Proteste in Moldawien: «Hupe, wenn du gegen den Krieg bist!»

Nr. 7 –

Die russische Invasion in die Ukraine hat im Nachbarland Moldawien eine Regierungskrise ausgelöst. Nun warnt Präsidentin Maia Sandu gar vor Putschplänen des Kreml. Was bedeutet das für das Land?

Demonstration von der russischen Botschaft in Chisinau
Alltag im Zentrum von Chisinau: Seit einem Jahr wird vor der russischen Botschaft demonstriert. Foto: Dumitru Doru, Keystone

Der Kreml stellt ihn als Feind und Bedrohung des Staates dar. In seiner russischen Heimatstadt Samara war er als Umweltaktivist bekannt, bevor er ins Exil nach Moldawien floh, als im Februar 2022 die ersten Raketen in der Ukraine einschlugen. In der Hauptstadt Chisinau ist er zum neuen Gesicht der Anti-Putin-Proteste geworden: mal Anarchist, mal Held, mal Verräter genannt. Sein Asylantrag in Moldawien wurde abgelehnt. Die Justiz hat ihn wegen «Vandalismus» verurteilt.

Doch eines ist sicher: Alexander Kudaschew ist immer auf der Suche nach Abenteuern. Er ist vierzig Jahre alt, russischer Staatsbürger. Fast jede Woche protestiert er vor der russischen Botschaft in Chisinau, in der zentralsten Strasse der Stadt, mit einem riesigen Plakat in der Hand: «Putin Terrorist».

Er ist ganz in Schwarz gekleidet, eine Mütze auf dem Kopf, darüber die Kapuze des Wintermantels. Sein Blick ist ernst. Die Zornesfalten zwischen seinen Augenbrauen sind tief. Man weiss nicht so genau, ob es an der kalten Wut oder am kalten Wind liegt.

 Alexander Kudaschew
 Alexander Kudaschew

Es ist 17 Uhr, Zeit zum Hupen. Seit dem Grossangriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 findet diese Protestaktion täglich statt. Ziel ist es, diese Form des Kampfes bei den Einwohner:innen zur Gewohnheit zu machen. Auch in der Kälte, wenn man das Gefühl hat, der Schneewind reisse einem das Gesicht auf. Doch Kudaschew hält durch. Heute sind sie zu fünft. Ein kräftiger Mann steht auf dem Trottoir, nimmt mit Handschuhen ein Plakat auf und hält es zur Strasse hin in die Höhe: «Hupe, wenn du gegen den Krieg bist!» Und so heulen jeden Tag zwei Stunden lang die Autohupen in der Innenstadt.

Das Botschaftsgebäude liegt an einer Kreuzung. Wenn die Ampel auf Rot springt, halten die Autos kurz an. Ein Fahrer reisst das Fenster auf und flucht: «Geht zum Teufel!» Ein Fahrgast auf dem Rücksitz eines Taxis streckt den Demonstrant:innen den Mittelfinger entgegen. Als Antwort schwenken zwei protestierende Frauen die Fahnen der Republik Moldau und der Ukraine, die Fahnenstangen fest umklammert, die dreimal so hoch sind wie sie. An Tagen, an denen die Sonne scheint, kommen manchmal Putins Anhänger:innen und zerreissen die Plakate.

Feuerwerk wie Granaten

Auf eines versteht sich Kudaschew besonders: Er weiss, wie er zumindest die russischen Diplomat:innen in Bedrängnis bringen kann. Am 7. Oktober wurde der russische Präsident Wladimir Putin siebzig Jahre alt. Das muss gefeiert werden, dachte sich auch Kudaschew. Gegen 22 Uhr zündete er auf dem Gelände der russischen Botschaft ein Feuerwerk. Auf die Aussentore schrieb er «Putin – der Mörder» in Blau und Gelb, den Farben der ukrainischen Flagge. «Die Russen sollen wenigstens für ein paar Sekunden verstehen, wie sich die Menschen in der Ukraine seit knapp einem Jahr fühlen, wenn vor ihren Fenstern russische Granaten explodieren», erklärte er.

Die Botschaft richtete eine Protestnote an Chisinau, in der sie die moldawische Regierung der Komplizenschaft mit den Protesten beschuldigte. Und auch die Reaktion aus Moskau liess nicht lange auf sich warten. Zwei Tage später überquerten drei russische Raketen den moldawischen Luftraum und flogen auf verschiedene Regionen der Ukraine zu. Die Regierung in Chisinau verurteilte das Vorgehen Russlands ihrerseits aufs Schärfste und warf Russland vor, die Neutralität Moldawiens zu verletzen.

Petru Zloi
Petru Zloi

«Meine Landsleute, denen die Flucht gelungen ist und die nicht mehr von den Repressionen des Putin-Regimes bedroht sind, dürfen nicht schweigen. Unsere gemeinsame Stimme muss lauter sein als das Geschrei der russischen Propaganda und die Drohungen aus dem Kreml. Nur so können wir geeinter, mutiger und aktiver in unsere Heimat zurückkehren», sagt Kudaschew.

Doch in Moldawien haben die Anti-Putin-Aktivist:innen einen schweren Stand. Die Republik zwischen Rumänien und der Ukraine gilt, abgesehen von Belarus, als stärkster russischer Einflussbereich im postsowjetischen Raum. Russisch ist die Verkehrssprache der knapp 2,6 Millionen Einwohner:innen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zerfiel das Land in blutigen Konflikten Im Süden entstand die Autonome Republik Gagausien, im Osten an der Grenze zur Ukraine das Gebiet Transnistrien, das sich von Chisinau unabhängig erklärte. Transnistrien ist bis heute international nicht anerkannt und wird vom russischen Militär kontrolliert. Im Zuge der russischen Invasion in die Ukraine drohten die Auseinandersetzungen wieder aufzuflammen. Moldawien könnte nach Darstellung des Kreml ein neues «antirussisches Projekt» des Westens nach der Ukraine werden.

Nicht umsonst schmücken EU-Flaggen die Gebäude in Chisinau. Moldawien hat im vergangenen Jahr einen EU-Kandidatenstatus erhalten, wie auch die Ukraine. Bei den Parlamentswahlen 2021 konnte Präsidentin Maia Sandus Partei PAS (Partei der Aktion und Solidarität) die absolute Mehrheit erringen. Sie bemühte sich um Reformen und versuchte, die engen Beziehungen der oppositionellen Oligarchen zu Russland zu kappen. Im Dezember 2022 entzog die Regierung den russischen Fernsehsendern die Lizenz.

Socken in Blau und Gelb

Unweit der russischen Botschaft steht das Artcor, ein Zentrum für Kreativwirtschaft mit Kultur- und Geschäftsräumen für Veranstaltungen und Ausstellungen sowie Bildungsprogramme. Auf dem Dach befindet sich eine Terrasse mit einem Freiluftauditorium, ein Projekt, das mit Geldern aus der EU und den USA finanziert wurde.

Wenn nicht gerade ein Film oder ein Konzert läuft, kommt Petru Zloi auf einen Cappuccino vorbei und lernt neue Leute kennen. Aus dem Russischen übersetzt heisst sein Name «der böse Peter». Doch der Name passt nicht zu seinem Lächeln. Zloi ist 24 Jahre alt, trägt einen langen Mantel und einen langen Schal um den Hals. In seinem schwarzen Outfit sieht man seine Socken, an einem Fuss blau, am anderen gelb – solidarisch mit der Ukraine. Jeden Tag arbeitet er mit ukrainischen Geflüchteten, die vor allem eine Unterkunft suchen.

Über 700 000 Ukrainer:innen sind bisher nach Moldawien geflüchtet, die meisten von ihnen sind weitergereist, rund 90 000 sind geblieben. Damit hat die Republik im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung mehr Menschen aus der Ukraine aufgenommen als jedes andere Land. Doch weder in Gebäuden noch von Balkonen hängen ukrainische Flaggen. Zumindest trägt Zloi die Farbe an seinen Füssen. «Es ist hochprovokativ für unser Land», sagt er, als er das Café betritt. Dabei nimmt er behutsam den schier endlosen Schal von seinem Hals.

Zwei Euro zahlt Zloi für seinen Cappuccino. «Nur Katzen sind von der Inflation nicht betroffen», sagt er und streichelt den dicken Bauch der verschmusten Katze, die auf einem Stuhl an einem Tisch in der Cafeteria sitzt. Eine andere Katze springt auf das Gasrohr und macht es sich an der Wärme gemütlich.

Zloi muss bei der Heizung sparen. Im Januar musste er etwa 130 Euro für das Heizen bezahlen. Letztes Jahr hat er noch ein Viertel davon bezahlt. Russland hat das Gas abgestellt. Das schlägt sich in den Preisen nieder. Der Durchschnittsverdienst in Moldawien liegt nur bei rund 400 Euro im Monat.

Die prorussischen politischen Kräfte nutzen jede Gelegenheit, bei den Wähler:innen zu punkten. So halten sie der EU-nahen Regierung vor, für die rasant wachsende Inflation, die aktuell bei mehr als vierzig Prozent liegt, verantwortlich zu sein. Auch deswegen traten Ministerpräsidentin Natalia Gavrilița und ihr Kabinett am 10. Februar zurück.

Nun ist Dorin Recean designierter Premierminister. Er war von 2012 bis 2015 Innenminister und zuletzt Maia Sandus Berater für nationale Sicherheit und Verteidigung. Für Staatspräsidentin Sandu und das künftige Kabinett bedeutet der Rücktritt der bisherigen Regierung daher keinen Politikwechsel.

Im Gegenteil. Vor allem die Sicherheit der Republik Moldau und die proeuropäische Agenda sollen weiterhin prioritär behandelt und verstärkt werden. Wie aber will die neue Regierung Korruption, Armut und Wirtschaftskrise bekämpfen? Diese Fragen werden auf die lange Bank geschoben. Dabei dürfte es in Zukunft noch schwieriger werden, die Wähler:innen der prorussischen Parteien davon zu überzeugen, dass sie ein paar kalte und hungrige Winter durchstehen müssen.

Droht ein Überfall Russlands?

Zloi sagt: «Es gibt keinen Weg zurück.» Mit seinem Diplom in Wirtschaftswissenschaften und bald einem Master in Europastudien und Internationalen Beziehungen will er seinen Beitrag leisten, das Land auf den Weg der europäischen Integration zu bringen. Als Young European Ambassador der EU geht er in Schulen und wirbt für die EU, erzählt den Schüler:innen von Visafreiheit, Bildungschancen und Toleranz und davon, dass man seine Stimme nicht verkaufen sollte.

«Wir können den Kreml nicht aufhalten, aber unsere Gesellschaft verändern», meint Zloi. Wird Russland denn jetzt auch noch Moldawien überfallen? Zloi erinnert an die Worte des russischen Aussenministers Sergei Lawrow, dass Moldawien nach der Ukraine dran sein könnte. «Wir müssen alles tun, damit die Ukraine durchhält – auch für unser Land.» Russland plane einen Putsch in Moldawien, warnte Präsidentin Sandu am Montag – sie stützte sich dabei auf Informationen des ukrainischen Geheimdiensts.

Der russische Umweltaktivist Alexander Kudaschew will auch die Freiheit seines Landes. Für den Sieg der Ukraine hat er vor, in den Krieg zu ziehen. Er hat sich für die Legion «Freiheit Russlands» beworben, in der Russen unter ukrainischem Kommando kämpfen. Kudaschew hat kein Verständnis für seine Landsleute, die sich in die russische Armee zwangsrekrutieren lassen: «Es gibt immer Auswege. Ich kenne Jungs in Russland, die sich mindestens ein Bein gebrochen haben.» Jetzt wird er vielleicht bald einigen in der Ukraine gegenüberstehen. Seine Bewerbung ist angenommen worden. Jetzt muss er warten, bis sie vom ukrainischen Militär geprüft worden ist.