Brief aus Chișinău

Le Monde diplomatique –

Casa Herța, einer der Standorte des Nationalen Kunstmuseums. Im Hintergrund das Parlamentsgebäude
Casa Herța, einer der Standorte des Nationalen Kunstmuseums. Im Hintergrund das Parlamentsgebäude Foto: OLEG BEGUNENCO/alamy

Von Moldau aus war ich auf Kurzurlaub in Montenegro gewesen. Auf dem Rückweg hörte ich in der Flughafenschlange, wie sich zwei Ukrainerinnen auf Russisch unterhielten, auch sie hatten Urlaub in Montenegro gemacht: „Moldau hat uns gut aufgenommen, aber es gibt kein Meer“, sagte die eine. „Die Ukraine hat auch kein Meer mehr“, meinte die andere. „Alles vermint.“ Die beiden reisten via Chișinău zurück nach Kiew und Odessa. Zwei Ukrainerinnen aus der Mittelschicht, auf Urlaubsreise trotz des Kriegs, die jetzt in ihre Häuser und zu ihren Familien zurückkehrten, trotz des anhaltenden Risikos einer Bombardierung.

In den letzten 30 Jahren sind wir von Moldau aus gern in die Ukraine in den Urlaub gefahren, vor allem nach Satoka am Schwarzen Meer und in die Partystadt Odessa, nur 60 Kilometer von der Grenze entfernt. Satoka ist im Juli bombardiert worden. Der Krieg hat die Richtung des Menschenstroms umgekehrt: Hunderttausend Asylsuchende, vor allem aus der Gegend um Odessa und Mikolajiw, kamen nach Moldau, die meisten von ihnen russischsprachig, einige auch rumänischsprachig, aus Bilhorod-Dnistrowskyj (Cetatea Albă auf Rumänisch). Im Februar und März kamen zuerst die Wohlhabenden in teuren Autos. In den letzten Monaten dann kamen die, die noch nie in ihrem Leben im Ausland gewesen waren. Viele von ihnen hatten nicht einmal einen Koffer; ihre Habseligkeiten schleppten sie in Plastiktüten mit.

Am 1. September begann das neue Schuljahr. In Rădeni, einem Dorf 26 Kilometer nördlich von Chișinău, wurde nach der moldauischen auch die ukrainische Hymne gespielt und die ukrainischen Flagge neben der moldauischen gehisst – weil hier jetzt auch ukrainische Kinder zur Schule gehen. Insgesamt gehen mehr als 1800 ukrainische Kinder in moldauische Schulen.

Als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, befürchteten viele in Moldau, unser Land könnte als Nächstes dran sein. Ich wohne in London. Damals fragte ich mich, ob ich meine Familie und unser Haus je wiedersehen würde. Ich bat meine Eltern, sollten sie aus Chișinău fliehen müssen, den Teppich mitzunehmen, den meine Großmutter gewebt hatte. Viele in Moldau, die ich kannte, saßen die ganze Zeit auf gepackten Koffern. Wenn ihnen die sauberen Socken und Unterhosen ausgingen, zogen sie sich frische aus den Koffern; später wechselten sie die Winter- gegen die Frühjahrs- und schließlich gegen die Sommerkleidung.

Die Explosionen in Transnistrien Ende April waren die letzten beunruhigenden Ereignisse. Mit der Zeit stumpften wir ab, trotz der 150 falschen Bombenalarme, vom Flughafen bis zu den Regierungsgebäuden, und trotz der Cyberattacken gegen den Staat. Eine russische Hackergruppe namens Killnet brüstete sich, mit ihrem Angriff auf die Finanzämter Moldau „direkt ins Herz getroffen“ zu haben.

Seit vielen Monaten nun hören die Menschen in meiner Heimat von russischen Plänen, ihr Land zu destabilisieren. Moldaus Oligarchen, denen Prozesse und Haftstrafen drohen, verstecken sich in London, Zypern und Israel. Ihr Interesse, die proeuropäische, reformorientierte Regierung in Chișinău loszuwerden, die sich die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen geschrieben hat, deckt sich mit dem des Kremls. Im September reisten Vertreter der prorussischen Partei Shor des flüchtigen Oligarchen Ilan Shor zusammen mit einem Mitglied der Kommunistischen Partei nach Moskau.

