«Charlie Hebdo»: Die Last des Weiterlebens
Nachdem am 7. Januar 2015 elf Menschen in den Redaktionsräumen der französischen Satirezeitung «Charlie Hebdo» von Attentätern im Namen von al-Kaida ermordet worden waren, fand das Bekenntnis «Je suis Charlie» global Verbreitung. Ein Bekenntnis über religiöse und ethnische Grenzen hinweg. Ein Bekenntnis zur Freiheit von Wort und Bild und ein Zeichen gegen Hass und Terror. Die weltweite Solidarität mit den Opfern und mit dem traditionsreichen, aber bis dato kaum über Frankreichs Grenzen bekannten Blatt war riesig.
«Charlie Hebdo», das war nur der Auftakt einer Serie von Anschlägen, es folgten der Überfall auf das Konzerthaus Bataclan und Pariser Strassencafés, die Todesfahrt auf der Promenade von Nizza und Dutzende kleinere Terrorakte. Mit «Charlie» begann eine neue Zeitrechnung, die Islamisten feierten «erfolgreiche» Jahre – die Redaktion machte weiter. Streng bewacht, in einem Elfenbeinturm, stetig darum ringend, was gesagt und gezeichnet werden soll. Gegen die Schere im Kopf und getreu der eigenen Linie, die eben gerade unter die Gürtellinie geht. An den Grenzen des schlechten Geschmacks kratzen, der frivole, provokante «Pipi-caca»-Humor, das war und ist das Markenzeichnen dieser Truppe von verrückt-anarchischen Künstler:innen, die «denen da oben» mit dem Zeichenstift in den Arsch treten. Doch nicht erst seit den Attentaten hat man sich auch den Kampf gegen Fundamentalist:innen auf die Fahnen geschrieben; und fragt man muslimische Französ:innen, so fühlen sie sich nicht selten in Sippenhaft genommen, weil in ihren Augen die Grenzen zwischen Islamismus und Islam bei «Charlie Hebdo» verschwimmen.
Das radikal laizistische Blatt, das für die Trennung zwischen Kirche und Staat kämpft, steht heute für eine politische Strömung, die «gauche républicaine», die von Politiker:innen wie Manuel Valls oder der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo vertreten wird. Es geht um das Kopftuch, den Burkini und die Frage, wie viel ihrer (religiösen) Identität muslimische Mitbürger:innen in Frankreich zeigen dürfen. Links von sich wittert diese Linke den sogenannten Islamo-Gauchisme, also übermässige Sympathien für dem Islam. Als Hauptfeind ausgemacht wird dabei Jean-Luc Mélenchon mit seiner Partei La France insoumise (LFI). Seit dem 7. Oktober 2023 ist in der Linken der Krieg in Nahost zum heftig umstrittenen Thema geworden. Der Vorwurf gegen LFI lautet Antisemitismus und Terrorverherrlichung. «Charlie» zeigt regelmässig Mélenchon als rechten Arm der Hamas. Jenen Mélenchon, der ein Freund des vor zehn Jahren ermordeten «Charlie»-Chefs Charb war.
Charlie sein ist komplizierter geworden. Ein Symbol der Meinungsfreiheit sein heisst nicht, dass die eigene Meinung immer die richtige ist. Genauso wenig bedeutet es, dass die Karikaturen von «Charlie» immer gelungen, immer lustig und immer angebracht sind.
Auf der Titelseite zur aktuellen Sonderausgabe sitzt ein Mann auf einem Gewehrlauf und liest «Charlie». «Nicht tot zu kriegen», lautet die Überschrift, und das wiederum ist die Ironie des Grauens: Ohne den Anschlag wäre das Blatt, das 2015 fast pleite war, womöglich verschwunden. Heute trägt es die Last, weiterzuleben. Für das Erbe der Toten und für die Freiheit. Auch wenn diese Last für die Überlebenden manchmal kaum auszuhalten ist – so wie der «Charlie»-Humor für uns Leser:innen.
Romy Strassenburg war Chefredaktorin der deutschen Ausgabe von «Charlie Hebdo», die von 2016 bis 2017 erschien.