Lieber Bürgerin als Schweizerin

Ich fühle mich nicht als Schweizerin.

Das liegt nicht an mir, sondern an den Erfahrungen, die ich im Laufe meines Lebens gemacht habe, an den Äusserungen und Blicken, die mir entgegenfliegen, sobald ich durch meine Haustür trete.

Nach einer Portugalreise kamen meine Freundin und ich am Flughafen in Zürich an. Als wir in den Zug stiegen, sagte sie: «Es ist echt schön, wieder zu Hause zu sein!» – Ich: «Eigentlich schon, aber die anderen denken, wir seien Touristinnen.» Wir schauten uns um, und als uns misstrauische Blicke begegneten, mussten wir beide lachen. 

Ich habe noch nie gesagt, dass ich Schweizerin sei. Irgendwie fühlt es sich nicht richtig an. Schliesslich wurde mir schon als Neunjährige in der Primarschule von Loris gesagt, ich solle dorthin zurückgehen, wo ich herkomme. In der Schweiz ist es ziemlich normal, den Migrant:innen und ihren Kindern das Gefühl zu geben, dass sie nicht dazugehören. Und sie das tagtäglich spüren zu lassen: durch die schlecht bezahlten Jobs, die unsere Eltern gemacht haben, oder durch die Wohnblöcke, in denen wir lebten und die sich jenseits der schönen Eigentumsquartiere befanden, wo auch Loris mit seinen Eltern wohnte.

Ich gebe zu, ich war vorher nicht ganz so ehrlich. Manchmal sage ich schon, dass ich Schweizerin sei. Das kommt aber nur vor, wenn ich im Ausland bin. So geschehen an einer WG-Party in Berlin. Ich rauche meine Zigarette auf dem Balkon, als mich jemand anspricht: «Woher kommst du? Thailand? Philippinen?» «Ich bin Schweizerin», antworte ich. Sein aufgerissener Mund und seine leuchtenden Augen verraten mir: Durch diese drei magischen Wörter bin ich plötzlich zur reichen Oberschichtsfrau geworden. Wieso nicht, die Zuschreibung nehme ich für einmal gerne an. Das Label Schweiz funktioniert herrlich als Schutzschild.

In der Schweiz jedoch ist es anders. Eines Morgens steige ich in Olten in den Zug Richtung Bern. Wie jedes Mal begegnen mir wieder die misstrauischen Blicke. Ich weiss nie, ob die Leute einfach schlecht drauf sind, weil man in der Schweiz zu früh aufsteht, oder ob hinter den Blicken rassistische Motivation steckt. Vielleicht ist es auch beides. Als ich mich hingesetzt habe, sagt eine ältere Dame im nächsten Abteil zu ihrem Mann in voller Lautstärke: «Schau mal, die chinesische Botschafterin!» Hätte sie mindestens geflüstert, hätte ich es vielleicht ignoriert. Ich atme durch, stehe auf, drehe mich in ihre Richtung und schaue ihr direkt ins Gesicht: «Entschuldigung, aber ich bin Schweizer Bürgerin!» Fassungslos schaut sie weg und tut, als hätte sie nicht mich gemeint.

In der Schweiz sage ich, ich sei Schweizer Bürgerin. Auch das ist mein Schutzschild. Es gefällt mir besser als «Schweizerin», weil «Bürgerin» bedeutet, dass ich ein vollständiges Mitglied dieser Gesellschaft bin. Das heisst, ja, ich darf wählen, stimmen und mitbestimmen. Ich bin ein vollwertiger Mensch, und ich gehöre zu diesem Land. Mich kannst du nicht mehr ausschaffen. Ausserdem sollte man nie, wirklich nie, eine Tibeterin als Chinesin betiteln.

Die Kernfrage, die uns alle betrifft, ist, wieso Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, trotzdem keine Bürger:innen sind. Wieso werden Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, immer noch ausgeschlossen und somit der Unsicherheit ausgesetzt, abgeschoben zu werden in ein Land, das sie gar nicht kennen? Um das Schweizer Bürgerrecht zu erhalten, muss man sich willkürlichen, rassistischen und kostspieligen Verfahren aussetzen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Demokratie-Initiative, die ein neues und modernes Bürgerrecht fordert, unterstützen. Alles andere ist einer demokratischen Schweiz nicht würdig. Und dann werden vielleicht einmal unsere Kinder nicht nur im Ausland sagen, dass sie Schweizer:innen sind. Nicht einfach, weil es gut klingt, sondern weil sie es wirklich so empfinden. Und vor allem: Weil sie es wirklich auch sind. 

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.