175 Jahre Schweiz: Fremd im eigenen Land
Nächste Woche feiert eine der ältesten Demokratien der Welt Geburtstag. Vor 175 Jahren hat die Schweiz, umgeben von reaktionären Monarchien, eine moderne Verfassung erlassen. Kurz nach dem 12. September 1848 fanden die ersten Wahlen statt. Seither werden sie alle vier Jahre im Herbst routinemässig wiederholt. Dabei ist ihre Ausführung ein veritabler Skandal.
Bekanntlich geht es bei einer Wahl darum, dass die Bevölkerung durch Abgeordnete repräsentiert wird – damit diese auch über den Einsatz der Steuergelder befinden. Bloss ist in der Schweiz derzeit ein Viertel der Bevölkerung, rund zwei Millionen Menschen, von der Wahl ausgeschlossen, obwohl viele von ihnen hier geboren und aufgewachsen sind, fast alle Steuern bezahlen und die AHV mitfinanzieren. Sie verfügen nicht über das Schweizer Bürger:innenrecht. Wie konnte das passieren?
Schaut man sich die Verfassung von 1848 an, war das Bürgerrecht im europäischen Vergleich innovativ. Doch es bildete, um die Historikerin Regula Argast im Standardwerk «Das Schweizer Bürgerrecht» zu zitieren, eine «dünne politische Basis»: Die Frauen, die Juden, die Bedürftigen und die nicht sesshaften Bevölkerungsgruppen – die sogenannten Heimatlosen – blieben von der Mitbestimmung ausgeschlossen. Prägend war weiter, dass die Gemeinden für die Erteilung des Bürgerrechts zuständig waren. Sie übten sich dabei in Zurückhaltung, weil sie für ihre Bürger:innen auch die Armenfürsorge finanzieren mussten.
Im Bürger:innenrecht spiegelte sich also schon immer zweierlei: die Vorstellung einer egalitären Gesellschaft sowie der Ausschluss der ärmeren Bevölkerung. Im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert wurde diese Ausgrenzung ethnisch-nationalistisch aufgeladen. Die Behörden warnten nun – eine schweizerische Wortschöpfung – vor «Überfremdung»: Die Einbürgerung wurde nicht mehr als Schritt hin zur Teilhabe an der Gesellschaft verstanden, sondern als Prüfung der Assimilation an ein wie auch immer geartetes «Schweizersein». Wer es nie erreichen würde, wusste Heinrich Rothmund, Chef der 1917 gegründeten Fremdenpolizei: «Bei typischen Ostjuden wird stets die erste Generation von der Einbürgerung auszuschliessen sein.»
Die rechtspopulistische Hetze, erst von James Schwarzenbach, später von der SVP, trug die Angst vor «Überfremdung» und «Überbevölkerung» in die Gegenwart, bis hin zur aktuellen Diskussion über eine «Zehn-Millionen-Schweiz». Der Antisemitismus wurde zunehmend durch Muslimfeindlichkeit überlagert, siehe beispielsweise die verweigerten Einbürgerungen im sankt-gallischen Rheineck zu Beginn der nuller Jahre.
Im Gespräch mit jungen Eingebürgerten spürt man schnell, was für eine biografische Demütigung die Verfahren mit teils absurden Fragen für sie bedeuten. Der Prozess, der ihre Integration testen will, macht sie fremd im eigenen Land. Und noch heute zeigt sich beim Bürger:innenrecht ein Klassenkonflikt: Menschen ohne Schweizer Pass werden stärker in prekäre Jobs gedrängt und leben in ständiger Angst, bei Delikten oder wegen des Bezugs von Sozialhilfe ausgeschafft zu werden.
Ändern will das die Demokratie-Initiative: Wer fünf Jahre hier lebt, soll einen Anspruch auf Einbürgerung erhalten. Die Forderung ist auch in globaler Hinsicht zukunftsweisend. Angesichts der Klimaerhitzung wird es nicht weniger, sondern mehr Migration geben. Die Teilhabe vor Ort muss überall neu erfunden werden. Die Bürger:innenschaft kann dabei der Schlüssel für das «Recht auf Rechte» nach Hannah Arendt sein.
Trotzdem halten sich die linken Parteien und Gewerkschaften bei der Unterstützung der Demokratie-Initiative zurück: Der Wahlkampf und der nächste AHV-Showdown gehen wieder mal über alles. SP, Grüne und Gewerkschaften betonen sonst bei jeder Gelegenheit, dass sie die Migrant:innen vertreten. Wollen sie sich nicht dem Vorwurf des Paternalismus aussetzen, müssen sie ihre Bequemlichkeit ablegen. Das Jubiläum der Schweiz bietet den besten Anlass, die Initiative zu unterschreiben – und die Ausweitung des Bürger:innenrechts als elementaren politischen Kampf im 21. Jahrhundert zu verstehen.