feind des iranischen Regimes. Beide Regierungen waren überzeugt, dass der in Wien unterzeichnete gemeinsame Aktionsplan – vor allem aufgrund des verminderten ökonomischen Drucks – Teheran nicht daran hindern würde, sein Atomprogramm insgeheim fortzusetzen. Das wiederum würde die Expansion des iranischen Einflusses in der Region beschleunigen, die auch durch das Irak-Fiasko des Westens und den 2011 vollzogenen Rückzug der US-Truppen begünstigt wurde.
2011 brach in Syrien nach dem Volksaufstand ein Bürgerkrieg aus, und auch der Jemen wurde ab 2014 durch einen Bürgerkrieg zerrissen. In beiden Ländern nutzte Teheran die Gelegenheit, um seinen Einfluss im Nahen Osten zu vergrößern. Vor diesem Hintergrund war es kein Wunder, dass Netanjahu, ebenso wie die Saudis, über den Wahlsieg Trumps im November 2016 hocherfreut waren.
Die erste Auslandsreise des neuen US-Präsidenten ging im Mai 2017 nach Riad. Ein Jahr später, am 8. Mai 2018 verkündete Trump den offiziellen Ausstieg der USA aus dem mühsam ausgehandelten Atomabkommen mit Iran. Damit erfüllte er ein Wahlversprechen, ungeachtet der Proteste der europäischen Unterzeichnerstaaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wie auch der EU. Sein letztes Amtsjahr eröffnete Trump dann mit dem Befehl, General Qasim Soleimani zu ermorden. Der Kommandeur der Quds-Brigade, dem im Ausland operierenden Arm der iranischen Revolutionsgarde, wurde am 3. Januar 2020 am Flughafen von Bagdad durch eine US-Drohne getötet.4
Im Wahlkampfjahr 2020 präsentierte sich Biden als Anti-Trump – ganz ähnlich wie sich Trump als Anti-Obama aufgestellt und versucht hatte, dessen Errungenschaften der Reihe nach zunichte zu machen. Was die Nahostpolitik betrifft, so versprach Biden, das Atomabkommen wiederzubeleben und sowohl das US-Konsulat in Ostjerusalem als auch das PLO-Büro in Washington wieder zu öffnen, die Trump beide geschlossen hatte.
Doch Biden hat keines dieser Versprechen erfüllt. Er setzte im Weißen Haus nicht etwa die Nahostpolitik Obamas fort, dessen Vizepräsident er gewesen war, sondern eher die Linie von Trump. Der von der Netanjahu-Regierung geführte Krieg, die Zerstörung und Wiederbesetzung des Gazastreifen, bot Biden sogar die Möglichkeit, den ersten wahrhaft gemeinsamen israelisch-amerikanischen Krieg zu führen und damit alle seine Vorgänger zu überbieten.5 Insofern sind die gelegentliche Reibungen mit Tel Aviv angesichts der Dimensionen der US-Militärhilfe für Israel nichts als Lappalien.6
„Keine Regierung hat Israel mehr geholfen als meine“, erklärte Biden am 4. Oktober vor der Presse in Washington. „Keine, keine, keine.“ Damit bezichtigte er Netanjahu der Undankbarkeit und fragte sich anschließend, ob der israelische Regierungschef das Waffenstillstandsabkommen für Gaza bewusst blockiere, um den republikanischen Kandidaten zu unterstützen.7
Allerdings hatte Netanjahu im Juli vor dem Kongress in Washington noch eine überschwängliche Lobrede auf Biden gehalten: „Als stolzer israelischer Zionist danke ich dem stolzen irisch-amerikanischen Zionisten für 50 Jahre Unterstützung für den Staat Israel.“8 Die Hommage an einen Mann, der gerade zugunsten seiner Vizepräsidentin auf die demokratische Präsidentschaftskandidatur verzichtet hatte, war sicher ehrlich gemeint.
Mit dem Stabwechsel von Biden zu Harris begann Ende Juli auch eine neue Phase des Kriegs im Nahen Osten. Den Auftakt markierte der Besuch Netanjahus bei Trump auf dessen Landsitz Mar-a-Lago in Florida. Der israelische Regierungschef steht vor der Aufgabe, aus der Situation nach Biden für sich das Beste zu machen. Im günstigsten Fall, bei einem Wahlsieg Trumps, wird Israel seine Offensive sogar noch ausweiten können. Aber selbst wenn Harris ins Weiße Haus einzieht, wird sie das Engagement für Israel, das Biden als Erbe hinterlassen hat, auf irgendeine Weise fortführen müssen.
Der Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat aufs Grausamste klargemacht, dass Israel seine Abschreckungsfähigkeit eingebüßt hat. Bereits der bedingungslose Rückzug aus dem Libanon 2000 war eine militärische Niederlage – vergleichbar mit dem Rückzug der USA aus Vietnam.
