EU-Erweiterung: Ausharren im geostrategischen Wartezimmer

Nr. 49 –

Der Krieg in der Ukraine hat die Debatte um neue EU-Mitglieder wiederbelebt. Doch in der Praxis wird der Prozess auf eine jahrelange Gratwanderung hinauslaufen.

Arbeiter schmücken die Fassade der EU-Büros im nordmazedonischen Skopje
Die Vorfreude scheint bei den Kandidaten grösser als bei der EU. Arbeiter schmücken die Fassade der EU-Büros im nordmazedonischen Skopje. Foto: Georgi Licovski , Keystone

Ein grotesker Hauch von Interrail liegt über dem Bild, obwohl der Komfort dem Status der Protagonisten angemessen ist und die Reise unter kriegerischen Vorzeichen stattfindet. Mitte Juni stehen Mario Draghi, Emmanuel Macron und Olaf Scholz gut gelaunt in einem holzgetäfelten Abteil des Nachtzugs nach Kyjiw, wo sie den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski treffen werden. Ziel des Besuchs: die umfassende Solidarität der EU mit der Ukraine auszudrücken und deren mögliche Mitgliedschaft zu diskutieren. Ein halbes Jahr zuvor wäre dies ein undenkbares Szenario gewesen. Doch was ist noch, wie es war, seit Russland die Ukraine angriff?

Zweifellos handelt es sich um eines der symbolträchtigsten EU-Fotos dieses auslaufenden Jahres: die drei kontinentalen Schwergewichte, die Regierungschefs der Gründungsmitglieder Italien, Frankreich, Deutschland, die sich gemeinsam auf den Weg in die Ukraine machen. Es zeigt, dass die EU unter den drastisch veränderten Vorzeichen des Krieges die zuvor skeptische Position bezüglich ihrer Erweiterung neu bewertet hat. Und auch, dass es letzten Endes die Regierungen der Mitgliedstaaten sind, die während dieses als historisch bewerteten Besuchs die Weichen neu stellen.

Eine Woche später entschied der EU-Gipfel in Brüssel tatsächlich, der Ukraine und Moldawien offiziell den Kandidatenstatus zu verleihen. Georgien, das ebenfalls kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine die Mitgliedschaft beantragte, erhält eine Option auf diesen Status in absehbarer Zeit – sofern Tiflis zuvor eine Prioritätenliste der EU-Kommission umsetzt. Laut deren Präsidentin Ursula von der Leyen stärkt diese Entscheidung die Ukraine, Moldawien und Georgien angesichts der russischen Bedrohung. Macron betont nach dem Gipfel, Europa sei dem ukrainischen Volk diesen Schritt schuldig.

Am deutlichsten formuliert der deutsche Bundeskanzler die neue Realität: «Die Entscheidung für den Kandidatenstatus der Ukraine und Moldaus ist eine Antwort Europas auf die Zeitenwende. Dieselbe klare Antwort verdienen auch die Länder des westlichen Balkans.» Scholz setzt so den neuen Erweiterungsenthusiasmus in Relation zum «Wartezimmer» der EU. Genau dort nämlich befinden sich neben der Türkei, mit der die Verhandlungen seit Jahren eingefroren sind, auch die Kandidaten Serbien, Albanien, Montenegro und Nordmazedonien, ausserdem die potenziellen Kandidaten Kosovo und Bosnien und Herzegowina.

Vielleicht 2025? Oder 2030?

Ein anvisiertes Datum für einen Beitritt der Westbalkanstaaten gibt es freilich nicht. Einst war von 2025 die Rede, dann, bei der Westbalkankonferenz im Herbst 2021 im slowenischen Brdo, stand 2030 zur Debatte. Doch mehr als das ausdrückliche Bekenntnis der EU-27 zu den künftigen Mitgliedern gibt es nicht. Zum einen sind da die Beitrittsbedingungen, etwa punkto Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung. Daneben stehen ungelöste regionale Konflikte wie der zwischen Serbien und dem Kosovo oder der Anspruch des EU-Mitglieds Bulgarien, die nordmazedonische Verfassung solle die Sprache des Landes als bulgarischen Dialekt deklarieren.