Sie behaupteten, das Ziel ihrer Reise sei es gewesen, einen günstigeren Sondervertrag mit Gazprom auszuhandeln und ein Ende des Embargos auf moldauisches Obst zu bewirken. Sie trafen aber gar keinen Gazprom-Vertreter. Die moldauische Präsidentin Maia Sandu sagte, bei dem Besuch sei es darum gegangen, dem Kreml „die Idee zu verkaufen, dass die Shor-Partei die Lage in Moldau destabilisieren kann“.

Eine Woche später, am 18. September, organisierte die Shor-Partei eine Kundgebung im Zentrum von Chișinău. Protestiert wurde gegen die steigenden Energiekosten und den neuen „kalten Krieg“. Und dafür wurde Maia Sandu verantwortlich gemacht. Die meisten Schilder waren auf Russisch. „Als würden sie sich direkt an Putin wenden“, kommentierte die Journalistin Alina Radu von der rumänischsprachigen Tageszeitung Ziarul de Gardă. Für die meisten Moldauer:innen ist Rumänisch die Muttersprache.

Ilan Shor richtete per Video und auf Russisch das Wort an die Menge. Dabei saß er in seiner luxuriösen Strandvilla in Israel, wo er sich vor der moldauischen Justiz versteckt. Die Protestierenden waren in Bussen angekarrt worden, Vertreter der Shor-Partei hatten ihnen zwischen 10 und 80 Euro für die Teilnahme versprochen. Auf dem Rasen vor dem Parlamentsgebäude wurden einige Zelte aufgestellt – groß genug für einen großen Hund, aber viel zu klein für eine Matratze. Die Nächte waren regnerisch und kalt.

Der russische Krieg gegen den Westen hat eine neue Front: den Energiemarkt. Putins Plan, durch Lieferstopps und hohe Gas- und Ölpreise Druck auszuüben, um die Koalition gegen seinen verbrecherischen Krieg zu zerbrechen, trifft auch die Republik Moldau.

Die aktuelle Energiekrise kann aber auch als Chance betrachtet werden, um grüner und sicherer zu werden. In meinem Bekanntenkreis haben sich viele Solarpaneele zugelegt, oder sie überlegen es, wie meine Eltern. Und die Regierung fördert das mit finanziellen Anreizen.

Meine Großeltern auf dem Land werden sich, wie die meisten Menschen in Moldau, mit ihren Holzöfen warmhalten. In Moldau wird Gas in der Industrie genutzt und in einer kleinen Zahl von Haushalten, vor allem in der Stadt. Wenn Russland die Lieferungen stoppt, ist Chișinău auf Rumänien angewiesen, außerdem wird mit anderen Partnern verhandelt, etwa mit Aserbaidschan – was aber sehr viel teurer wäre.

Eine große Herausforderung für Russland ist allerdings Transnistrien, das sich vor 30 Jahren von Moldau abgespalten hat: Die selbsternannte Republik hat so gut wie nie für das Gas aus Russland bezahlt. Der Kreml nutzte den wachsenden Schuldenberg des prorussischen Regimes in Tiraspol, um Chișinău zu erpressen: Die Moldauer Regierung sollte die Schulden begleichen.

Wenn Russland nun Moldau den Gashahn zudreht, wie soll es dann Transnistrien weiter versorgen? Einige meinen, Gazprom könnten einen Sondervertrag mit den transnistrischen Behörden abschließen und den Gasfluss vom Kontrollpunkt Alekseeva an der moldauisch-ukrainischen Grenze zu den Kontrollpunkten Ananiev oder Grebenniki an der transnistrisch-ukrainischen Grenze umleiten. Aber die Ukraine würde wohl kaum ausschließlich für Transnistrien bestimmtes Gas aus Russland durchleiten.