Das nächste Fiasko folgte 2006, erneut bei der Bekämpfung der Hisbollah, die seitdem erheblich an militärischer Schlagkraft gewonnen hat. Abgesehen von gelegentlichen Luftangriffen auf syrisches Territorium, musste Israel also in den letzten zwölf Jahren mehr oder weniger ohnmächtig der Ausweitung des iranischen Militärnetzes in seiner unmittelbarer Umgebung zusehen.
Im Krieg von 2006 wendete Israel erstmals seine „Dahieh-Doktrin“ an, benannt nach den südlichen Vororten Beiruts, einer Hochburg der Hisbollah (siehe den Beitrag „Beirut im Bombenhagel“ von Emmanuel Haddad). Sie sieht vor, im Konfliktfall auch die zivile Infrastruktur im Feindesgebiet großflächig zu zerstören. Insofern ist sie so etwas wie eine Anleitung zu Kriegsverbrechen.9 Auch im Gazastreifen hat Israel seit 2007 wiederholt auf Raketenangriffe – zumeist der Hamas oder des Islamischen Dschihad – mit mörderischen Bombardements reagiert, etwa im Krieg von 2008 bis 2009 und erneut bei den Vergeltungsschlägen vom Juli 2014 gegen die Hamas. Allerdings konnte Israel den Beschuss aus dem Gazastreifen nie ganz verhindern.
Im Libanon hat die Abschreckung jedoch funktioniert: Seit 2006 wagte die Hisbollah nie wieder einen Angriff wie den, der damals den 33-Tage-Krieg ausgelöst hatte. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah gestand am 27. August 2006 sogar öffentlich ein, wenn er gewusst hätte, dass der israelische Gegenschlag so mörderisch sein würde, hätte er die Operation nicht befohlen (siehe den Beitrag „Wer war Hassan Nasrallah“ von Adam Shatz).10
In der Folge hat das iranische Regime, beeindruckt vom bemerkenswerten Widerstand der Hisbollah, seine schiitischen Partner im Libanon mit einem großen Arsenal von Raketen unterschiedlichen Kalibers ausgestattet. Das gab der Hisbollah das Gefühl, ein „Gleichgewicht der Abschreckung“ mit Israel erlangt zu haben, also eine Art friedlicher Koexistenz, die auf der beidseitigen Fähigkeit beruht, dem Gegner beträchtliche Schäden zuzufügen.
Für Teheran wurde die Hisbollah damit zu einem wichtigen Trumpf, der eine Art Gleichgewicht zwischen Israel und Iran herstellen half. Wobei die Islamische Republik auch selbst – neben ihren regionalen Hilfstruppen – über ein bedeutendes konventionelles Abschreckungspotenzial verfügt.
Die wahnwitzige mörderische Attacke der Hamas vom 7. Oktober war sogar noch tödlicher als geplant – auch wenn es nach israelischen Quellen damals mehr Tote bei den Angreifern als bei den Angegriffenen gegeben hat.11 In Israel herrschte grenzenloses Entsetzen, aber auch große Verbitterung über die eigene Regierung. Netanjahu wurde beschuldigt, er habe das Land mit seiner Politik in Gefahr gebracht: Um die Spaltung der Palästinenser zu betreiben und die Wiederaufnahme des „Friedensprozesses“ zu hintertreiben, habe er zugelassen, dass die islamistische Bewegung ihre Macht in Gaza festigen und Gelder aus Katar beziehen konnte.12
Dass die Abschreckungskraft Israels an Glaubwürdigkeit verloren hatte, zeigt die iranische Reaktion auf den Aufruf der Hamas vom 7. Oktober. Darin wurden die „Brüder des islamischen Widerstands im Libanon, in Iran, in Jemen, im Irak und in Syrien“ aufgefordert, den begonnenen Kampf gegen Israel zu unterstützen.13
Das Regime in Teheran reagierte verbal zwar sehr verhalten und nur indirekt, aber es aktivierte das Netz seiner Verbündeten in der Region. Die Hisbollah im Libanon, die Schiiten-Milizen im Irak und die Huthis im Jemen wurden aufgefordert, bei einem Abnutzungskrieg geringerer Intensität mitzumachen. Nur das Assad-Regime in Syrien hielt sich heraus und ließ weiterhin keinerlei Aktionen – etwa gegen die israelisch besetzten Golanhöhen – von seinem Territorium aus zu.
Von den drei arabischen Hilfstruppen Teherans war die libanesische Hisbollah für Israel die größte Bedrohung. Zwar beschränkte sich das gegenseitige Bombardement auf einen Gebietsstreifen zu beiden Seiten der israelisch-libanesischen Grenze, doch der Beschuss durch die Hisbollah zwang die israelische Armee, Truppen an die Nordgrenze zu entsenden und mehrere zehntausend Zivilisten zu evakuieren. Noch größer war die Zahl der Geflüchteten allerdings auf libanesischer Seite.
