Thomas Meinecke: Science als Fiction

Seit seinen ersten Veröffentlichungen Ende der achtziger Jahre ist der Schriftsteller mit den affirmativen Strategien des Pop vertraut. Trotzdem passt das Etikett «Popliteratur» auch nicht auf seinen neuen Roman «Musik».

Pop bedeutet bei Thomas Meinecke ein Panoptikum des Vieldeutigen, das einhergeht mit einem an allen relevanten wissenschaftlichen und politischen Diskursen geschärften Blick hinaus in die Welt. Was er sieht und hört, gibt Meinecke als Handlungssplitter in einem forschen Sprachrhythmus wieder, der erfrischend gegen jede Art von einschläferndem kulturpessimistischem Dünkel wirkt. «Man hat es einmal von Andy Warhol gelernt und will diese Sehschärfe nicht wieder einbüssen, nur um an die so genannten grossen Menschheitsthemen vorzudringen», sagt Meinecke im Interview mit der WOZ. Die «Musik» in seinem neuen, gleichnamigen Roman spielt unter anderem auch auf dem Dancefloor einer Diskothek, wo die beiden um die dreissig Jahre alten ProtagonistInnen über die komplizierten Wechselwirkungen von sozialer Konstruiertheit der Sexualität, biologischem Geschlecht und Begehren nachdenken – gerade auch während sie ihre Körper zu den Klängen von Discomusik in «milchigem Licht» gemeinsam zum Schwingen bringen.

«Von meiner eigenen Generation bin ich langsam abgekoppelt», erklärt der im oberbayerischen Eurasburg ansässige Meinecke. Als Musiker bei der Münchner Band FSK aktiv, arbeitet er seit langem auch als Radio-DJ für den Bayerischen Rundfunk und gilt als ausgewiesener Kenner verschiedener Genres von Jazz bis House. Meinecke ist Teil der westdeutschen Achtziger-Jahre-Generation. Sie ist weit entfernt von den Entbehrungen im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen und reibungslos in Institutionen vorgedrungen, bevor die ökonomischen Verteilungskämpfe nach der Wiedervereinigung an Schärfe gewonnen hatten. «Es gibt wenige positive Beispiele für meine Generation. Ich wüsste auch nicht, was ich diese Gleichaltrigen reden lassen sollte, wenn ich über sie schriebe. Schlimmstenfalls sind sie inzwischen an der Macht, das ist eine einzige grosse Enttäuschung. Die Selbstgefälligkeit meiner Generation ist traurig. Vielleicht muss ich da irgendwann einmal schriftstellerisch darauf eingehen, wenn ich senil geworden bin.»

Im Moment besinnt sich Meinecke eher auf Themen, die den dissidenten Diskurs beherrschen, wie er von Leuten betrieben wird, die meist jünger sind als er. In «Musik» geht es ihm darum, Heterosexualität, «eigentlich meine Heterosexualität», so der Autor, in die Defensive zu bringen. War es bei dem Vorvorgänger, dem Roman «Tomboy», bereits einmal der Topos Gender, den er damals aus der Sicht von Heidelberger Studentinnen verhandelte, gelang ihm mit der nachfolgenden Erzählung «Hellblau» die Darstellung der komplizierten Wege, die die jüdische und afroamerikanische kulturelle Diaspora beschreitet. Was er aus Feldern wie der Gendertheorie oder der Migrationsforschung fiktional nachbeschreibt, so Meinecke, sei immer eine Projektion: ‘Musik‘ ist mein Faghag-Buch, meine Hommage an die schwule (Sub-)Kultur.» Eine Kultur, die sich auch über die Randbezirke des Pop längst in die Mitte der westeuropäischen Gesellschaft vorgearbeitet hat.

