Sozialhilfe: Plötzlich ein Reichtum an Ideen

Nr. 20 –

Jahrelang ritt die SVP Angriffe gegen die Sozialhilfe. Nun ist sie in fast allen Kantonen gescheitert. Auch auf Bundesebene wird konstruktiver über die Bekämpfung von Armut diskutiert. Zeichnet sich eine Trendwende ab?

Soziale Absicherung darf keine Geste der Barmherzigkeit bleiben: Der Verein Incontro bringt in Zürich warmes Essen und Lebensmittel für die Wartenden in der Schlange. Foto: Florian Bachmann

Die Abstimmung in Baselland am vergangenen Wochenende erhielt schweizweit kaum Beachtung. Dabei markiert sie das vorläufige Ende des SVP-Angriffs auf die Sozialhilfe. «Motivation statt Sanktion» lautete das verführerische Motto, unter dem die rechtspopulistische Partei seit 2014 in zahlreichen Kantonen ähnliche Vorstösse lancierte wie eben jetzt in Baselland. In Tat und Wahrheit wollte die SVP damit den Grundbedarf bei der Sozialhilfe um dreissig Prozent senken. Erst durch «aktive Mitwirkung» hätten Armutsbetroffene auf den heutigen Betrag kommen können. Das Ziel war ein Wettbewerb ganz unten in der Gesellschaft, wo viele Menschen nur wenige Perspektiven und längst keine Kraft mehr besitzen: weil sie keine oder schlecht bezahlte Arbeit haben, verschuldet sind oder gesundheitlich angeschlagen.

Ausgedacht hatte sich das niederträchtige Spiel Ulrich Schlüer, der als Sekretär von James Schwarzenbach einst die Saisonniers aus dem Land werfen wollte. Inzwischen hetzt der «Schweizerzeit»-Verleger gegen Armutsbetroffene. Mit der Offensive setzte die SVP ihre Kampagne gegen Arme als «Sozialschmarotzer» fort. Und hielt damit ihr Personal im Gespräch: in Baselland etwa Landrat Peter Riebli, in Bern Regierungsrat Pierre Alain Schnegg. Im Aargau katapultierte sich Martina Bircher mit dem Thema in den Nationalrat.

Doch mit der Offensive lief längst nicht alles wie gewünscht: In einzelnen Kantonen wie etwa St. Gallen, in denen die SVP über eine Hausmacht verfügt, erlitt sie bereits im Parlament Schiffbruch. In Bern wurde der Vorschlag 2019 nach einem engagierten Abstimmungskampf von linken Parteien, Kirchen und Hilfswerken mit 52 Prozent der Stimmen an der Urne gebodigt. Damals gab sich Martina Bircher noch zuversichtlich: Bern sei nicht mit dem Aargau vergleichbar, in dem es keine grossen Städte gebe. Doch Anfang Mai musste der Aargauer Grosse Rat eine mehr als hundertseitige Analyse des Sozialdiensts zur Kenntnis nehmen, wonach der SVP-Vorstoss zu einem «extrem teuren, personalintensiven Bürokratiemonster» führen würde. Da willigte selbst die SVP kleinlaut ein, den Vorschlag abzuschreiben.

In Baselland fand der Vorschlag zuerst im Parlament Unterstützung. Nachdem SVP und FDP aber ihre Mehrheit verloren hatten, wurde er stark modifiziert. Bei der Abstimmung am Sonntag ging es noch darum, ob der Grundbedarf an Sozialhilfe für Armutsbetroffene nach zwei Jahren Bezugsdauer um vier Prozent gesenkt werden soll. Zusätzlich sollten «Motivationszulagen» für alle geschaffen werden. Fast 64 Prozent der Stimmberechtigten nahmen das Gesetz an. «Die Mehrheit hat die Vorlage positiv bewertet», meint SP-Landrat Adil Koller, der sich im Abstimmungskampf dagegen engagierte. «Sie nahm die Vorlage nicht als Abbau, sondern für viele Betroffene als Ausbau wahr. Wir haben uns gegen die Kürzung bei den Langzeitarbeitslosen gewehrt.» Die SP will die Umsetzung nun genau verfolgen.

Baselland war der letzte Kanton, in dem ein SVP-Vorstoss noch hängig war. Ist die Offensive damit insgesamt gescheitert? Hatte sie trotzdem eine Wirkung? Oder zeichnet sich eine Trendwende ab? Und welchen Effekt hatte die Coronapandemie auf die soziale Absicherung in der Schweiz?