Die Bezeichnung «Wartezimmer» bezieht sich nicht zuletzt auf den mühsamen Weg, den die Westbalkanländer zurücklegen mussten, bis ihnen überhaupt der Kandidatenstatus zuerkannt wurde. Dass dieser Prozess für die Ukraine und Moldawien, aber für Georgien unter dem Eindruck des Krieges deutlich abgekürzt wurde, sorgt unter den Ländern des Westbalkans für Entrüstung. So sprach Dimitar Kovačevski, der nordmazedonische Ministerpräsident, Brüssel die Glaubwürdigkeit ab, nachdem sein Land siebzehn Jahre lang als Kandidat seine Integrationswilligkeit gezeigt, die EU aber «nicht geliefert» habe.

Das Vorgehen gegenüber dem postsowjetischen Raum und dem Westbalkan erscheint in dieser Perspektive konträr: Was hier auf einmal im Schnelldurchgang verläuft, stockt dort seit Jahren. Dabei geht es eigentlich um identische Belange. Der lettische Premier Krišjānis Kariņš formulierte es schon auf der Westbalkankonferenz 2021 so: «Entweder streckt Europa seine Hand aus, oder andere werden es tun.» Offensichtlich meinte er eine Einflussnahme oder Destabilisierung seitens Chinas, Russlands oder der Türkei.

Im Sommer 2022 klingt der nordmazedonische Ministerpräsident noch um einiges dringlicher. Die Erweiterung sei weder ein Selbstzweck noch eine rein politische oder ökonomische Frage. «Nach Russlands Angriff auf die Ukraine und im Licht des Einflusses dritter Parteien in der Westbalkanregion, der anfälligsten auf dem europäischen Kontinent, ist daraus eine Frage der Sicherheit geworden», sagte Kovačevski dem Nachrichtenportal «Euroactiv».

Eine vertrackte Konstellation

Die Ereignisse dieses Jahres haben damit in gewisser Weise Ursula von der Leyen bestätigt, die sich bei ihrem Amtsantritt vor drei Jahren zu einer «geopolitischen Kommission» bekannte – auch wenn sie sich darunter etwas anderes vorgestellt haben dürfte. Wie vertrackt die Konstellation nun ist, zeigt sich allein schon daran, dass sich der Beitrittskandidat Serbien, traditionell mit Russland verbunden, den Sanktionen gegen Moskau verweigert. Zugleich sind die nationalistischen, separatistischen Tendenzen der Republika Srpska eine der Quellen der latenten Instabilität in Bosnien und Herzegowina.

Dass Brüssel vom eingeschlagenen Weg in Richtung Erweiterung abweicht, scheint undenkbar. Im Fall der postsowjetischen Länder wird der tatsächliche Beitrittsprozess wohl wesentlich langsamer verlaufen als ihr Weg zum Kandidatenstatus. Was nicht allein an den Kopenhagener Kriterien liegt, die trotz der besonders prekären Umstände zu erfüllen sind. Schwächte man diese demokratischen, rechtsstaatlichen und wirtschaftlichen Standards etwa gegenüber der Ukraine ab, liessen sie sich auch im Fall der Westbalkanländer kaum aufrechterhalten.

Im Verlauf des Erweiterungsprozesses dürfte es ausserdem zu einigen institutionellen Reformen der EU kommen, was etwa der deutsche Kanzler schon im Sommer propagierte. Aufnahmefähigkeit, so Scholz, bedeute auch eine Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Zur Debatte steht dabei auch das Einstimmigkeitsprinzip, das sich in der Praxis wie ein Vetorecht auswirkt und euroskeptischen Mitgliedstaaten als Hebel dienen kann. Im Juni stimmte das EU-Parlament bereits dafür, dieses künftig bei wichtigen Entscheidungen auszusetzen.

Die Schengen-Debatte

Auf der Ebene der Mitglieder regt sich dagegen jedoch längst nicht nur in Polen oder Ungarn Widerstand. Auch im Westen Europas existiert in vielen Ländern eine EU-kritische Öffentlichkeit und starker Unwille gegenüber einer weiteren politischen Integration. Vielsagend ist das derzeitige Tauziehen zwischen der EU-Kommission und der niederländischen Regierung um die Ausweitung des Schengen-Gebiets. Während die Kommission Kroatien, Rumänien und Bulgarien aufnehmen will, blockiert die Regierung in Den Haag den Zutritt Bulgariens. Nun wollen die Innenminister der Mitgliedsländer am 8. Dezember über den Schritt entscheiden (vgl. «Mit scharfer Munition» im Anschluss an diesen Text).