Ungleichgewicht der Abschreckung
Israel hat sich im Norden zunächst zurückgehalten, weil ein Großteil seiner militärischen Kräfte im Süden gebunden war. Dort beschränkte sich Israel nicht auf unverhältnismäßige Vergeltungsmaßnahmen, sondern besetzte erneut den gesamten Gazastreifen und beging beispiellose Zerstörungen und Massaker genozidalen Ausmaßes.
Diese denkbar extreme Form von Einschüchterung ist die Erklärung dafür, dass die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland – obwohl eine Mehrheit die Aktion der Hamas begrüßt hatte – nicht auf den Aufruf der islamistischen Gruppe reagierte, ihren Kampf mit allen Mitteln zu unterstützen.
Nachdem die israelischen Streitkräfte den Gazastreifen fast vollständig wiederbesetzt hatten, gingen sie dazu über, mehrere Ortschaften im Westjordanland anzugreifen. Und zwar mit einem Ausmaß an Gewalt, das dieses Gebiet zuletzt 2002 während der Unterdrückung der zweiten Intifada erlebt hatte.
Im Gegensatz dazu hat sich Israel mit Schlägen gegen die Hisbollah mehrere Monate lang zurückgehalten. Man beschränkte sich – anders als in Gaza – auf „chirurgische Operationen“, mit denen mehrere hundert Mitglieder der Miliz getötet wurden. Bis zum Beginn der Libanon-Offensive im September gab es an dieser Front nur wenige zivile Todesopfer, sodass ihre Zahl im Verhältnis zu getöteten Kämpfern weit niedriger lag als in Gaza.
Das änderte sich, als die israelische Armee ihre lang angekündigte Invasion in den Südlibanon begann, die sie parallel zu den Angriffen im Westjordanland vorbereitet hatte. Anders als bei ihrer Offensive in Gaza, wo sie wie Bulldozer alles niederwalzten, agierte sie gegen die Hisbollah nach einem ausgefeilten militärischen Plan. Im Gefolge der Pager-Attacken vom 17. und 18. September und der Tötung Nasrallahs am 27. September rückten israelische Bodentruppen in das libanesische Grenzgebiet ein.
In dieser Situation zeigte sich die Doppelzüngigkeit Bidens, der die Fortsetzung der Militärhilfe für Israel in Höhe von 8,7 Milliarden Dollar bewilligte, als wollte er den Einmarsch im Libanon unterstützen, und dann auch noch den Israelis zur Ermordung Nasrallahs gratulierte.14
Netanjahu triumphierte, Iran verlor das Gesicht und wurde selbst von Hisbollah-Mitgliedern beschuldigt, seine Alliierten im Stich zu lassen: Teheran habe seine Verbündeten ausgenutzt, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen.
Allerdings versuchte sich Teheran mit einem zweiten Raketenangriff auf Israel am 1. Oktober zu rehabilitieren. Mit dem Einsatz ballistischer Raketen, die schwerer abzufangen sind als die im April hauptsächlich eingesetzten Drohnen und Marschflugkörper, wurde zwar eine neue Eskalationsstufe erreicht. Aber der Angriff blieb begrenzt und richtete sehr geringe Schäden an. Das zeugt von der Angst in Teheran, man könnte in einen größeren Konflikt hineingezogen werden, an dem sich die USA und womöglich auch ihre regionalen Verbündeten beteiligen würden. Damit könnte eine Situation entstehen, die einen Volksaufstand gegen das Teheraner Regime begünstigt, das von einem großen Teil der eigenen Bevölkerung verabscheut wird.
Mit Sicherheit hegt Netanjahu den Traum, dem Iran einen Schlag zu versetzen, der sein Nuklearprogramm um mehrere Jahre zurückwerfen würde und ihm persönlich einen herausragenden Platz auf der Heldenliste des Zionismus sichern würde. Zudem steht er unter starkem Druck seitens seiner rechtsextremen Koalitionspartner wie auch der „zentristischen“ Opposition. Beide Gruppierungen forderten noch offener als Netanjahu einen Großangriff gegen die Islamische Republik.
Dass der israelische Gegenschlag vom 26. Oktober relativ begrenzt ausfiel und vor allem militärische Abwehranlagen ins Visier nahm, dürfte auch daran liegen, dass eine Bombardierung der iranischen Erdölanlagen einen Gegenschlag Teherans in der Golfregion provozieren könnte. Das aber würde eine schwere Krise der Weltwirtschaft auslösen und die Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Erdölmonarchien vergiften.