Die politische Blockade

Die Sozialhilfe ist Sache von Kantonen und Gemeinden. Dass eine gute Übersicht über ihre Entwicklung im Dickicht des Föderalismus existiert, ist das Verdienst von Véréna Keller, emeritierte Professorin an der Fachhochschule für Soziale Arbeit Lausanne. Jährlich verfasst sie eine Chronologie über kantonale Gesetzesänderungen. «Von 2008 bis 2019 hat die SVP insgesamt 36 Vorstösse zur Sozialhilfe in zehn Kantonen eingereicht. Seit 2019 keinen einzigen mehr. Das ist eine klare Trendwende», bilanziert sie. Schaue man sich aber die konkrete Ausgestaltung der Sozialhilfe an, sei das Resultat weniger erfreulich. «In der Praxis kann man den Eindruck erhalten, es brauche die SVP gar nicht mehr.»

Der wichtigste Richtwert in der Sozialhilfe ist der Grundbedarf. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) legt ihn als Empfehlung für die Kantone fest. Der Grundbedarf soll die täglichen Bedürfnisse abdecken: die Kosten für Lebensmittel, Bekleidung, Körperpflege oder die Mobilität. Zusätzlich zum Grundbedarf werden von der Sozialhilfe Gesundheits- und Wohnkosten übernommen, um so das soziale Existenzminimum zu garantieren. Aktuell beträgt der Grundbedarf gemäss Skos-Richtlinien für eine Einzelperson 1006 Franken. «2003 erreichte er seinen Höchstwert von 1030 Franken», führt Keller aus. «In den letzten zwanzig Jahren ist die Sozialhilfe also nicht gestiegen, sondern leicht gesunken.»

Was Keller besonders alarmiert: Längst nicht alle Kantone halten sich überhaupt an die Skos-Richtlinien. 9 von 26 unterschreiten gemäss dem Monitoring der Sozialhilfekonferenz den geltenden Ansatz. Am tiefsten ist die ausbezahlte Summe im Kanton Bern. Die Richtlinie zum Grundbedarf hält zudem längst nicht mehr der Überprüfung in der Realität stand: Wie eine Studie des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) von 2018 zeigte, müsste er angesichts der durchschnittlichen Ausgaben eines Einzelhaushalts längst erhöht werden: um fast hundert Franken. Hinzu kommt, dass sich immer weniger Menschen überhaupt trauen, Sozialhilfe zu beziehen. Gemäss Bundesamt für Statistik und Skos sind die Fallzahlen seit 2019 rückläufig.

Corona verändert den Blick

«Die Stagnation der Sozialhilfeleistungen und das Unterschreiten der Richtwerte zeigen, dass der politische Druck von rechts durchaus Wirkung entfaltet hat», meint Keller. Die Vorstösse der SVP in den Kantonen mögen also gestoppt sein, doch sie haben zur Stigmatisierung von Armutsbetroffenen und zur Blockade in der Politik beigetragen. Dennoch ist Keller alles andere als pessimistisch: «Die Zukunft der Existenzsicherung liegt vielleicht ausserhalb der Sozialhilfe.»

Während der Coronapandemie sei nämlich rund um die Sozialhilfe einiges in Bewegung geraten. «Es herrschte ein eigentlicher Erfindungsreichtum. Plötzlich wurden Dinge möglich, von denen man vorher nur träumen konnte, notabene für Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus.» Keller erwähnt die wirtschaftliche Basishilfe, die in Zürich erprobt wurde, oder die Überbrückungsleistung «Ponte Covid» im Tessin. In so unterschiedlichen Kantonen wie Genf oder St. Gallen wurden finanzielle Unterstützungsprogramme für Armutsbetroffene lanciert. Hinzu kam die Einführung von kantonalen Mindestlöhnen in Genf oder Basel. Diese helfen gerade auch «working poor», die trotz Arbeit unterhalb der Armutsgrenze leben. Der Bund führte zudem Leistungen für ältere Arbeitslose ein.

«Da ist eine grössere Reformwelle in der Armutsbekämpfung in Gang gekommen. Die Solidarität scheint an Legitimität zu gewinnen», meint Keller. Über die Pandemie hinaus dürfe die soziale Absicherung aber keine Geste der Barmherzigkeit oder Wohltätigkeit bleiben. «Aus den provisorischen Programmen muss ein Rechtsanspruch werden.»