Das Beispiel zeigt, welche Gratwanderung die Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten werden – gerade dann, wenn sie mit der Bedingung interner Reformen und einer weiteren europäischen Integration verknüpft werden. Die grossen Herausforderungen der letzten Jahre wie Finanzkrise, Eurorettung oder Covid-Pandemie haben zudem ein ambivalentes Bild vom Zustand der Union offenbart: einerseits die Fähigkeit zum gemeinsamen, solidarischen Handeln, andererseits strukturelle Bruchlinien, etwa zwischen südlichen und nördlichen Ländern, und die schier unbezwingbaren Zentrifugalkräfte nationaler Interessen.

Welches delikate Spannungsverhältnis diesen Prozess umgibt, liess sich aktuell zu Wochenbeginn in Tirana beobachten. Beim EU-Westbalkangipfel, auf eine schnellere Einbindung der Region ausgerichtet, kündigte die kosovarische Präsidentin Vjosa Osmani an, noch in diesem Jahr die EU-Mitgliedschaft beantragen zu wollen. Dafür allerdings müssten sich die Beziehungen zu Serbien normalisieren. Belgrad freilich erkennt nicht einmal die Unabhängigkeit des Kosovo an – ebenso wenig wie Russland und nicht zuletzt die EU-Mitglieder Rumänien, Slowakei, Spanien, Griechenland und Zypern.

EU-Aussengrenze : Mit scharfer Munition

Ein Video zeigt, wie mehrere Personen wutentbrannt Steine in Richtung bulgarischer Grenzbeamt:innen werfen. Dann ist ein Schuss zu hören. Der neunzehnjährige Abdullah al-Rustum Muhammad wird am Oberkörper getroffen. Er sinkt zu Boden.

Mehrere europäische Medien rund um die Journalist:innen von «Lighthouse Reports» publizierten diese Woche eine gemeinsame Recherche, die zum ersten Mal den Einsatz scharfer Munition an der EU-Aussengrenze nachweist. Der untersuchte Vorfall ereignete sich am 3. Oktober an der bulgarisch-türkischen Grenze. Rustum Muhammad aus Syrien hat ihn nur knapp überlebt. Wie er den Journalist:innen berichtete, wurde er mit anderen Flüchtenden an diesem Tag in Bulgarien aufgegriffen und unter Zwang zurück über die Grenze in die Türkei transportiert. Solche «Pushbacks» gelten zwar als illegal, sind an Europas Grenzen aber schon lange an der Tagesordnung.

Dass es an diesem Tag an der Grenze zu Gewalt kam, streitet niemand ab – auch die bulgarischen Behörden nicht. Für den Schuss wollen sie indes keine Verantwortung übernehmen. Das Rechercheteam konnte aber anhand von Videos belegen, dass der Schuss zweifelsfrei von den bulgarischen Grenzschützer:innen ausgegangen sein muss.

Der Einsatz scharfer Munition an der EU-Aussengrenze ist eine neue Eskalationsstufe. Von der europäischen Öffentlichkeit ist heuer aber nur wenig Empörung zu erwarten; im Länderdreieck zwischen der Türkei, Griechenland und Bulgarien sterben – wie so vielerorts an Europas Grenzen – regelmässig Menschen beim Versuch, in Sicherheit zu gelangen. Der Schuss auf Rustum Muhammad zeigt nun in neuer Deutlichkeit, dass die Todesfälle nicht nur in Kauf genommen, sondern auch aktiv herbeigeführt werden.

Am Erscheinungstag dieser WOZ wird die EU darüber befinden, ob Bulgarien dem Schengen-Raum beitreten darf. Zu erwarten ist ein negativer Entscheid. Nicht etwa wegen Kritik an Bulgariens Grenzregime – im Gegenteil. Manche westeuropäische Staaten fürchten vielmehr eine Intensivierung der Migration aus dem wirtschaftlich schwächeren Land selbst.