Meinecke bringt in seinem Roman die Begeisterung des Flugbegleiters Karol für schwule Traditionen in der Popmusik mit dem Interesse seiner Schwester – der Schriftstellerin Kandis – an weiblichen Strategien des Schreibens zusammen. Zitat: «Auf dem Weg zur S-Bahn vergegenwärtige ich mir Aprils gestrige Ausführungen über die Ähnlichkeiten einer durch homosexuelle Sozialisation sensibilisierten Wahrnehmung mit den Errungenschaften postmoderner Theorie. Beide hätten eine Lücke zwischen Hochkultur und populärer Kultur geschlossen.» Meinecke geht es in dieser Passage nicht um die Wiedereinsetzung eines autonomen männlichen Subjekts, es geht ihm auch nicht um psychologisierende Innerlichkeiten. «Es gibt bei mir eine experimentelle Versuchsanordnung, bei der man Reibung spürt.» Diesmal ist der 25. August der formalistische Schnitt. Es ist Meineckes Geburtstag, und wie es der Zufall will, sind an diesem Tag auch eine Reihe von Prominenten, Personen aus der Geschichte, Popstars und Intellektuelle geboren oder verstorben, die wiederum von Kandis, Karol und ihren Freunden durch all ihre Irrungen und Wirrungen abgeklopft und untersucht werden.

Seitenweise bringen die Protagonisten Anekdoten aus der Welt des Pop mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Geschlechterdiskurs zusammen. Meinecke behält in der Schilderung wie stets erzählerische Distanz: «Anführungsstriche gibt es bei mir nicht, dafür ist zu viel Uneigentliches von mir drin. Leser sollen sich bei meinen Büchern ständig dessen bewusst sein, dass sie lesen.» Die Unterscheidung zwischen Hoch- und Subkultur hat Meinecke aufgehoben. Die schwulen Wurzeln von Housemusic und die Emanzipation weiblicher R&B-Stars wie Tweet und Aalyiah vom Schmuddelimage afroamerikanischer Popstars werden auf der gleichen Ebene behandelt wie die (Staats-)Affäre des bayerischen Königs Ludwig I. mit der Tänzerin Lola Montez. Meinecke hat Verblüffendes über die Geschlechterfrag in der Schwabinger Bohème der letzten Jahrhundertwende zutage gefördert: Er schildert den Kampf von Frauenrechtlerinnen um Aufnahme in die Universität. Die Schicksale einiger Displaced Persons in den Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg. Er schreibt über die Einzigartigkeit weiblicher Bigbands in den Dreissigern.

Die Idee zu dieser im wörtlichen Sinne «Science Fiction» sei ihm bei der Lektüre von Gustave Flauberts Roman «Bouvard und Pécuchet» bestätigt worden, so Meinecke. Es ist ein Spätwerk Flauberts, bei dem sich zwei ältere Grantler durch alle Sparten des menschlichen Wissens lesen. «Ich lese, während ich schreibe. Gelten lasse ich dabei nur die Lektüre, die direkt Input bietet, aber auch Filme, die ich schaue, und Platten, die ich höre.» Pop sei kompliziert kodiert, findet Thomas Meinecke. Genau wie bei «Bouvard und Pécuchet», wo hinter den Äusserungen der Protagonisten Gustave Flauberts eigene Lektüreerfahrungen anklingen, sind es immer auch Meineckes poetologische Überlegungen, die in «Musik» aufscheinen. Er sei beim Schreiben des Romans sogar ziemlich nahe an persönliche Erfahrungen gekommen, auch in der Beschreibung einer nichtstereotypen Kindheit eines Jungen.

Insgesamt ist «Musik» ein so eckiges wie unterhaltsames Buch geworden. Spätestens jetzt aber hat Meinecke seinen Stil gefunden: Eine Art Transkription von heillosem Durcheinanderreden über Diskurse. «Mit dieser Heillosigkeit flirte ich auch», bekennt der Autor und schiebt hinterher, der Kunstgriff sei, hie und da damit aufzuhören. «Man reizt elektrische Spannung, bis die Birne flackert, dreht dann aber lieber zurück, weil man sonst vollständig im Dunkeln sitzt.»

Thomas Meinecke: Musik. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2004. 371 Seiten. Fr. 35.80