Erbengesellschaft? Nein, Danke!

Das Credo liberaler Demokratien: Jeder ist seines Glückes Schmied. Doch ein Blick auf zwei Zahlen verrät, dass dieser meritokratische Glaubenssatz nichts weiter als ein Märchen ist.

Die erste wichtige Zahl bemisst die sogenannte «soziale Mobilität». In einer breit angelegten Studie hat die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) untersucht, wie viele Generationen ein Kind aus armen Verhältnissen braucht, um sich aus der Armut zu einem durchschnittlichen Einkommen hochzuarbeiten. Während es in den skandinavischen Ländern zwei bis drei Generationen sind, brauchen armutsbetroffene Kinder in der DACH-Region statistisch gesehen ganze fünf bis sechs Generationen – also 150 bis 180 Jahre. Wer im DACH-Raum arm geboren wird, bleibt arm. Wer mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, wird fortan mit diesem speisen.

Die zweite Zahl von Interesse zeigt, welchen Anteil Erbschaften und Schenkungen am Gesamtvermögen haben. Zum Verständnis ist wichtig: Vermögen besteht aus zwei Teilen. Dem, was wir selbst im Laufe unseres Lebens aufbauen, und dem, was wir durch Erbschaften und Schenkungen erhalten.Wäre allein die eigene Leistung entscheidend, könnten wir von einer echten Leistungsgesellschaft sprechen. Zwar hat es Dank des Triumphs der Demokratien im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine Talfahrt der Erbschaften gegeben. Doch seit der Neoliberalismus Einzug gehalten hat, ist der Anteil wieder kräftig gestiegen – von zwanzig bis dreissig auf über fünfzig Prozent. Heute liegt er wieder auf dem Niveau von vor einhundert Jahren.

Willkommen zurück in der Erbengesellschaft, in der – wie einst zu Zeiten von Königen und Adel – vor allem zählt, in welche Familie man geboren wird. Wie es so weit kommen konnte? Weil wir im wahrsten Sinne des Wortes nicht gegensteuern. Während Arbeitseinkommen mit hohen und progressiven Steuern belegt werden, sind die Steuern auf das «unverdiente Einkommen» – wie der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill Erbschaften bereits 1848 bezeichnete – zu reinen Bagatellsteuern verkommen: In Österreich ist sie seit 2008 ausgesetzt, in Deutschland und der Schweiz trägt sie etwa ein Prozent zum Steueraufkommen bei.

Oder anders ausgedrückt: Eine Person, die ein grosses Vermögen erbt, kann sich zurücklehnen und zusehen, wie ihr Reichtum durch Investitionen wächst. Die Durchschnittsbürgerin hingegen ist auf ihr Arbeitseinkommen angewiesen – hoch besteuert und ohne vergleichbare Wachstumschancen.

Doch es gibt gute Nachrichten: Steuern sind keine Naturgesetze. Wir können sie gestalten, und das sollten wir auch tun. Damit die Zukunft nicht vererbt, sondern gerecht wird.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text von Martyna Berenika Linartas. Linartas forscht zu Vermögensverteilung und Umverteilung. Dazu lehrt sie in Berlin und in Koblenz. 2022 hat sie die Wissensplattform ungleichheit.info mitgegründet. Im Frühjahr 2025 erscheint ihr Buch «Unverdiente Ungleichheit. Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann».