Ein Traum der Welt: Mut statt Macron

Nr. 13 –

Annette Hug steht vor einer Wand

Vor einem Monat berichteten Bekannte aus Frankreich, wie fröhlich und belebend die Demonstrationen dort seien. Jetzt ist alles düsterer geworden. Dass Präsident und Regierungschefin nicht nur die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch die Mehrheit des Parlaments mit einem Machtwort aushebeln, leert mir den Kopf. Wie soll man da überhaupt wieder ins Gespräch kommen?

Vor einem Monat stand ich in Paris vor einem Zaun, der ein klassizistisches Palais einfasste. Er diente als Hintergrund für eine Fotoausstellung. Zu sehen war eine chinesische Seniorin in Hongkong, die einen Polizisten in Kampfmontur anschreit. Sie steht allein in einer ganzen Bande von Männern, die in ihren Monturen wie Roboter aussehen. Ihr hellblaues T-Shirt und eine Stofftasche stechen als einzige Farbtupfer hervor. Um gerade zu stehen, stützt sie sich auf einen Stock, wächst aber über sich hinaus, ist ausser sich, und tatsächlich scheint ein Polizist vor ihrer Wucht zurückzuweichen.

Die Fotografin des Bildes heisst Laurel Chor, auf ihrer Website sind weitere Fotos aus der Zeit zu sehen, in der Millionen von Menschen die Innenstadt Hongkongs lahmlegten, um für demokratische Institutionen – zum Beispiel für die Unabhängigkeit der Justiz und freie Wahlen – zu demonstrieren. Sie sind unterlegen. Wie Tausende junger Hongkonger:innen wohnt Laurel Chor heute in Grossbritannien, wobei sie auf ihrer Website angibt, zwischen England und der Ukraine zu pendeln. Ihre jüngsten Arbeiten sind Fotos aus dem Kriegsgebiet, Chor arbeitet für internationale Agenturen und Medienhäuser.

Aus der Art, wie sie Fotos aus der Ukraine und aus Hongkong auf ihrer Website montiert, ist zu erahnen: Laurel Chor sieht einen gemeinsamen oder zumindest verbundenen Kampf. Aber eigentlich hätte sie noch andere Interessen, zum Beispiel Rugby. Sie hat für das Frauennationalteam Hongkongs gespielt und ein Projekt für Biodiversität in und um die Megacity lanciert.

Das Palais, an dessen Zaun die Fotografie aus Hongkong hängt, trägt einen seltsamen Namen. Er ist in goldenen Lettern an der Fassade angebracht, als stünde er schon über hundert Jahre dort. Wobei die Wortwahl nicht nach 19. Jahrhundert tönt: «Conseil économique, social et environnemental». Es handelt sich um eine Institution, die Emmanuel Macron geschaffen hat, um das bestehende System zu beleben. Der Rat für Soziales, Wirtschaftliches und die Umwelt ist weder ein Parlament noch eine Akademie, sondern eine diffuse Struktur, die demokratische Gespräche verspricht.

Was mich an China erinnert, denn auch in Schanghai wird Partizipation grossgeschrieben. Da gibt es Austausch und Umfragen zu allem Möglichen, aber versammelt werden nicht Bürger:innen, sondern Stakeholder, die Regierung spricht wie ein CEO. Alle geben sich Mühe, zeichnen Ideen auf Flipcharts, und am Schluss entscheidet der Chef.

Dass sich das Palais des macronschen Conseil mit einer mutigen Seniorin in Hongkong schmückt, wirkte schon vor einem Monat seltsam. Jetzt, da der französische Präsident aus Angst vor einer weiteren Eskalation der Proteste den Staatsbesuch des englischen Königs Charles III. absagt, wird noch deutlicher: Was Demokratie in Zukunft sein könnte, wird nicht in einem Palais erfunden.

Annette Hug ist Autorin in Zürich und blickt mit der aus Hongkong stammenden Fotografin Laurel Chor nach Kyjiw.