Dass während der Pandemie ein neues Bewusstsein für die Armutsproblematik entstanden ist, zeigt sich auch im Bundeshaus. Ein Gradmesser dafür ist die politische Initiative «Armut ist kein Verbrechen», gestartet von der Baselbieter SP-Nationalrätin Samira Marti. Sie zielt auf einen der heikelsten Punkte bei der Diskriminierung von Armutsbetroffenen: die Verknüpfung von Migrations- und Sozialhilferecht. Ausländer:innen können ihr Aufenthaltsrecht verlieren, wenn sie «dauerhaft und in erheblichem Mass» auf Sozialhilfe angewiesen sind. Marti will nun eine Schutzfrist von zehn Jahren einführen: Lebt eine Person länger hier, darf sie nicht mehr ausgewiesen werden (siehe «wobei» 6/21 ).

Was wie eine kleine Korrektur wirkt, kann für die Betroffenen eine existenzielle Wirkung entfalten. Untersuchungen zeigen, dass gerade das Damoklesschwert der Ausweisung viele Armutsbetroffene davon abhält, Sozialhilfe zu beantragen. Im Parlament gewinnt die Initiative immer mehr Unterstützung: Nachdem die Staatspolitische Kommission des Nationalrats zum zweiten Mal darüber beraten hat, ist die Zustimmung weiter gestiegen: 14 Mitglieder unterstützen sie, 10 lehnen sie noch ab. Neu stimmten auch alle Vertreter:innen der Mitte-Partei dafür. Marianne Binder-Keller, CVP-Nationalrätin aus dem Aargau, ist eine von ihnen: «Man sollte die Rechtsetzung grundsätzlich nicht von Einzelfällen abhängig machen. Doch die krassen Beispiele, die in der Kommission geschildert wurden, machten klar, dass hier ein Handlungsbedarf besteht.» Die Initiative kommt im September in den Rat.

Support wird es selbst aus der FDP geben. Die St. Galler Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher hat die Initiative «Armut ist kein Verbrechen» von Anfang an unterstützt. «Armut kann jeden treffen, der hier lebt, arbeitet und Steuern zahlt und plötzlich in eine Lebenskrise stürzt.» Die Sozialhilfe müsse deshalb menschenwürdig ausgestaltet werden. Dazu gehöre, dass auch Ausländer:innen nicht in Unsicherheit leben müssten. Als Anwältin, die auf das Eherecht spezialisiert ist, erlebt Vincenz immer wieder, dass sich Frauen ohne Schweizer Pass nicht trauen, ihre Männer zu verlassen: «Aus Angst, dass sie wegen der Sozialhilfe ausgewiesen werden.»

Kantone gegen Keller-Sutter

Dass sich die Stimmung ändert, zeigen auch die Reaktionen auf einen Vorschlag von Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP). Sie fordert, dass Drittstaatsangehörige in den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts in der Schweiz wie etwa vorläufig aufgenommene Personen nur einen reduzierten Satz der Sozialhilfe erhalten. Anfang Mai ging die Vernehmlassung zu Ende – und die Reaktionen fielen überdeutlich aus: Gemäss der Skos würde das Sparpotenzial der Vorlage gerade einmal drei Millionen Franken betragen. Angesichts der zu erwartenden administrativen Mehrkosten könnte das Resultat sogar ins Minus kippen.

Die Organisationen Demokratische Jurist:innen, Grundrechte.ch und Solidarité sans frontières halten fest, die Vorlage diskriminiere Frauen und Kinder und verstosse sowohl gegen die Bundesverfassung wie gegen das Völkerrecht. Zu denken geben wird Karin Keller-Sutter wohl besonders die Stellungnahme der Konferenz der kantonalen Sozialdirektor:innen (SODK): Ein Kurzgutachten kommt zum Schluss, dass der Bund «über das Ausländer- und Integrationsgesetz eindeutig in kantonale Hoheit eingreift». Ob Keller-Sutter nach diesen qualifizierten schlechten Rückmeldungen an der Vorlage festhalten möchte, wird sich weisen.

Die derzeitige Offenheit will auch der linke Thinktank Denknetz nutzen. Diesen Frühling ist das Buch «Für alle und für alle Fälle» erschienen, in dem das Denknetz eine allgemeine Erwerbsversicherung (AEV) skizziert. Sie soll alle denkbaren Erwerbsausfälle verbinden und absichern: von Arbeitslosigkeit über Krankheit bis hin zur Armut. «Eine solche Versicherung wäre auch historisch konsequent», sagt Sozialarbeitsprofessorin Véréna Keller. Für Lebensumstände wie das Alter, die Invalidität oder die Arbeitslosigkeit, die zur Armut führen können, wurden im 20. Jahrhundert statt der Fürsorge verschiedene Versicherungen geschaffen. Doch bis heute schafft die Armut Verunsicherung.