Nicht aus derselben Schweiz
Die Schweiz wird nicht müde, sich selbst ihre Mythen vorzugaukeln. Zeit, ihr auch mal den Spiegel vorzuhalten. In meiner Schweiz leben Menschen, denen der Zugang zum gesellschaftlichen Leben und zur Politik verweigert wird. Sie werden am 22. Oktober nicht wählen gehen, weil sie als «Ausländer:innen» erst gar nicht wählen dürfen, oder aber, weil sie damit beschäftigt sind, über die Runden zu kommen. Diese Menschen werden durch Mythen unsichtbar gemacht. Einige Beispiele:
«Wer in der Schweiz hart arbeitet, kann etwas erreichen.»
In meiner Schweiz arbeiten Mütter Vollzeit in der Fabrik, tragen zusätzlich um vier Uhr morgens Zeitungen aus und können am Ende des Monats ihre Rechnungen trotzdem nicht begleichen. Entgegen der Erzählung vom «Chancenland Schweiz» haben unsere Mütter durch harte Arbeit eben doch nicht viel erreicht. In meiner Schweiz arbeiten die Menschen, um zu überleben, nicht um sich selbst zu verwirklichen. Und egal wie hart sie arbeiten, am Ende landen sie dennoch beim Betreibungsamt, unsere Mütter, meine Mutter.
«In der Schweiz gibt es ein Wirtschaftswachstum.»
In meiner Schweiz gibt es kein Wachstum, sondern Zerfall. Väter arbeiten ein halbes Leben lang in der Fabrik und werden dann doch aussortiert, wie meiner, der im Alter von fünfzig Jahren in die Langzeitarbeitslosigkeit fiel. Dieselben Menschen, die vom «Sonderfall Schweiz» schwärmen und sich als Patrioten darstellen, haben hier Hunderttausende Stellen abgebaut und innert weniger Jahrzehnte einen grossen Teil der Industrie für viel Profit ins Ausland verlegt. Angeblich haben sie im Gegenzug neue Stellen geschaffen, aber ein Fabrikarbeiter kann leider nicht als IT-Ingenieur arbeiten.
«In der Schweiz gibt es ein starkes Sozialsystem.»
Mein Vater kann nach einem Unfall kaum noch lange stehen und hat Mühe, einen Fuss vor den anderen zu setzen. Der IV-Entscheid: zu hundert Prozent arbeitsfähig. Wohin nun mit diesem Fabrikarbeiter? Sozialamt. Existenzminimum und Entwürdigung nach dreissig Jahren Schichtarbeit. In meiner Schweiz werden die schwächsten Menschen von den Sozialversicherungen nicht mehr aufgefangen, sondern zusätzlich gedemütigt.
«In der Schweiz ist der soziale Aufstieg möglich.»
In meiner Schweiz sehe ich viel Abstieg und wenig Aufstieg. Die Preise steigen, das Einkommen der Arbeiter:innen sinkt. Der erwachsene Sohn einer sechzigjährigen Coop-Verkäuferin zieht zurück zu seiner Mutter, weil er sich als Lastwagenfahrer nicht einmal mehr seine Miete leisten kann. Dieser Realität begegne ich täglich bei der Arbeit. Nein, das sind keine Einzelfälle. Das hat Struktur: In meiner Schweiz gibt es eine neue Unterschicht, die feststeckt.
Reichtum wird vererbt, Armut auch.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.
Kommentare
Kommentar von Robert Löpfe
Mi., 11.10.2023 - 08:56
Der nächste Mythos:
Die Schweiz ist nicht durch Bodenschätze reich geworden, sondern durch den Fleiss und de Klugheit ihrer Bewohner:innen...
Auflösung: Tatsächlich ist sie durch Ausbeutung reich geworden, unter anderem von Bodenschätzen, die woanders liegen.