Um die iranischen Atomanlagen anzugreifen, bräuchte Israel angesichts der Größe des Landes und der Entfernung ohnehin mehr als eine nur indirekte Unterstützung der USA – wie in Gaza oder im Libanon. An einem solchen Schlag müsste sich das Pentagon direkt beteiligen.
Allerdings hat Biden bereits einen Schritt in diese Richtung gemacht, als er im Oktober das Abwehrsystem Thaad lieferte, das feindliche Raketen in großer Höhe abfangen kann. Zur Installation dieses Systems müssen rund einhundert US-Soldaten nach Israel geschickt werden, die dann womöglich durch einen iranischen Gegenschlag gefährdet wären. Hier zeigt sich erneut ein flagranter Widerspruch im Handeln der Biden-Regierung, die den israelischen Bündnispartner bewaffnet und schützt, zugleich aber zu verstehen geben will, dass sie Druck auf Netanjahu ausübt, um diesen von bestimmten Aktionen abzubringen.
Für einen effektiven Angriff auf die unterirdischen Atomanlagen Irans bräuchte Israel mehr als jene Ein-Tonnen-Bomben, von denen Dutzende abgeworfen wurden, um Nasrallah zu töten; und auch mehr als die zwei Tonnen schweren bunkerbrechenden lasergelenkten Bomben GBU-28, die Obama an Israel geliefert hatte.
Für einen solchen Angriff bräuchte Israel Bomben vom Typ GBU-57, von denen jede zwischen 12 und 15 Tonnen wiegt und eine Durchschlagskraft bis zu 60 Metern Tiefe hat. Die Israelis besitzen weder diese Bomben noch die strategischen Bomber, um sie ins Ziel zu bringen.15 Mit dem Angriff vom 26. Oktober hat sich Netanjahu deshalb zunächst dafür entschieden, das iranische Verteidigungssystem weiter zu schwächen.
Die Luftschläge vom 26. Oktober waren zugleich ein weiterer Schritt in Richtung einer direkten Beteiligung der USA, insofern die Biden-Regierung kein Geheimnis daraus machte, dass sie über den Umfang wie den Zeitpunkt der Aktion voll informiert war.
Die weitere Entwicklung wird vom Ausgang der Präsidentschaftswahlen am 5. November abhängen. Die Wahrscheinlichkeit einer vereinten US-amerikanisch-israelischen Offensive würde, falls Trump die Wahl gewinnt, zunehmen und bei einem Sieg von Harris eher geringer werden. Es sei denn, die Regierung Netanjahu schafft es, Iran in eine Spirale hineinzuziehen, die eine solche Offensive unausweichlich macht.
1 Siehe Akram Belkaïd, „Kommt der große Nahostkrieg?“, LMd, Mai 2024.
2 „U.S. Rejected Aid for Israeli Raid on Iranian Nuclear Site“, The New York Times, 10. Januar 2009.
3 „Obama Arms Israel“, Newsweek, New York, 25. September 2011.
4 Siehe Gilbert Achcar „USA und Iran – eine nützliche Feindschaft“, LMd, Februar 2020.
5 Siehe Gilbert Achcar, „Die USA als Kriegspartei“, LMd, Februar 2024.
6 „Biden is mad at Netanyahu? Spare me“, The Nation, New York, 13. Februar 2024.
7 „Biden says he doesn’t know whether Israel is holding up peace deal to influence 2024 US election“, Associated Press, 4. Oktober 2024.
8 „Netanyahu to Biden: ‚From one zionist to another, thank you for 50 years of friendship‘ “, The Jerusalem Post, 25. Juli 2024.
9 Siehe Gilbert Achcar, „Was wird aus Gaza?“, LMd, Juni 2024.
10 Gilbert Achcar (mit Michel Warschawski), „The 33-Day War: Israel’s War on Hezbollah in Lebanon and its Aftermath“, London (Saqi books) 2007, S. 47 f.
11 Siehe „Israel revises death toll from Oct. 7 Hamas assault, dropping it from 1,400 to 1,200“, The Times of Israel, 11. November 2023.
12 Siehe Adam Raz, „A brief history of the Netanyahu-Hamas alliance“, Haaretz, Jerusalem, 20. Oktober 2023.
13 „We announce the start of the al-aqsa Flood“, Übersetzung der Ankündigung von Mohammed Deif, Oasis, 13. Dezember 2023.
14 „Israel says it has secured $8.7 billion U.S. aid package“, Reuters, 26. September 2024.
15 Siehe „Can Israel destroy Iran’s nuclear facilities by itself?“, The Financial Times, London, 4. Oktober 2024.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Gilbert Achcar ist Professor für Entwicklungsstudien und Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London. Er ist Autor von „Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen“, Hamburg (Edition Nautilus) 2012.