Der Winter wird höchstwahrscheinlich teuer, die Regierung in Chișinău bemüht sich um Mittel, den Haushalt aufzustocken und eine humanitäre Krise abzuwenden. Als Folge der Energiekrise ist die Inflation auf 30 Prozent gestiegen. Der Hafen von Odessa ist weitgehend blockiert, an der moldauisch-rumänischen Grenze stauen sich tagelang hunderte Lastwagen. Das macht der schwächelnden Wirtschaft Moldaus zusätzlich zu schaffen.

Abgesehen von den Rechnungen für den kommenden Winter werden auch die politischen Kosten enorm sein, wenn unsere Gauner weiterhin im In- und Ausland ein Luxusleben führen und ihr schmutziges Geld in die Politik und in die Medien Moldaus stecken können. Wir brauchen eine rigorose und schnelle Justizreform.

Großbritannien, Israel und die Türkei sollten korrupte Oligarchen ausliefern, die sich unserer Justiz entziehen. Korrupte Richter und Staatsanwälte, die Prozesse verschleppen, sollten entlassen und selbst zur Verantwortung gezogen werden. EU-Beamte fordern Moldau auf, die Unabhängigkeit der Gerichte, der Nationalbank und des Rechnungshofs zu respektieren. Aber ist ihnen klar, dass sie damit auch die Unabhängigkeit von Gaunern fordern? Denn in diesen Institutionen sitzen immer noch die Leute des Oligarchen Wladimir Plahotniuk, und es ist nicht zu erwarten, dass die sich selbst entlassen. Wir brauchen zunächst tiefgreifende Reformen. Ohne eine Justiz, die diesen Namen verdient, die den vielen statt einigen wenigen dient, können wir in Moldau nicht viel aufbauen.

Etwas abseits der Politik (ist das überhaupt möglich?) geht nun im Herbst das kulturelle Leben wieder los, vor allem in der Hauptstadt. Im Nationalen Kunstmuseum, dem schönsten Gebäude von Chișinău – und dank eines Zuschusses aus Rumänien frisch restauriert –, sah ich zwei Ausstellungen zum Thema „Heimat“.

Die eine zeigt Fotografien von verlassenen Häusern auf dem Land, in denen die Menschen handgefertigte Teppiche, bestickte Tücher und Familienbilder zurückgelassen hatten, als sie sich auf der Suche nach einem besser bezahlten Job ins Ausland aufmachten. 1 Million Moldauer:innen (von insgesamt 3,5 Millionen) leben im Ausland – eine Massenauswanderung mit verheerenden Folgen.

In der anderen sind Werke von Multimedia-Künstler:innen und Dichter:innen aus Moldau, Rumänien und der Ukraine ausgestellt sowie Zeichnungen geflüchteter Kinder, die malen, was Heimat für sie bedeutet: Kriegsszenen, einfache Häuser mit Blumen davor, am Himmel die ukrainische Flagge.

Der moldauische Künstler Ghenadie Popescu hatte ein Video gemacht, in dem Putin gerade seine Rede vom 24. Februar hält, während sich der Künstler von hinten nähert, Putin auffrisst und am Ende alles auskotzt. Daneben hängen Fotos von einer Installation des ukrainischen Künstlers Taras Polataiko, der in Czernowitz eine blutverschmierte Waschmaschine vor das sowjetische Ehrenmal für die im Kampf gegen den Faschismus gefallenen Soldaten gestellt hat.

Vom Kunstmuseum lief ich auf der von Platanen gesäumten Straße des 31. August 1989 (das ist der Tag, an dem Moldau vom kyrillischen zum lateinischen Alphabet wechselte) zum Nationaltheater in der Eminescu-Straße. Dort findet gerade das jährliche Theatertreffen moldauischer und rumänischer Bühnen statt. Das Stück „Requiem für Butscha“ erregte meine Aufmerksamkeit, mit eingearbeiteten Zitaten moldauischer und ukrainischer Gedichte.

All diese Kunst können wir nur sehen und hören, weil die ukrainische Armee sieben Monate lang standgehalten hat. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was sonst wäre.

Aus dem Englischen von Anna Lerch

Paula Erizanu ist Journalistin.

© LMd, Berlin